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Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938

Jüdisches Leben im historischen Tirol

AutorSabine Albrich-Falch
VerlagHaymon
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl197 Seiten
ISBN9783709973431
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
'Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938' ist ein Auszug aus dem dreiteiligen Sammelwerk 'Jüdisches Leben im historischen Tirol'. Die Geschichte des jüdischen Lebens im historischen Tirol, welches das heutige Trentino, Süd-, Nord- und Osttirol sowie über ein Jahrhundert lang auch Vorarlberg umfasste, ist über 700 Jahre alt. Am Anfang dieses Titels steht ein quantitativ struktureller Überblick: Wie groß war die Gruppe von Jüdinnen und Juden im Zeitraum von 1918 bis 1938? Welche strukturellen Merkmale dieser Gruppe fallen auf, wie veränderten sie sich und warum? Im zweiten Kapitel geht es um die gewaltigen Umbrüche und die erzwungene Neuorientierung nach dem Ersten Weltkrieg. In Nordtirol waren die Anfangsjahre der Ersten Republik eine Zeit des Hungers, der Not, der politischen Unsicherheit und vorrangig geprägt vom ? letztlich utopischen ? Kampf gegen die Abtrennung Südtirols, die im Oktober 1920 definitiv wurde. Die Zukunftsangst der Tiroler Bevölkerung manifestierte sich auch in einem heftigen rassistischen, wenngleich noch weitgehend rhetorischen Antisemitismus. Das dritte Kapitel behandelt das Tiroler Judentum als religiöse Gemeinschaft: die Kultusgemeinden Innsbruck und Meran mit ihren Institutionen, Funktionären und Aktivitäten. Das vierte Kapitel beleuchtet die Lebenswelten der jüdischen Tirolerinnen und Tiroler nördlich und südlich des Brenners: bekannte Personen und Familien, besondere Lebenswege, Berufsleben und Freizeitgestaltung. Im fünften Kapitel geht es um den jüdischen Nationalismus und den damit verbundenen neuen Stolz dieser Bevölkerungsgruppe sowie den Wunsch und den Mut, sich gegen den Antisemitismus aktiv zu verteidigen und diesen auch bewaffnet entgegenzutreten. Eine Bewegung, die jedoch nicht von allen Teilen der jüdischen Bevölkerung gutgeheißen wurde und tiefe Gräben innerhalb der jüdischen Gemeinde verursachte.

Sabine Albrich-Falch, geboren 1965 in Innsbruck, Mag. phil. und Dr. phil., studierte Geschichte und Philosophie/Psychologie an der Universität Innsbruck sowie Bildnerische Erziehung/Malerei an der Universität Mozarteum in Salzburg. Sie war von 1998 bis 2003 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck u.a. im internationalen Forschungsprojekt Österreich-Israel beschäftigt. Sie arbeitete an Forschungsprojekten zur Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg, zu Minderheiten und Migration und zum Nationalsozialismus in Tirol. Sie veröffentlichte im Jahr 2002 Heimatfern. Die Südtiroler Arbeitsmigration der 1950er und 1960er Jahre und gab 2005 gemeinsam mit Moshe Zimmermann Israel ? Österreich. Von den Anfängen bis zum Eichmann-Prozess 1961 heraus. Sie unterrichtet seit 2004 an einer höheren Schule in Innsbruck.

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Leseprobe

Vom jüdischen Leben im historischen Tirol nach 1918


Thomas Albrich

Der verlorene Erste Weltkrieg war auch eine gravierende Zäsur für die jüdische Bevölkerung: Tirol wurde geteilt, die neue Kultusgemeinde in Meran hatte nach 1921 kaum noch Verbindungen zur Kultusgemeinde in Innsbruck. Die zwanziger Jahre waren geprägt von Antisemitismus, in Nordtirol sogar in organisierter Form durch den „Tiroler Antisemitenbund“, eine Gründung von Vertretern der politischen Eliten des Landes – den Konservativen, Christlichsozialen und Großdeutschen. Auch die Landes- und Gemeindebehörden spielten mit, als es nach dem Zusammenbruch der Monarchie darum ging, den jüdischen „Altösterreichern“ die Staatsbürgerschaft der neuen Republik zu verweigern. Dadurch blieben viele, obwohl in Tirol geboren oder seit Jahrzehnten hier ansässig, Ausländer oder wurden zu Staatenlosen. Dies sollte Folgen haben, die das Schicksal der Betroffenen nach dem „Anschluss“ 1938 mitbestimmten.

