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Jugenddelinquenz

Entwicklungspsychiatrische und forensische Grundlagen und Praxis

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783170266223
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis43,99 EUR
Das Thema der Jugenddelinquenz wird in diesem Band interdisziplinär durch Vertreter der Psychologie, der Jugendpsychiatrie, der Kriminologie, der Sexualwissenschaft und der Justiz abgehandelt. Dabei werden drei zentrale Themen herausgestellt: Bedingungsfaktoren für die Entstehung von delinquentem Verhalten, die Untersuchung delinquenter Jugendlicher aus der Perspektive der forensischen Diagnostik und Begutachtung sowie Ansätze zur Intervention und Prävention.

Prof. Dr. med. Hans-Christoph Steinhausen ist Ärztlicher Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich. Dr. med. Cornelia Bessler ist Leitende Ärztin der Fachstelle für Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich.

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Leseprobe

1 Neue Ansätze zur Jugenddelinquenz: Neurowissenschaften und Entwicklungspsychiatrie


Hans Steiner, Niranjan S. Karnik, Belinda Plattner,
Melissa Silverman und Richard Shaw

„Jedes Kind beginnt sein Leben als ein
asoziales Wesen, in dem es darauf besteht,
dass seine Wünsche erfüllt werden, ohne die
Wünsche und Forderungen seiner
Mitmenschen zu berücksichtigen. Dieses
Verhalten wird für das junge Kind als normal
angesehen, jedoch als asozial oder dissozial,
wenn das Kind älter wird. Das Kind muss zu
einem Zustand der prosozialen Anpassung
erzogen werden; diese Aufgabe kann nur
erfüllt werden, wenn die emotionale
Entwicklung des Kindes normal verläuft.“

Verwahrloste Jugend,
August Aichhorn (1930)

Einleitung


Jugenddelinquenz ist und verbleibt ein zentrales soziales Problem auf dem ganzen Globus. Unabhängig von den spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten kämpfen die Gemeinschaften mit den Methoden, um ihre Kinder angemessen zu sozialisieren, so dass sie produktive und beitragende Mitglieder der Gesellschaft werden. Die Delinquenz kann als ein fehlangepasster Pfad der Entwicklung betrachtet werden, der in antisozialem und kriminellem Verhalten bei Kindern münden kann, so dass sie sich selbst, andere oder die Gemeinschaft im weiteren Sinne schädigen. Delinquente nach der Art ihrer Verbrechen und anderer kriminologischer Kriterien zu gruppieren, erbrachte nur einen geringen Erfolg bei den Bemühungen um Rehabilitation und Prävention der ungünstigen Verläufe sowie der Wiederholungstaten. Diese Erfahrung macht es notwendig, neue Ansätze für das Thema der fehlangepassten Aggressionen bei Jugendlichen zu entwickeln. Ebenso ist es relativ erfolglos, Delinquente als eine solide psychopathologische Gruppe zu verstehen, denn das führt zu einer sehr breiten und heterogenen Kategorie, die nur geringe prädiktive Validität hat, wenn man den lang- und kurzfristigen Verlauf vorhersagen will (Steiner und Cauffmann 1998). Der Blick auf die Delinquenz durch die Linsen der Kriminologie hat insofern einigen Vorteil und muss als solcher bewahrt bleiben, als er die Gemeinschaft schützt und die Einrichtung von speziellen Einrichtungen für Haft und Rehabilitation ermöglicht. Ergänzend dazu ist jedoch die folgende Perspektive, die wir vorschlagen: Zunehmend kann ein Konsensus beobachtet werden, dass Delinquenz und Kriminalität Untergruppen eines breiteren antisozialen und aggressiven Verhaltensmusters darstellen. Umgekehrt kann die fehlangepasste Aggression und Psychopathologie am besten als eine Untergruppe von allgemeinen delinquenten Verhaltensmustern betrachtet werden (vgl. Abb. 1.1).

Hier erweitern wir die Argumente von Adrian Raine, die Kriminalität als eine Form von Psychopathologie zu betrachten (Raine 1993), und wenden diese auf Kinder und Jugendliche an. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ergeben sich neue Perspektiven, die diejenigen der Kriminologie ergänzen und erweitern und zu ganz neuen Fragestellungen mit neuen Behandlungsmethoden kommen (s. Abb. 1.2).

Abb. 1.1: Antisoziales Verhalten, Delinquenz und fehlangepasste Aggression

Ein vielversprechender neuer Weg des Verständnisses für diese Phänomene stammt aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Entwicklungspsychiatrie. Die hier entwickelten Erkenntnisse postulieren verschiedene Subtypen der Aggression auf der Basis verschiedener zugrundeliegender neurowissenschaftlicher und psychologischer Mechanismen und ermöglichen ein Verständnis dieser Prozesse sowohl in Begriffen der Evolution als auch der Klinik. Besonders attraktiv an diesem Ansatz ist die Möglichkeit einer Verbindung zu spezifischen Ansätzen und Behandlungen.

These 1: Delinquenz kann im allgemeinsten Sinn psychopathologisch klassifiziert werden, weil delinquente Jugendliche hohe Prävalenzraten für psychische Störungen aufweisen.


