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Joseph Anton

Autobiografie - Friedenspreis für Salman Rushdie 2023

AutorSalman Rushdie
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl720 Seiten
ISBN9783641076054
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
'Gerade jetzt muss man Salman Rushdies Autobiografie lesen. Sie lehrt, dass man den Mob widerstehen muss.' Welt am Sonntag
Was bedeutet es für einen Schriftsteller, über neun Jahre lang mit einer Morddrohung zu leben? Wie fest hat die Verzweiflung sein Denken und Handeln im Griff? Zum ersten Mal erzählt Salman Rushdie seine beeindruckende Geschichte; es ist die Geschichte eines Kampfes: dem Kampf um die Meinungsfreiheit. Rushdie erzählt vom teils bitteren, teils komischen Leben unter bewaffnetem Polizeischutz; von den engen Beziehungen, die er zu seinen Beschützern knüpfte; von seinem Ringen um Unterstützung und Verständnis bei Regierungen, Verlegern und Schriftstellerkollegen; und davon, wie er seine Freiheit wiedererlangte.

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

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Leseprobe

HINTERHER, ALS DIE WELT um ihn herum explodierte und die todbringenden Krähen sich im Schulhof auf dem Klettergerüst versammelten, wurmte es ihn, dass er den Namen der BBC-Reporterin vergessen hatte, die ihm sagte, sein altes Leben sei vorbei, für ihn beginne eine neue, eine dunklere Existenz. Sie rief ihn unter seiner Privatnummer an, ohne zu erklären, woher sie die hatte. »Wie fühlt man sich«, fragte sie, »wenn man weiß, dass man gerade von Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt wurde?« Es war ein sonniger Tag in London, aber ihre Frage verschattete das Licht. Ohne recht zu wissen, was er redete, hat er Folgendes geantwortet: »Man fühlt sich nicht gut.« Und Folgendes hat er gedacht: Ich bin ein toter Mann. Er fragte sich, wie viele Tage er noch zu leben hatte, und dachte, die Antwort wäre vermutlich eine einstellige Zahl. Dann legte er den Hörer auf und rannte aus dem Arbeitszimmer im oberen Stock des schmalen Reihenhauses in Islington nach unten. Das Wohnzimmer hatte hölzerne Fensterläden, die er absurderweise zuzog und verriegelte. Danach schloss er die Haustür ab.

Es war Valentinstag, nur verstand er sich nicht besonders mit seiner Frau, der amerikanischen Schriftstellerin Marianne Wiggins. Erst sechs Tage zuvor hatte sie erklärt, dass sie nicht glücklich mit ihm sei, dass sie sich in seiner Nähe ›nicht mehr wohl fühle‹, dabei waren sie kaum mehr als ein Jahr verheiratet, und er selbst wusste auch, dass diese Ehe ein Fehler gewesen war. Nun starrte Marianne ihn an, während er nervös durchs Haus tigerte, Vorhänge zuzog, Fensterriegel prüfte, von den Nachrichten so elektrisiert, als pulsierte Strom durch seine Adern, und er musste ihr erklären, was passiert war. Sie trug es mit Fassung und begann, mit ihm zu bereden, was als Nächstes zu tun war. Sie benutzte das Wort wir. Das war mutig.

Vor dem Haus hielt ein Wagen, geschickt von CBS. Er hatte mit dem amerikanischen Fernsehsender einen Termin in den Studios von Bowater House in Knightsbridge, ein Auftritt im Frühstücksfernsehen per Satellitenschaltung. »Ich muss los«, sagte er. »Die senden live. Ich kann nicht einfach hierbleiben.« Später am selben Vormittag sollte in der orthodoxen Kirche in der Moscow Road in Bayswater ein Gedenkgottesdienst für Bruce Chatwin stattfinden. Kaum zwei Jahre zuvor hatte er in Homer End, Bruce’ Haus in Oxfordshire, seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Jetzt war Bruce tot, gestorben an Aids, und der Tod hatte auch an seine Tür geklopft. »Was ist mit dem Gottesdienst?«, fragte seine Frau. Er wusste keine Antwort, schloss die Haustür auf, ging nach draußen, stieg ins Auto und wurde fortgefahren. Er konnte es damals nicht ahnen, weshalb ihm dieser Augenblick, als er auf die Straße trat, nicht besonders bedeutsam vorkam, doch sollte er das Haus, in dem er fünf Jahre lang daheim gewesen war, erst drei Jahre später wieder betreten, und dann würde es nicht mehr sein Haus sein.

