EINLEITUNG
Ein weites Herz
Wildschwein, sagt er. Das sei sein Lieblingstier. Kein Schäfchen oder Esel, wie man bei einem bibelfesten Pfarrer vielleicht vermuten könnte. Wildschwein, sagt Jörg Zink. Damals, kurz vor seinem 80. Geburtstag, habe ich ihn danach gefragt. Wildschwein – das sei doch eigentlich kein ausgesprochen passendes Lieblingstier für einen Pfarrer. Und wie immer, wenn er ein Bild für sich in Anspruch nimmt, kann er es mit eigener Erfahrung füllen: Jörg Zink hat unglaublich viele Erfahrungen in seinem langen Leben gemacht, und er hat sie sich bewusst gemacht. Seine Erfahrung mit Wildschweinen erzählt er mir folgendermaßen: »Ich habe beim Zelten als junger Mensch gelegentlich aus Versehen auf einem Wildschweinpfad geschlafen, und ich habe erlebt, wie die Wildschweine mein Zelt beinah umgerissen haben. Und da habe ich eine große Sympathie für diese Tiere gefasst, die da durchs Unterholz preschen, immer die Nase am Boden.«
Jörg Zinks Arbeitszimmer in Möhringen bei Stuttgart liegt selbst unten, im Souterrain, erdverbunden. Mit Büchern ausgetäfelt. Mehrere Schreibtische, um die Arbeit möglichst effektiv und gründlich erledigen zu können: Einen für die täglich zu erledigende Arbeit, für Koordination und Organisation, einen für dasjenige Projekt, das als Nächstes fertiggestellt werden muss, und einen für die Entwicklung neuer Ideen. Sein persönliches Unterholz. Wie gemacht für einen, der Wildschweine mag.
So sollen doch Pfarrer sein, so sollen doch Menschen sein, die dieser »schmalen Gestalt« des Mannes aus Nazareth folgen, Menschen, die sich von Gott geliebt und damit in diese Welt geschickt wissen, sagt Jörg Zink, und wieder bin ich fasziniert von der Treffsicherheit, Klarheit und dem Unkonventionellen dieses Mannes mit den weißen Haaren und den buschigen Augenbrauen: »Ich stelle mir einen Pfarrer so vor, dass er nicht irgendwo herumfliegt, sondern mit der Nase am Boden wie ein Wildschwein durch das Unterholz trabt, dort wo die Menschen sind. Und dass er sich im Unterholz nicht von einer großen Organisation leiten lässt, sondern wie ein solches Wildschwein seinen eigenen Weg suchen muss und ihn dann auch konsequent geht.« Einen Weg zum Leben. Einen Weg zu dem, den wir Gott nennen. Einen spirituellen Weg für Fußgänger, nicht für Überflieger, nicht für Meister. Einen Weg für dich und mich.
Nach und nach fällt mir es erst auf, hier im Souterrain, in Jörg Zinks Denkgehölz, wie selbstverständlich präsent er war in der Kirchengemeinde, in der ich aufgewachsen bin, in meiner Familie, in meinem eigenen Glaubensleben – mir, dem 50 Jahre Jüngeren. Kleine Zink-Bücher in allen Farben am Bücherstand, zigmal verschenkt an Weihnachten, manchmal halbspöttisch mit dem Etikett »kitschig« und »was Frommes« versehen. Meine Eltern, die das »Wort zum Sonntag« im Fernsehen nicht verpassen wollten, damals, als es um die Pershing II und den Nato-Doppelbeschluss und irgendwie auch um Leben und Tod ging. Ein Schwarz-Weiß-Film über das Abendmahl, den wir im Konfirmanden-Unterricht von einem surrenden Projektor aus an die Wand geworfen bekommen haben und in dem ein noch längst nicht weißhaariger Pfarrer mit schwäbischem Akzent uns 13-Jährige anhand von Michelangelos Abendmahlsdarstellung in die biblische Welt hineingenommen hat. Eine Schallplatte, die läuft, während wir die Beerdigung eines Freundes vorbereiten, und auf der der Liedermacher Siegfried Fietz den aaronitischen Segen vertont hat, den Jörg Zink neu interpretiert hat. »Die letzten sieben Tage der Erde«, ein tief aufrüttelnder Text über die Selbstabschaffung des Menschen aus meinem Religionsbuch, Autor wieder Jörg Zink, den ich mir schon als Kind immer wieder vorgetragen habe, sozusagen als persönlichen Klagepsalm. Später dann einige Gespräche auf Kirchentagen, Interviews, die ich für den Hörfunk aufgenommen habe. Was mögen andere mit ihm verbinden? Ich höre, dass viele Jörg Zink auf ihre Weise kennengelernt haben und ihre ganz persönlichen Geschichten mit ihm assoziieren. Und ich höre, dass er vielen Mut gemacht hat.
Über einen zu schreiben, der selbst mit klarer, treffsicherer und poetischer Sprache sehr viel Autobiographisches zu Papier gebracht hat, mag vielleicht überflüssig erscheinen. Aber gerade weil die Zahl der Bücher in seinem langen Leben beinah ins Unüberschaubare gewachsen ist, könnte doch, so unsere Hoffnung, ein weiteres Buch, dieses nämlich, Türöffner sein. Türöffner zum Weiterlesen in eine weite Gedankenwelt. Eine der weitesten, denen ich im Raum der Theologien der Gegenwart begegnet bin. Jörg Zink hat, auch nachdem er sich von seinen öffentlichen Auftritten zurückgezogen hat, sehr viel zu sagen, für Menschen, die auf der Suche sind nach einem glaubwürdigen Christentum, nach eigenen, begehbaren Wegen zeitgemäßer Spiritualität, nach einer zukunftsfähigen Kirche, nach einem Dialog der Religionen, nach Auswegen aus einer globalen Krise der Zerstörung der Welt, nach neuen Bildern von Religion, Christentum, Kirche, Gott, Jesus, Geist.
