Glückliche Kinderjahre
»Beeile dich, Markus! Hast du dein Gesicht schon gewaschen?«, rief Mama. »Ja, ja«, gab ich zurück, zog schnell meine Schuhe an, griff mir eine Jacke und rannte ihr hinterher, die Treppe hinunter. Sie setzte sich hinter das Steuer unseres Autos, während ich auf den Rücksitz kletterte. Derweil lud Papa 65 Kilogramm Champignons aus seiner Zucht in den Kofferraum, die Eltern gaben sich einen Abschiedskuss, und meine Mutter brauste mit mir davon.
Ich begleitete sie gern auf ihrer morgendlichen Tour zu den Kunden. Da sie mit unserer siebenköpfigen Familie und dem Geschäft viel zu tun hatte, genoss ich es, sie zwischendurch ganz für mich allein zu haben.
Wir fuhren von Embrach über Pfungen, Neftenbach und Henggart nach Schaffhausen, um Läden und Restaurants mit unseren Pilzen zu beliefern. Manchmal durfte ich den Köchen zuschauen, wie sie mit ihren großen Pfannen und Töpfen hantierten. Mit den meisten Kunden hielt Mama einen kleinen Schwatz, außer mit den knurrigen, die gestresst waren und herummeckerten. Mein Lieblingsziel war die Bäckerei Gründler in Schaffhausen, denn beim freundlichen Bäckermeister durfte ich mir stets etwas Leckeres aussuchen.
Besonders gern besuchte ich das Schloss Laufen am Rheinfall. Während Mama drinnen die Champignons übergab, beobachtete ich draußen die Rehe und Wildschweine im Schlossgraben. Wenn sie herauskam, bestürmte ich sie: »Bitte, Mama, bitte!« Sie wusste, was das bedeutete. Wenn sie sich erweichen ließ, was nicht so oft vorkam, weil wir meist spät dran waren, stiegen wir rasch die vielen Steintreppen hinunter zur Aussichtsterrasse.
Dort war der Lärm des tosenden Wassers ohrenbetäubend, die Gischt spritzte mir ins Gesicht. Ich stand da und starrte staunend in die endlos niederstürzenden Fluten. Ich hätte stundenlang zuschauen können. Doch schon bald tippte mir Mama auf die Schulter und gab mir ein Zeichen. Glücklich stapfte ich neben ihr zum Schloss hinauf und kletterte wieder ins Auto. Oft war ich so müde, dass ich auf der Heimfahrt einschlief. »Hallo, wir sind da«, weckte mich Mama dann und lächelte mich an. Inzwischen war es Mittag geworden.
Wir waren fünf Kinder, drei Brüder und zwei Schwestern. Ich war der Jüngste, Daniel war drei Jahre, Marlies fünf, Ruth elf und Ernst dreizehn Jahre älter. Ruth hantierte bereits in der Küche. Dort herrschte bei uns stets das kreative Chaos. Wer von den Großen zuerst zu Hause war, führte Regie, auch Papa. Wer später dazukam, fasste ein »Ämtli«: Salat waschen, Kartoffeln schälen, Sauce zubereiten, kochen. Ich als Nesthäkchen musste jeweils den Tisch decken. Bei den Zanggers war das Lebensmotto ebenso einfach wie effizient: Alle mussten überall mitanpacken.
Nach dem Essen versuchten Daniel und ich manchmal, das »System Zangger« zu unterlaufen. Bei der ersten Gelegenheit schlichen wir uns davon, um uns vor dem Abwasch zu drücken. Doch damit strapazierten wir den Gerechtigkeitssinn unserer Schwestern. Sie pfiffen uns zurück und drückten jedem ein Tüchlein in die Hand: »Los, abtrocknen!« Derweil genoss Papa als Einziger das Privileg, sich nach dem Essen für fünfzehn Minuten aufs Sofa zu legen, um ein Nickerchen zu machen. Keine Regel ohne Ausnahme.
Das Bauernhaus, in dem wir wohnten, war für uns Kinder ein kleines Paradies. Im ersten Stock lebte die Bauersfamilie, darüber wir zur Miete in einer einfachen, aber geräumigen Achtzimmerwohnung. Mein Bruder Ernst machte in Zürich eine Lehre als Automechaniker, Ruth arbeitete in der Pilzzucht mit. Sie betreute mich, wenn Mama beschäftigt war. Manchmal schaute auch Marlies zu mir, die als kleines Mädchen Kinderlähmung gehabt hatte. Daniel war mein bester Kumpel und mein großes Vorbild. Wir verbrachten viel Zeit zusammen und machten die nähere und weitere Umgebung unsicher. Unser bevorzugtes Revier war der Estrich. Wir trieben uns aber auch oft im Kuhstall, in der Scheune und im Bungert herum, einer Weide mit Obstbäumen.
Es gab viel zu beobachten und zu bestaunen, vor allem bei den Tieren. Die Bauersleute ließen uns überall herumstrolchen. Ich schaute Walter, ihrem Sohn, gern zu: beim Melken, beim Dämpfen der Kartoffeln für die Schweine oder beim Aufziehen des Heus in den Heustock. Er war unser Märchenonkel und erzählte uns wunderbare Geschichten. Traurig machte mich, wenn Tiere, die ich gut kannte, auf dem Hof geschlachtet wurden. Ich musste lernen, dass das Töten zur Arbeit eines Bauern gehört.
Attraktiv war auch das Nachbarhaus, in dem ein älteres Paar wohnte, zu dem wir eine enge Beziehung hatten, fast wie zu Großeltern. Wir waren dort häufig zu Besuch, auch wegen des Fernsehers, weil es in unserem Haushalt keinen gab.