Die Kinder in der Schule im kalifornischen Bodega Bay singen ein trauriges Unsinnslied. Sie kämmt sich das Haar nur einmal im Jahr, ristle-te, rostle-te, mo, mo, mo. Vor der Schule weht ein kalter Wind. Eine einzelne Krähe fliegt vom Himmel herab und landet auf dem Klettergerüst. Das Kinderlied ist ein Rundgesang; es hat einen Anfang, aber kein Ende. Es dreht sich im Kreis, rundherum und rundherum. Mit jedem Bürstenstrich vergießt sie eine Träne, ristle-te, rostle-te, hey-bombosity, knicketyknackety, retro-quo-quality, willoby-wallaby, mo, mo, mo. Vier Krähen hocken auf dem Gerüst, da kommt eine fünfte. Die Schulkinder singen. Jetzt sind es viele hundert Krähen auf dem Hof, und abertausend verdecken den Himmel wie in der ägyptischen Plage. Ein Lied hat begonnen, ein Lied ohne Ende.

Als die erste Krähe auf dem Klettergerüst landet, wirkt sie besonders, spezifisch, einzigartig. Aus ihrer Anwesenheit eine generelle Theorie abzuleiten, ein Schema der Geschehnisse, ist gänzlich unnötig. Später, als die Plage sich ausbreitet, fällt es den Leuten leicht, in der ersten Krähe einen Vorboten zu sehen. Als sie aber auf dem Klettergerüst landet, ist sie nur ein einzelner Vogel.

In den kommenden Jahren taucht diese Szene in seinen Träumen auf, und er wird begreifen, dass sie eine Art Prolog ist: die Geschichte von dem Augenblick, in dem die erste Krähe landete. Zu Beginn geht es nur um ihn; die Geschichte ist individuell, besonders, spezifisch. Niemand fühlt sich bemüßigt, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Dutzend Jahre und mehr werden vergehen, ehe die Geschichte den Himmel verdeckt – wie der am Horizont erscheinende Erzengel Gabriel, wie zwei in hohe Gebäude fliegende Flugzeuge, wie die Plage der todbringenden Vögel in Alfred Hitchcocks großartigem Film.

In den Studios von CBS war er die Nachricht des Tages. Die Leute in der Nachrichtenredaktion und an den diversen Monitoren benutzten schon das Wort, das ihm bald wie ein Mühlstein um den Hals hängen würde. Sie benutzten es, als wäre es synonym mit ›Todesurteil‹, und er wollte rebellieren, sie pedantisch korrigieren, das sei es nicht, was das Wort besage. Von jenem Tag an aber sollte es dies für die meisten Menschen auf der Welt bedeuten. Auch für ihn.

Fatwa.

›Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, dass der Autor des Buches Die satanischen Verse, welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.‹ Während er zum Interview ins Studio geführt wurde, drückte ihm irgendwer den Text in die Hand. Wieder wollte sein altes Ich korrigieren, diesmal das Wort ›verurteilt‹. Bei der Fatwa handelte es sich um kein Urteil von einem Gericht, das er anerkannte oder das Gerichtsbarkeit über ihn besaß. Sie war das Edikt eines grausamen alten, im Sterben liegenden Mannes. Doch er wusste, die Angewohnheiten seines alten Ichs nutzten ihm nichts mehr. Er besaß jetzt ein neues Ich. Er war der Mensch im Auge des Sturms, nicht mehr der Salman, den seine Freunde kannten, sondern Rushdie, Autor der satanischen Verse – dieses Buches mit dem auf subtile Weise durch das Fortlassen des Artikels Die entstellten Titels. Die satanischen Verse war ein Roman. Satanische Verse waren Verse, die satanisch waren, und er war ihr satanischer Verfasser, ›Satan Rushdy‹, eine gehörnte Kreatur auf Plakaten, die von Demonstranten durch die Straßen ferner Städte getragen wurden, der Gehängte mit langer roter Zunge auf primitiven hochgehaltenen Bildern. Hängt Satan Rushdy. Wie leicht es doch war, eines Menschen Vergangenheit auszulöschen und eine neue Version von ihm zu schaffen, eine überwältigende Version, gegen die anzukämpfen unmöglich schien.

König Karl I. hatte die Legitimität des gegen ihn verhängten Urteils angezweifelt. Oliver Cromwell konnte das nicht aufhalten; er ließ ihn trotzdem köpfen.

Er war kein König. Er war der Verfasser eines Buches.

Er sah die Journalisten an, die ihn ihrerseits ansahen, und fragte sich, ob Menschen so Verurteilte sahen, die zum Galgen, zum elektrischen Stuhl oder zur Guillotine geführt wurden. Ein Auslandskorrespondent wirkte freundlich. Er fragte ihn, was er seiner Meinung nach von Khomeinis Worten halten sollte. Wie ernst war das Ganze? War es nur eine rhetorische Floskel oder wirklich gefährlich?

»Ach, machen Sie sich keine allzu großen Sorgen«, antwortete der Journalist. »Khomeini verurteilt den Präsidenten der Vereinigten Staaten jeden Freitagnachmittag zum Tode.«

Als er auf Sendung war, wurde er gefragt, wie er auf die Drohung reagiere, und er antwortete: »Hätte ich doch nur ein kritischeres Buch geschrieben.« Dass er dies gesagt hatte, darauf war er stolz, damals wie heute. Es war die Wahrheit. Er hatte nicht den Eindruck, dass sich sein Buch besonders kritisch mit dem Islam auseinandersetzte, doch, und das sagte er auch an diesem Morgen im amerikanischen Fernsehen, eine Religion, deren Führer sich auf derartige Weise verhielt, hätte ein wenig Kritik wohl durchaus nötig.

Als das Interview vorbei war, wurde ihm gesagt, seine Frau wolle ihn sprechen. Er rief zu Hause an. »Komm nicht hierher zurück«, sagte sie. »Auf dem Bürgersteig warten gut zweihundert Journalisten auf dich.«

»Ich fahre zur Agentur«, erwiderte er. »Pack eine Tasche; und wir treffen uns da.«

Das Büro seiner Literaturagentur Wylie, Aitken & Stone befand sich in einem weißen Stuckhaus in der Fernshaw Road in Chelsea. Draußen kampierten keine Journalisten – offenbar rechnete die Weltpresse nicht damit, dass er an einem solchen Tag seinen Agenten aufsuchen würde –, doch als er das Gebäude betrat, klingelten sämtliche Telefone, und bei jedem Anruf ging es um ihn. Gillon Aitken, sein britischer Agent, sah ihn erstaunt an. Er telefonierte gerade mit Keith Vaz, dem britisch-indischen Parlamentsabgeordneten für Ost-Leicester, hielt den Hörer zu und wisperte: »Willst du mit dem Kerl reden?«

Vaz sagte in diesem Telefongespräch, was passiert sei, sei »entsetzlich, absolut entsetzlich«, und versprach seine »volle Unterstützung«. Einige Wochen später war er einer der prominentesten Redner während einer Demonstration gegen Die satanischen Verse, an der über dreitausend Muslime teilnahmen; dieser Marsch, sagte er, mache »den heutigen Tag zu einem der größten Tage in der Geschichte des Islam und...

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