Motetten
Die sechs berühmten Motetten von J. S. Bach (BWV 225–230) sind alle in seiner Amtszeit als Thomaskantor in Leipzig (also ab 1723) entstanden; fünf von ihnen – und dazu die im BWV nicht unter den Motetten geführte Nr. 118 – sind Begräbnismotetten und somit aus aktuellem Anlaß komponiert worden. In der langen, im 13. Jahrhundert einsetzenden Gattungstradition markieren sie einen der Höhepunkte und stellen bis heute im Repertoire der Chöre eine musikalische und geistige Herausforderung ersten Ranges dar. Die künstlerische Ausformung der Motette, der mehrstimmigen Gesangskomposition auf geistliche, selten weltliche Texte, hat sich im Lauf der Jahrhunderte mehrfach grundlegend gewandelt. Bachs Motettentypus ist hierbei eine Spätform: Er folgt dem mehrsätzigen Modell mit kontrapunktisch angelegten und sich in Struktur und Aussage voneinander abhebenden Abschnitten, das seinerseits seine Wurzeln in den großen Festmotetten und Geistlichen Konzerten der Venezianischen Schule (Giovanni Gabrieli, 1587–1612) hat. Für Bach war wohl auch das Mitgehen von Instrumenten mit den Singstimmen (colla parte) noch selbstverständlich. – Charakteristisch für diesen weitergeführten deutschen Kantatentypus ist darüber hinaus die abschnittweise textliche Gliederung in Bibelworte und Choralverse, also der aufeinander bezogene Wechsel von Verkündigung und Auslegung. Vorbilder könnte Bach bei Johann Hermann Schein (1586–1630) und Heinrich Schütz (1585–1672) gefunden haben; in seiner phantasievollen und kompositorisch ungemein kunstvollen und vielseitigen Ausführung aber ließ er alle etwaigen Modelle weit hinter sich.
Vier der Motetten sind achtstimmig (aufgeteilt auf je zwei vier- bis fünfstimmige gemischte Chöre), zwei sind vierstimmig gemischt angelegt. Allen sechs Motetten gemeinsam ist ihre bisweilen virtuose Stimmführung, in deren Koloraturlinien immer wieder die Grenzen vom Vokalen zum Instrumentalen aufgebrochen und überschritten werden.
Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 225)
Motette für zwei vierstimmige Chöre, B-Dur
Entstanden nach 1726, möglicherweise zu Neujahr 1727. – Text: Ps. 149, 1–3; Ps. 150,2 und 6; 3. Strophe des Chorals »Nun lob, mein Seel, den Herren« von Johann Gramann, 1540.
Obwohl nicht zu einem Begräbnis geschrieben, gehört dieses Meisterwerk dennoch dem mehrgliedrigen Typus der Begräbnismotette an. Vier Teile von recht unterschiedlichen Dimensionen und Aussagen reihen sich aneinander: Schlüsselwort des eröffnenden, prächtig ausholenden Satzes für Doppelchor (B-Dur, ¾) ist der fast leitmotivisch wiederkehrende Ruf »Singet«, der sich zu Beginn den Figurationen des jeweils anderen Chores entgegenstellt, ein Jubelgesang im dicht verzahnten, manchmal taktweisen Wechsel beider Chöre. Nach großflächigerem Alternieren der Chöre (»Die Gemeine der Heiligen«) verdichtet sich der Satz wieder zur Achtstimmigkeit (»Israel freue sich«) und mündet in eine sich gelassen aufschichtende Fuge, kontrapunktiert vom »Singet« des Coro II und endend in fünftaktiger blockhafter Imitation beider Chöre (»Mit Harfen und Pauken sollen sie ihm spielen«).
Die folgende, im wohlbedachten Kontrast nun eher nach innen gekehrte »Aria« (B-Dur, 4/4) verknüpft die abschnittweise vorgetragene Choralstrophe (»Wie sich ein Vat’r erbarmet«, Coro II) mit der bewegteren Deklamation eines freien Textes (»Gott, nimm dich ferner unser an«, Verfasser unbekannt). Beinahe tänzerisch und ausgelassen mutet danach das großflächige und zugleich koloraturhaft feingliedrige Wechselspiel beider Chöre an (»Lobet den Herrn«); fast wie eine Stretta folgt die krönende Schlußfuge im lebhaften ⅜-Takt und mit einem virtuosen Koloraturthema, aufsteigend vom Baß aus:
Der Geist hilft unser Schwachheit auf (BWV 226)
Motette für zwei vierstimmige Chöre, B-Dur
Entstanden 1729 »by Beerdigung des Seel. H. Prof. und Rectoris Ernesti«, des Leiters der Thomasschule, am 20. Oktober 1729. – Text: Rom. 8,26 und 27; Strophe 3 des Chorals »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« von Martin Luther, 1524.