Die jüdische Bevölkerung reagierte in der Zwischenkriegszeit auf antisemitische Anfeindungen und Ausgrenzungstendenzen auf unterschiedliche Weise: Während sie von der Mehrheit der Jüdinnen und Juden als Teil der „Normalität“ empfunden und hingenommen wurden, reagierte eine Minderheit, meist Jugendliche unter Führung ehemaliger Frontoffiziere, kämpferisch. Ihre Antwort auf den Antisemitismus war der organisatorische Zusammenschluss in eigenen zionistischen Vereinen. Die Aktivitäten dieser Vereine unterschieden sich aber kaum von jenen der nichtjüdischen: Sport – vor allem Bergsteigen, Wandern und Schifahren – stand im Vordergrund. Zusätzlich gab es Unterricht in jüdischer Geschichte oder Hebräisch. All das diente hauptsächlich der Stärkung eines jüdischen Selbstbewusstseins, und nur die wenigsten dachten vor 1938 an eine Auswanderung nach Palästina.

Die Bandbreite der politischen Ausrichtung der Tiroler Juden in der Zwischenkriegszeit war auch ein Ausdruck von Normalität und ein Spiegelbild der Gesellschaft: Obwohl mehrheitlich konservativ, reichte sie von Sozialdemokraten, die „Spanienkämpfer“ auf ihrem Weg unterstützten, über Liberale bis hin zu großdeutschen Befürwortern eines „Anschlusses“ an Deutschland. „Wir lebten wie sie, aber abseits von ihnen.“ So charakterisierte der 1938 aus Tirol geflüchtete Hugo Silberstein (Gad Hugo Sella) aus seiner Sicht das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zu den Tirolern vor dem „Anschluss“. Für einen Zionisten wie ihn, mit dem Bewusstsein, einem eigenen Volk anzugehören, mag die Einschätzung zutreffen. Für die Mehrheit der jüdischen Menschen in Tirol und Vorarlberg galt vor dem „Anschluss“ 1938 eher nur der erste Teil seiner Aussage: Sie lebten weitgehend wie ihre nicht-jüdische Umgebung.

Der „Anschluss“ Österreichs und mit ihm Tirols hatte zeitversetzt auch schwere Folgen für die Jüdinnen und Juden südlich des Brenners: Beim „Anschluss“ im März 1938 lebten nach heutigem Kenntnisstand rund 460 so genannte „Glaubensjuden“ in Nordtirol und etwa 40 in Vorarlberg. In Südtirol, vor allem in Meran und Bozen, zählte die Kultusgemeinde mit vielen Flüchtlingen 1938 rund 800 Personen.

Nach dem „Anschluss“ aktivierten die Nationalsozialisten auch in Nordtirol das in den „Nürnberger Rassengesetzen“ vom September 1935 festgeschriebene Konstrukt „Jude“. Nun mussten sich weitere rund 200 Menschen plötzlich als „Volljuden“ deklarieren, die sich vorher nie als solche gefühlt hatten. Wer sich nicht selbst meldete, machte sich strafbar, da man als Jude nicht mehr als Beamter oder Angehöriger der Wehrmacht vereidigt werden durfte. Diese perfide Methode der neuen Machthaber öffnete Denunzianten Tür und Tor.

In der Folge wurden Jüdinnen und Juden Diskriminierungen und Verfolgungen durch das NS-Regime ausgesetzt, die ihnen das Leben im nunmehrigen Gau Tirol-Vorarlberg zunehmend unerträglich machten. Ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf frühere Verdienste wurden sie mit Berufsverboten belegt, Schritt für Schritt entrechtet und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Parallel zur Diskriminierung erfolgte die so genannte „Arisierung“, der systematische Raub jüdischen Besitzes, von der sowohl die öffentliche Hand als auch Privatpersonen profitierten. Einige zogen die Konsequenz aus dieser neuen Lage und verübten schon in den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ Selbstmord, andere wollten nicht glauben, dass es noch schlimmer kommen könnte. Menschliche Tragödien unterschiedlichen Ausmaßes spielten sich in der Folgezeit ab.

Im Novemberpogrom, der so genannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938, deutete sich erstmals an, was die jüdische Bevölkerung in Zukunft zu erwarten hatte. In einer Orgie der Gewalt und Brutalität überfielen in Innsbruck Rollkommandos, meist einheimische Angehörige der SS, der SA und des NSKK, die Wohnungen der nur noch wenigen noch nicht geflüchteten Jüdinnen und Juden. Die Bilanz dieser Nacht: neben einer größeren Zahl Verletzter, neben Zerstörungen und Plünderungen wurden drei Männer ermordet, darunter der Vorstand der Innsbrucker Kultusgemeinde Richard Berger, ein vierter starb einige Wochen später an seinen schweren Verletzungen.