Ein besonderes Erlebnis war für mich der Gemüsemarkt in Winterthur. Früh am Morgen, wenn wir ankamen, waren alle Marktfahrer nervös. Eilig stellten sie ihre Stände auf, um bereit zu sein für die erste Kundschaft. Unser Stand war mit seinem weißen Stoffdach der schönste. Ich durfte die Münzen in der Kasse ordnen, und Mama lehrte mich, die Pilze zu wägen, den Preis auszurechnen und das Retourgeld abzuzählen. »Und vergiss nicht, dich bei den Kunden jedes Mal höflich zu bedanken!«, schärfte sie mir ein.
Ich war stolz und erzählte den anderen Marktfahrern, was ich schon alles konnte – und schaute ihnen fasziniert zu, wie sie ihre geschlachteten Hühner und Kaninchen verkauften. Der Mann mit den Eiern jammerte stets, er verdiene kaum etwas. Zwischendurch schlenderte ich durch die Gassen und betrachtete bei Franz Carl Weber die Spielsachen in den Schaufenstern.
Ich hatte eine glückliche Kindheit. Unsere große Familie war ein sicherer Hort für mich, ich fühlte mich gut aufgehoben und geborgen. Meine Brüder und Schwestern waren liebevoll und fürsorglich zu mir. Als Nachzügler genoss ich viel Aufmerksamkeit. Ich war fröhlich und aufgeweckt, neugierig und manchmal auch ein bisschen vorwitzig. Weil ich oft im Mittelpunkt stand, hatte ich zuweilen Flausen im Kopf.
Zum Leidwesen meines Bruders Daniel, der manchmal ein wenig eifersüchtig auf mich war, entwickelte ich bald viel Durchsetzungsvermögen und einen ausgeprägten Willen. Es war auch für meine Eltern nicht immer einfach, meinen Tatendrang zu zügeln – oder mein Mundwerk. Andererseits war ich aber auch anpassungsfähig und konnte mich einfügen.
Ein weiteres tolles Refugium war für mich der Bauernhof »Im Chratz« von Tante Lisa und Onkel Robert. Schon als kleiner Knirps überquerte ich allein die Hauptstraße, um dort meinen Cousin Jörg zu besuchen. Ich rannte jeweils am Brunnen vorbei zum Haus, nahm die sieben Stufen wie im Flug und stürmte geradewegs in die Küche. »Hallo«, rief ich, »ich bin da!« Tante Lisa begrüßte mich und sagte, Jörg sei beim Großvater hinter dem Haus, um für die Tiere Gras zu holen. Ich rannte zu ihnen, kletterte auf den Traktor, und schon gings aufs Feld.
Der »Chratz« war so etwas wie mein zweites Zuhause. Ich besuchte Jörg und seine kleine Schwester Susi bei jeder Gelegenheit. Wir tollten in der Scheune herum und sprangen vom Dachbalken ins weiche Heu. Der Großvater ließ uns machen und schmunzelte: »Die Tiere fressen das Heu auch dann, wenn es etwas durchgeknetet ist.«
Speziell angetan hatten es mir die schneeweißen Saanen-Ziegen. Jörg und ich banden ihnen gern einen Strick um den Hals und spazierten mit ihnen stolz durchs Oberdorf. Die Glocken der Tiere kündigten uns an, sodass manche Leute stehen blieben und sich über die ungewöhnliche Prozession freuten.
Wir machten uns aber auch nützlich und halfen dem Großvater beim Ausmisten der Ställe, beim Verteilen des Mists auf den Feldern und beim Heuen. Er belohnte uns, indem er uns lehrte, mit dem Traktor zu fahren, obwohl wir dafür noch viel zu jung waren. Zuerst durften wir das schwere Vehikel nur steuern, später auch allein Gas geben, schalten und bremsen. Ich war natürlich mächtig stolz, so über die Felder zu fahren.
Ein weiterer Ort, der meine Kindheit prägte, war das Geschäft meiner Eltern. Es war ein besonderer Betrieb, denn er bestand vorwiegend aus dunklen, muffigen Kavernen, die tief in die Erde reichten. Der große Betonklotz enthielt 22 Kammern, in denen mein Vater Champignons züchtete, unterstützt von seinen Brüdern Robert, Beni und Paul.
Weil der Dünger das Wichtigste für die Pilzzucht ist, kompostierte mein Vater in einem großen, abgelegenen Schuppen zwischen Embrach und Pfungen riesige Mengen Pferdemist, der wöchentlich umgepflügt und mit Wasser durchsetzt werden musste. So gewann er jede Woche mehrere Tonnen dunklen, gut riechenden Kompost.
Seine Karriere als Züchter verdankte Papa seinem Oberstufenlehrer, der ein leidenschaftlicher »Pilzler« war. Im Herbst streunten die beiden jeweils durch die Wälder und suchten Wildpilze. Später versuchte mein Vater aus reiner Neugierde, Champignons zu ziehen. Die ersten Experimente startete er in einer Sandsteinhöhle am Büliberg zwischen Embrach und Bülach. Mit der Zeit gelang ihm das so gut, dass er die Pilze verkaufen konnte. Das brachte ihn auf die Idee, die Zucht professionell zu betreiben. Er baute ein Gebäude beim Embracher Weiler Illingen. Da Ende der 1940er-Jahre die Wirtschaft in einer Krise steckte und sein jüngster Bruder Beni einen Job brauchte, holte Papa ihn ins Boot. So entstand 1950 die Firma »Gebrüder Zangger Champignon Kulturen«. Die beiden anderen Brüder stießen später dazu.
Als ich älter war, half ich an schulfreien Nachmittagen und in den Ferien in der Pilzzucht mit. Ich pflückte die Champignons in den dunklen Kavernen und packte sie in Säcke von je einem Kilogramm ab. Ich...