Jörg Zink in seinem Arbeitszimmer Mitte der 1970er Jahre.
Jörg Zink in seinem Arbeitszimmer 2012.
Drei Kreise wird dieses Buch ziehen, um im Spiegel einer aufregenden Lebensgeschichte nicht weniger aufregende Gedanken über Gott und die Welt zusammenzustellen. Erstens: Die Erfahrungen der Kindheit und Jugend Jörg Zinks führen direkt zu den Büchern des Alters, die sich unter dem Stichwort »Mystik« um ein großes Thema herum versammeln: Wie kann Gott als ein lebendiger, erfahrbarer, naher, heutiger Gott beschrieben werden? Denn die alten Bilder von Gott sind zu klein geworden. Zweitens: Die Erfahrungen und Begegnungen des Krieges lassen Jörg Zink auf eine sehr neue, direkte Art nach Jesus fragen, nach dem Urbild für ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit. Jörg Zinks Mystik ist eine politische, und sein Leben ein sehr politisches. Drittens: Die vielfältigen Arbeitsfelder als Pfarrer, die Konsequenzen aus beiderlei Denken, dem mystischen und dem politischen, haben Jörg Zink immer in die Öffentlichkeit geführt, als Medienpfarrer genauso wie als Bibelausleger auf dem Kirchentag. Ein dritter Kreis widmet sich daher seinem öffentlichen Wirken und einem sehr praktischen theologischen Denken und führt zu der Frage, wie denn heutiges Reflektieren über Religion mit dem modernen Weltbild wieder zusammengedacht werden kann. Anders gesagt: Der erste Teil umkreist neue Bilder von Gott, der zweite Teil das Zentrum der Verkündigung Jesu, der dritte den Geist, den das dritte christliche Jahrtausend braucht.
Jörg Zink hat auf seine Weise und mit den unterschiedlichen Medien, die er sich zu eigen gemacht hat, unzählige Menschen geprägt und er hat damit auch ein Stück protestantischer Kirchen- und Theologiegeschichte geschrieben. Nicht als Lehrstuhlinhaber. Nicht als Bischof in Amt und Würden. Sondern als einer, der sich in aller Freiheit über Gott und die Welt Gedanken macht, in der Freiheit, die viele in den Amtskirchen vermissen. Als einer, der selbst ein Suchender geblieben ist. Der weiß, dass es auch gar nicht anders sein kann.
Natürlich war er dadurch seiner Kirche oft unbequem. Er hat sich eben bei den vielen unterschiedlichen Tätigkeiten und durch seine vielen theologischen Gedanken weniger von ihr, sondern vielmehr von ihrem Gründer leiten lassen, von Jesus. Und von seinen eigenen Erfahrungen und seiner eigenen Vernunft. Davon ausgehend hat er seinen Weg gesucht. Er hat dabei ausgesprochen, was viele und zunehmend mehr Menschen denken, was aber in »der Kirche« in »der Theologie« nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand zu hören ist: Warum soll man denn mit der Bergpredigt nicht die Welt gestalten können? Mit welcher Chuzpe setzt man sich denn in den Kirchen über die Weisungen hinweg, die Jesus den Menschen mitgegeben hat? Warum soll man denn, wenn Gott ein Gott aller Menschen ist, annehmen, er sei nur den Christenmenschen nahe – und den anderen Religionen die Wahrheit absprechen? Warum soll man denn, wenn Gott ein lebendiger Gott ist, annehmen, er habe nur damals zu biblischen Zeiten zu den Menschen gesprochen – und sei nun verstummt? Was ist denn mit der eigenen religiösen Erfahrung? Und warum sollten die verfassten Kirchen, die spät, sehr spät entdeckt haben, dass die Aufgaben des 21. Jahrhunderts Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung lauten, warum sollten sie meinen, sie seien mit dem Programm weltweit glaubwürdig? Stand das christliche Abendland, standen Kirchen unterschiedlicher Konfessionen nicht jahrhundertelang für das Gegenteil: für Krieg, Ausbeutung und Zerstörung der Welt?
Zum Wildschwein kommt noch ein zweites Lieblingstier Jörg Zinks – die Wildgans. Und beide zusammengenommen sind wunderbare Bilder für zwei sich inspirierende Seiten eines außergewöhnlichen Mannes. Das Wildschwein, so könnte man sagen, steht für eine erdverbundene Arbeit im mehrfachen Sinn: für ein radikales Eintreten für unsere Erde; für eine Ethik, die nichts vorgibt außer dies: vom hohen Ross herabzusteigen, um unten, am Boden, zum Mit-Menschen zu werden; für die Kraft von unten, aus dem Unterholz, die notwendig ist, um die Welt zu verändern. Und die Wildgans zeigt den weiten Freiheitsraum seines Denkens; den Raum der religiösen Erfahrungen; die Grenzüberschreitung in jede Richtung, die er gewagt hat und durch die er für manche – eben auch für manche Theologen – zum Ärgernis geworden ist.
Grenzüberschreitend waren auch Jörg Zinks Arbeitsfelder. Seine Kanzeln waren die Kirchentage, war das Fernsehen, waren Filme, die er gemacht hat,...