Der Bogen der jüdischen Lebensgeschichten aus dem Gau Tirol-Vorarlberg, die in der Shoa endeten, spannt sich von den Schwierigkeiten der orthodoxen ostjüdischen Zuwandererfamilie Nagelberg in Hohenems mit der dortigen liberalen jüdischen Gemeinde bis hin zu Robert Schüller, dem total assimilierten hochrangigen Tiroler NS-Funktionär jüdischer Herkunft, von Friedrich Reitlinger, dem konvertierten Industriellen und Politfunktionär aus Jenbach, über Rudolf Gomperz, den großdeutsch gesinnten Fremdenverkehrspionier aus St. Anton am Arlberg, bis zu Josef Lehrmann, dem kriegsversehrten Trödler in Telfs, vom Gastwirt Ivan Landauer aus Hohenems bis zur religiösen Händlerfamilie Turteltaub in Innsbruck und Dornbirn.

Während bis zum Beginn der Massenvernichtung etwa zwei Drittel der Tiroler und Vorarlberger Jüdinnen und Juden ins Ausland flüchten konnten, traf es Anfang 1942 auch die wenigen zuvor „vergessenen“ alleinstehenden Frauen und Männer in so genannten „nicht-privilegierten Mischehen“, d. h. kinderlosen Ehen mit „Arierinnen“ oder „Ariern“. Sie mussten nun zwangsweise nach Wien übersiedeln und wurden von dort, wie all jene, die es nicht mehr geschafft hatten, irgendwohin zu flüchten, zuerst in Gettos in Polen, dann in die Vernichtungslager wie Treblinka, Sobibor und Auschwitz oder nach Riga und Minsk deportiert und ermordet. Nur wenige überlebten die Jahre im so genannten „Altersgetto“ Theresienstadt in Böhmen.

Zu Ostern 1943 galt im Gau Tirol-Vorarlberg plötzlich auch der Schutz durch einen „arischen“ Ehemann nichts mehr. Gestapo-Chef Werner Hilliges ließ im ganzen Gaugebiet Frauen, die in geschützten „privilegierten Mischehen“ lebten, auf Basis gefälschter „Schutzhaftbefehle“ ins so genannte Arbeitserziehungslager Reichenau bei Innsbruck einliefern. Vier von ihnen wurden nach Auschwitz deportiert, bevor von „oben“ die Einstellung der Aktion befohlen wurde. Grund für den Stopp war, dass die Machthaber schwer kalkulierbare Reaktionen von „arischen“ Angehörigen befürchteten. Aus den Reaktionen der Bevölkerung lässt sich erahnen, dass das Regime wohlweislich die Fähigkeit der Bevölkerung „zum Wegschauen“ nicht überstrapazieren wollte.

Der Holocaust war nicht ausschließlich von einer unpersönlichen „fernen Macht“ in Berlin angeordnet und exekutiert worden, sondern hatte auch willige Helfer in Nord- und Südtirol sowie in Vorarlberg: In mehreren Fällen zeigt sich, wie persönliche Initiativen und Interessen lokaler Machthaber – vom Bürgermeister oder Gestapochef bis zum Gauleiter – die Beraubung, Vertreibung und sogar Deportation erst möglich machten. Großfamilien wurden zerrissen, wobei ihre jüngeren Mitglieder meist in alle Welt vertrieben, die älteren deportiert und ermordet wurden.

Während einige wenige Frauen die Zeit der Verfolgung als Ehefrauen „arischer“ Männer in dauernder Angst vor Verhaftung und Deportation im Gau überleben konnte, ist bislang kein einziger Fall eines einheimischen Juden historisch nachweisbar, der „illegal“ – als so genanntes „U-Boot“ – im Lande die NS-Zeit im Untergrund überlebt hätte. Allerdings überlebten vier jüdische Berliner Flüchtlinge die letzten Jahre der Shoa in der Wildschönau im Tiroler Unterland.

Nur wenige überstanden die Gettos und Lager der Nationalsozialisten und kehrten wieder nach Hause zurück. Ein Beispiel für Meran ist Walli Hoffmann, die als einzige die Deportation der Südtiroler Jüdinnen und Juden nach dem September 1943 überlebte. Nur wenige der nach 1938 Vertriebenen kehrten nach Kriegsende nach Nordtirol zurück, wie Rudolf Brüll und seine Brüder, ließen sich...

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