1. KAPITEL
Alles auf Anfang
Der Blick aus dem Fenster offenbarte einen strahlend blauen Himmel mit bauschigen weißen Wölkchen wie Zuckerwatte. Glücklich lehnte ich mich in meinen Sitz zurück und genoss das sichere Gefühl, dass mich nun nichts mehr aufhalten konnte. Bald war ich in Mumbai – dem Mekka Bollywoods. Hier wollte ich ein neues Leben beginnen, und das hatte einen ganz bestimmten Grund.
Alles begann in dem Sommer, in dem ich David kennenlernte. Die Dreharbeiten für die dritte Staffel Weibsbilder waren gerade beendet, und sechs Wochen Los Angeles lagen vor mir. Ich hatte ein Stipendium für einen Schauspielworkshop erhalten.
Am Abend vor meiner Abreise in die USA traf ich mich mit ein paar Freunden in einer Bar. Ein nettes Beisammensein sollte es werden, ohne große Erwartungen. Wir bestellten Cocktails, plauderten, und ich wollte auch gar nicht lange bleiben, bis die Tür aufging und ein Mann hereinkam. Plötzlich ging alles ganz schnell. Wie durch Magnetkraft wurden wir voneinander angezogen, lachten, schwelgten in Geschichten und entdeckten Gemeinsamkeiten – das war die gute Nachricht. Die schlechte: David war verheiratet.
Nach meiner Rückkehr aus Los Angeles kam er mich sofort für ein Wochenende in Berlin besuchen, und nun war es endgültig um uns geschehen. Die Liebe überrollte uns wie eine Lawine – schnell, intensiv und völlig unkontrolliert. Wir malten uns ein gemeinsames Leben aus, mit allem, was dazugehörte – einzig an der Umsetzung haperte es. Immer, wenn David reinen Tisch machen wollte, kam ihm etwas dazwischen – ein Weihnachtsfest, Ostern, die Sommerferien, auch mal ein Grillfest. Parallel zu meiner privaten Misere, fing auch mein berufliches Leben gefährlich an zu bröckeln. Die Comedy-Serie, die mir meinen Lebensunterhalt sicherte, wurde trotz guter Quoten überraschend eingestellt. Zuerst deutete ich die Nachricht sogar noch positiv und dachte, dann müsse ja jetzt etwas Neues beginnen. Dem war aber nicht so. Auch andere Projekte, für die ich fest vorgesehen war, zerplatzten einfach wie Seifenblasen. Mein Leben rann mir durch die Finger, und mein wundes Herz schrie immer lauter: Los, unternimm etwas!
Es war wie ein letztes Aufbäumen, als ich David endlich vor die Wahl stellte. Und als ob ich es nicht schon geahnt hätte: Er traute sich den Sprung in unser gemeinsames Leben einfach noch nicht zu. Im Film bezeichnet man diese Stelle als den zweiten Plot-Point, auf den dann relativ zügig das Happy End folgt. Aber nicht so bei David und mir. Unsere Geschichte endete an dieser Stelle, und es brauchte Monate, bis ich mich wieder halbwegs berappelt hatte. Aber dann, als das Tal der Tränen durchschritten war, wurde mir eines klar: Ich wollte Neuland betreten – und zwar in jeder Hinsicht. Die Aussicht darauf, einfach nur sang- und klanglos wieder in mein altes Leben zurückzukehren, fand ich wenig reizvoll. Das hätte sich wie eine Kapitulation angefühlt. Ich wollte den Bogen weiter spannen, auch beruflich. Einfach nur auf das nächste Rollenangebot zu warten, war mir zu passiv. Aber wie sollte dieser Neuanfang aussehen? Ich war 37 Jahre alt, konnte ein abgebrochenes Jurastudium und gute zehn Jahre Erfahrung als Schauspielerin vorweisen. Ich hatte weder Mann noch Kind noch einen festen Job. Gut daran war, dass ich nun völlig frei und ungebunden war. Theoretisch gab es also unzählige Möglichkeiten, mein Leben völlig neu zu gestalten, nur fiel mir praktisch leider keine einzige ein. In der Hoffnung auf Inspiration ging ich viel spazieren oder fuhr mit dem Rad durch die Stadt. Dabei doggte ich mich immer wieder an das Gefühl von Freiheit und auch von Abenteuer an, aber eine wirklich zündende Idee kam mir trotzdem nicht.
Als die Tage schon wieder dunkler wurden und das Wetter ungemütlich, saß ich mit einer heißen Tasse Tee über meinen Steuerunterlagen, als das Telefon klingelte. Es war mein Versicherungsvertreter. Oh nein, dachte ich, das Letzte was ich jetzt brauche ist eine neue Versicherung. Doch darum schien es gar nicht zu gehen. Herr Meyer erzählte mir von einer Klientin, die irgendetwas mit Bollywood zu tun hatte.
»Die brauchen dort wohl auch schon mal deutsche Schauspieler, hat sie mir erzählt. Und da habe ich sofort an Sie gedacht.«
Da war er, der Impuls, auf den ich so lange gewartet hatte. Ich gehe nach Bollywood – die Sache war schon beschlossen, bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte. Bollywood, das verband ich mit überbordenden Gefühlen, dramatischen Gesten, bunten Gewändern, glitzerndem Schmuck, irrwitzigen Tänzen und natürlich der großen Sehnsucht nach einem Stück heiler Welt, wonach auch ich mich tief in meinem Innersten sehnte. Aber ich witterte auch das Abenteuer. Vor allem faszinierte mich die Vorstellung, in eine völlig fremde Kultur einzutauchen und mir dort einen Alltag aufzubauen, der so ganz anders war als alles, was ich bisher erlebt hatte.