Delinquente können auf der Basis der zugrundeliegenden Psychopathologie klassifiziert werden und dadurch unter die Perspektive der Seelischen Gesundheit gestellt werden, zumal verschiedene methodisch angemessene Studien die außerordentlich hohen Raten und zahlreichen Formen psychischer Störungen nachgewiesen haben (Cocozza et al. 2005; Steiner et al. 2003a; Teplin et al. 2002; Vermeiren et al. 2000; Wasserman et al. 2003). Die Forschung hat zunehmend den Beweis erbracht, dass viele psychische Störungen neurobiologische und genetische Wurzeln haben. Während diese nicht notwendigerweise direkte ursächliche Pfade in Richtung Delinquenz darstellen, können sie jedoch ein Bündel von Umständen darstellen, welche die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltensweisen und Kognitionen erhöhen, welche Jugendliche für delinquentes Verhalten anfällig werden lassen. Die Berücksichtigung einer psychopathologischen Perspektive in der Rehabilitation und Behandlung von Delinquenten impliziert den Einsatz effektiver Interventionen einschließlich Psychotherapie, Psychopharmakologie und Soziotherapie, um die spezifischen Prozesse und Symptome anzugehen. Diese These ermöglicht auch die direkte Untersuchung des gegenwärtigen Systems der strafenden Intervention bei prä-delinquenten und delinquenten Populationen und ermöglicht eine Erklärung dafür, warum die gegenwärtigen Straf- und Behandlungseinsätze bei diesen Individuen oft versagen.

Abb. 1.2: Delinquenz durch die Linse der Psychopathologie

Ergebnisse der California Youth Authority Survey (Steiner et al. 2001) erbrachten Prävalenzraten von mehr als 90 % für externalisierende Störungen (wie z. B. disruptive Verhaltensauffälligkeiten und Substanzmissbrauchsstörungen) in Anstalten sowohl für männliche als auch weibliche Jugendliche. In derselben Studie wurde gefunden, dass weibliche Jugendliche (64 %) zweimal so häufig internalisierende Störungen wie männliche Jungendliche (29 %) mit Depression und Angst als Hauptdiagnosen hatten. Ferner waren komorbide Störungen sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Jugendlichen mit mehr als 80 % die Norm, wobei drei oder mehr psychische Störungen vorlagen (vgl. Abb. 1.3). Schaut man sich diese Befunde genauer an, so sind zwei unterschiedliche Subtypen der delinquenten Persönlichkeiten zu beobachten. Wenn man die Anzahl der Diagnosen mit psychologischen Messverfahren für Belastung und Selbstbeherrschung vergleicht, wird eine bedeutsame Beziehung zwischen Komorbidität und dem Ausmaß des Leidens deutlich. Möglicherweise noch interessanter ist der Befund, dass Delinquente mit einem Verhaltensmuster hoher Selbstbeherrschung signifikant niedrigere Raten für eine Wiederinhaftierung haben als Individuen mit niedriger Selbstbeherrschung (vgl. Abb. 1.4). Funktional sind Individuen mit niedriger Selbstbeherrschung weniger in der Lage, ihre aggressiveren und impulsiven Tendenzen zu kontrollieren und einzudämmen und sind damit eher in der Gefahr, kriminelle Handlungen zu begehen, welche sie erneut in das Strafvollzugssystem für Jugendliche bringen. Hingegen haben Individuen mit hoher Selbstbeherrschung ein größeres Ausmaß der Selbstregulation und Selbstkontrolle und haben damit eine geringere Wahrscheinlichkeit, erneut inhaftiert zu werden. Die Anerkennung dieser Unterschiede beleuchtet die Notwendigkeit, unterschiedliche Ansätze zur Behandlung dieser zwei verschiedenen delinquenten Subpopulationen zu entwickeln.

Abb. 1.3: Anzahl komorbider Diagnosen (in Prozent)

Abb. 1.4: Wiederholte Gefängnisstrafen auf der Basis der Selbstbeherrschung

Abbildung 1.4 ist eine vereinfachte Darstellung einer 1999 veröffentlichten Arbeit, in der wir zeigten, dass die Rückfallraten von inhaftierten Delinquenten als eine Funktion ihrer Selbstbeherrschung dargestellt werden kann. Wenn wir die Stichprobe in Delinquente mit hoher und niedriger Selbstbeherrschung einteilen, dann ergeben sich signifikante Unterschiede in den Inhaftierungsraten in den nächsten 4,5 Jahren (Steiner, Cauffman und Duxbury 1999). Auf der anderen Seite haben wir auch gezeigt, dass die Anzahl der vorhandenen Diagnosen, also die Extensivität der Psychopathologie negativ mit der Selbstbeherrschung korreliert: je höher die Anzahl der erfassten Diagnosen ist, desto niedriger ist der Wert der Selbstbeherrschung (Steiner et al. 2001).

Abb. 1.5: Das Sonnen-System-Modell für die Beziehungen zwischen dem Justiz-System und Seelischer Gesundheit

Der Blick durch die Linsen der Psychopathologie auf die Delinquenz führt zu einer sehr unterschiedlichen Betrachtung des Justizsystems und seiner Beziehungen zur seelischen Gesundheit im Kindesalter. Im Versorgungsmodell der Gegenwart gibt es nur disparate und kleine Schritte, welche außerhalb und gelegentlich im geringen Umfang auch innerhalb des Justizsystems für Jugendliche umgesetzt werden. Dieser Ansatz kann in Analogie zum Sonnensystem mit dem Justizsystem für Jugendliche im Zentrum und Fragmenten oder Planeten der seelischen Gesundheitsfürsorge im Umkreis des Systems dargestellt werden (vgl. Abb. 1.5).

Um diese Struktur zu ersetzen, schlagen wir einen Wechsel in der Betrachtung des Justizsystems für Jugendliche vor. Wir plädieren für eine Sicht, die eine herausragende Rolle für die ätiologischen Wurzeln der Aggression betont und sich von kriminologischen Kriterien entfernt. Eine derartige Perspektive würde sich von Typologien wie Diebstahl, Schwänzen und Körperverletzung entfernen und sich stattdessen um ein Verständnis für die treibenden Kräfte hinter...

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