Hier runden sich drei Abschnitte zum Ganzen, der erste Teil (Stollen A) ist in dreiteiliger Barform gehalten: Im Abstand von zwei Takten imitieren die beiden Chöre einander zu Beginn mit charakteristischer Sechzehntelfiguration (»Der Geist hilft...«, ⅜), worauf im wiegenden Achtelschritt Beruhigung eintritt (»denn wir wissen nicht«), im ständigen dichten Alternieren beider Chöre. Es folgt eine variierte Wiederholung (Stollen A'), die unmittelbar in den fugierten Abgesang mündet (»sondern der Geist selbst«), nun im 4/4-Takt.
Der zweite Abschnitt ist eine monumental-strenge Doppelfuge über zwei Themen, die regelgerecht zunächst nacheinander exponiert und danach (Takt 198) miteinander gekoppelt werden:
Das ebenfalls monumentale erste Thema setzt jeweils paarweise in Engführung ein (Baß/Tenor, Alt/Sopran); und das zweite Thema wird sogleich mit seinem festen Kontrapunkt verknüpft. Hier wie im abschließenden Choralsatz werden beide Chöre zum vierstimmigen Satz zusammengefaßt. – Diese Motette ist die einzige, zu der die von Bach vorgesehene Besetzung der Colla-parte-Instrumentalstimmen überliefert ist: Coro I: Viol. 1, 2, Viola, Vcl.; Coro II: Ob. 1, 2, Taille, Fag., Continuo und Kontrabaß.
Jesu, meine Freude (BWV 227)
Motette für vier- bis fünfstimmigen Chor, e-Moll
Entstanden 1723, wahrscheinlich zur Beerdigung einer »verwittibten Ober-Post-Meisterin« am 18. Juli 1723. – Text: Röm. 8,1.2.9.10.11; alle 6 Strophen des Chorals »Jesu, meine Freude« von Johann Franck, 1653.
Dies ist die vielgestaltigste und zugleich ausdrucksstärkste der sechs Motetten. Auffällig ist ihr durchdachter, weitgehend symmetrischer Aufbau (insgesamt elf Sätze). Im Mittelpunkt (als 6. Satz) steht die auch textlich – im Sinne des Trauergottesdienstes – zentrale Aussage der ausgedehnten und auch technisch den Chor fordernden Fuge (»Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistig«, G-Dur, fünfstimmig):
Um diese Achse herum gruppieren sich die je drei variierten Choralstrophen im Wechsel mit je zwei freien Chorsätzen unterschiedlichsten Charakters: Die Choralstrophen 1 und 6 (erster und letzter Satz) sind musikalisch identisch; Strophe 2 (»Unter deinen Schirmen«) läßt den Cantus firmus im Sopran, erweitert die Stimmenzahl auf fünf und belebt vor allem die drei tieferen Stimmen.
Strophe 3 (»Trotz dem alten Drachen«, e-Moll, ¾) verarbeitet die Textworte in einer freien, hochexpressiv die Aussagen vertonenden Choralfantasie. Mit zwei »Trotz«-Aufschreien, gegen den Dreiertakt gesetzt und mit einem harmonischen Umweg über die Zwischendominante der Subdominante beginnend, folgt die Musik exakt den Bildern des Choralverses: mit dynamischen Kontrasten auf engstem Raum (»trotz der Furcht«), in tobender Koloratur (»Tobe, Welt«) und auf einmal (»in gar sichrer Ruh«) ganz zurückgenommen; zärtlich wiegend in weichen Terzenparallelen (» Gottes Macht hält mich in Acht«) und mit jähem Sprung in den »Abgrund«, mit plötzlichem Pianoeffekt und überraschenden Pausen (»muß verstummen«) bis zum kompakten Abschluß in fünfstimmiger enger Verzahnung (»ob sie noch so brummen«) – ein Kompendium vokaler Programmusik auf engstem Raum! Die programmatisch-textausdeutenden Momente erschließen sich auch dem heutigen Hörer unweglos, ohne daß man im einzelnen die zahllosen Bezüge zur musikalisch-rhetorischen Figurenlehre jener Zeit herauslösen müßte.
Strophe 4 hält sich wieder an den Cantus firmus (Sopran) und belebt die drei übrigen Stimmen merklich Zeile um Zeile mit großer Prägnanz der Motivik. Strophe 5 (»Gute Nacht, o Wesen«, C-Dur, 2/4) verläuft in der Art einer großen, strengen Choralbearbeitung: Der Cantus firmus erklingt zeilenweise abgesetzt im Alt, während die drei übrigen Stimmen – Sopran 1 und 2 sowie der Tenor, also ohne Baß! – dezent die Textaussagen kommentieren. Quasi leitmotivisch wirkt hier die häufige Wiederkehr der Terzen- und Sextenparallelen des »Gute Nacht«
mit zartem Echoeffekt des Stimmentausches im 3. Takt.
Von den freien Sätzen verarbeiten Nr. 2 und 10 das gleiche musikalische Material (jeweils fünfstimmig, e-Moll, 3/2): der erste (»Es ist nun nichts«) ausgedehnter und mit Fugato-Ansätzen, der zweite (»So nun der Geist«) kompakter und wie ein Konzentrat und zugleich eine Reminiszenz an den 2. Satz. Den stärksten Gegensatz zu den großen klangmächtigen Sätzen bilden die beiden dreistimmigen Sätze 4 und 8, die jeweils als vokale...