Eine Google-Suche ergab, dass auf dem Subkontinent mehr Filme gedreht wurden als in jedem anderen Land dieser Welt. Das war natürlich großartig! Weniger großartig war dagegen, dass Westler in der Tat gerne in Bollywood gesehen wurden, allerdings nur als Komparsen, um den Hintergrund zu füllen. Rollen für Ausländer gab es so gut wie gar keine. Ich musste auch feststellen, dass die Filme gar nicht auf Englisch gedreht wurden, so wie ich ursprünglich vermutet hatte, sondern auf Hindi. Das waren natürlich nicht gerade die besten Berufsaussichten, trotzdem wollte ich mich davon nicht einschüchtern lassen. Irgendetwas würde dieses Land schon für mich bereithalten, da war ich mir ganz sicher. Ich wollte schon meine Koffer packen, aber dann kam plötzlich eines zum anderen.
Nachdem sich die Welt so lange vor mir verschlossen hatte, öffnete sie mir nun bereitwillig all ihre Tore. Ein befreundeter Filmproduzent brachte mich auf die Idee, doch eine Doku über meinen Neuanfang in Bollywood zu drehen. Die Regie sollte ich selbst führen. Und einen Film über mein Vorhaben zu drehen, war natürlich viel dichter dran an dem, was ich mir ursprünglich gewünscht hatte. Ganz praktisch hatte das aber auch den Vorteil, mein Geld nicht sofort in Indien verdienen zu müssen. Also klemmte ich mich hinter den Schreibtisch und schrieb ein Konzept, in der Hoffnung, einen Auftrag von einem Fernsehsender zu erhalten, denn das war die Voraussetzung. Und da ich in meinem Leben noch nie indischen Boden betreten hatte, ließ ich einfach meine Fantasie schweifen. Auf dem Papier kreierte ich mir mein neues Leben so prall und bunt wie nur möglich. Ich blickte hinter die Kulissen Bollywoods, tauchte ab in geheimnisvolle, mystische Welten und stellte mir sogar ganz kühn eine neue Liebe in Aussicht – und auf einmal lief alles wie am Schnürchen. Das ZDF war interessiert. Sie überlegten sogar, eine ganze Serie daraus zu machen. Allerdings wollte der Sender bei solch einem großen Vorhaben noch genauer wissen, was ihn erwartete. Deshalb schlug mein Produzent vor, Adrian, den Kameramann, und mich für kleines Geld zu einem dreiwöchigen Test-Dreh nach Mumbai zu schicken.
»Hühnchen oder vegetarisch?«, fragte die Stewardess mit charmant indischem Akzent.
»Vegetarisch bitte.«
»Für mich auch«, sagte Adrian, und wir rafften schnell die Blätter zusammen, auf denen wir Notizen für die ersten Drehtage gemacht hatten. Vorsichtig zog ich die Alufolie von der Menüschale, und ein herrliches, indisches Curry kam zum Vorschein – Kichererbsen, Kartoffeln und verschiedene Gemüse in einer spicy Sauce. Es schmeckte – für Flugzeugkost – ungewöhnlich gut und gab einen wunderbar sinnlichen Vorgeschmack auf unser Reiseziel. Ich konnte noch gar nicht richtig glauben, dass wir in wenigen Stunden endlich diese langersehnte Welt erreichen würden, die ich in meiner Fantasie schon in- und auswendig kannte.
Mumbai, das ehemalige Bombay, gehört zu den bevölkerungsreichsten Städten weltweit. Die Einwohnerzahl wird auf rund 18 Millionen geschätzt, genau weiß das aber niemand. Mittlerweile befanden wir uns im Landeanflug, und ich sah gebannt aus dem Fenster. Es war vier Uhr morgens und noch stockdunkel. Mumbai, das Los Angeles Indiens, war nicht etwa hell erleuchtet, wie man es aus anderen Metropolen kannte, ganz im Gegenteil: Es sah aus der Luft fast unheimlich aus, und je näher wir uns Richtung Boden bewegten, desto mehr Slums konnte ich erkennen. Plötzlich war ich heilfroh, mich doch nicht ganz alleine auf den Weg gemacht zu haben.
Als sich die Türen des Flugzeugs öffneten, schlug mir die feuchte, wabernde Hitze wie eine warme Wand entgegen. Ich war in den Tropen gelandet, das war deutlich zu spüren. Auch der Geruch war speziell. Ich mochte ihn. Es roch blumig und ein bisschen würzig. Glücksgefühle stiegen in mir auf, und ich konnte es kaum erwarten, endlich in das bunte Treiben der Millionenmetropole einzutauchen.
Das Erste, was Indien allerdings von mir einforderte, war Geduld. Überall wimmelte es von Menschen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis wir den Zoll passiert hatten, am Gepäckband fiel immer wieder der Strom aus, und für einen letzten Sicherheitscheck mussten wir uns noch einmal in eine lange Schlange einreihen, aber dann hatten wir es geschafft! Wir passierten den Ausgang und landeten auf einem Platz, dessen Überdachung mich an ein arabisches Zeltdach erinnerte. Adrian holte sofort die Kamera heraus. Ich lief auf eine der beleuchteten Buden zu, die rings um den Platz herumstanden und bestellte meinen ersten indischen Chai. Freudestrahlend nickte mir der Mann hinter dem Tresen zu und zeigte auf einen der weißen Plastikstühle, auf den ich mich setzen...