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Jugendkultur in Stendal: 1950-1990

Szenen aus der DDR - Porträts und Reflexionen

AutorGünter Mey
VerlagHirnkost
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783947380091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Auch in der DDR gab es 'Halbstarke', wurden in den 1960er Jahren die Haare länger und die Kleidung bunter, artikulierten sich vor allem unter Jugendlichen Sehnsüchte nach einer anderen und friedvollen Welt. Das Peace-Emblem wurde zum Markenzeichen der Blueser, Punks sprengten die ästhetischen Vorstellungen durch ihre Inszenierung der Hässlichkeit, schließlich eroberte auch der Heavy Metal große Teile der Jugend. Und das nicht nur in Berlin, Dresden oder Leipzig, sondern auch in der Provinz. In diesem Band erzählen heute 45-80-Jährige die Geschichte ihrer Jugendkultur im Stendal der 1950er bis 1980er Jahre. Die Beiträge von Anne Hahn, Wiebke Janssen, Michael Rauhut, Sven Werner und Wolf-Georg Zaddach rahmen die in den Porträts erzählten Geschichten und kontextualisieren - im doppelten Wortsinne - einzelne der beschriebenen Szenen und zeichnen so die Geschichte der DDR-Jugendkultur und ihrer staatlichen Verfolgung nach. Das Buch wurde anlässlich der im Altmärkischen Museum präsentierten Ausstellung Jugendkultur in Stendal: 1950-1990 konzipiert und dokumentiert die Ergebnisse des gleichnamigen zweijährigen Forschungsprojekts an der Hochschule Magdeburg-Stendal.

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Leseprobe

Günter Mey

szenen aus der ddr – einblicke in jugendkulturelle bewegungen


Das vorliegende Buch wurde als Begleitband für die Ausstellung Jugendkultur in Stendal: 1950–1990 konzipiert. Die im Altmärkischen Museum gezeigte Präsentation geht wiederum auf Ergebnisse der gleichnamigen Studie zurück, in der ab Frühjahr 2015 mehr als 30 Interviews mit heute 45–80-Jährigen zu ihrer Jugendzeit in einer DDR-Kleinstadt geführt wurden. Daraus hervorgegangen sind rekonstruierte Fallvignetten. Die zehn in diesem Band abgedruckten Porträts sollen einen lebendigen Eindruck über die jugendkulturellen Praxen in einer DDR-Provinz geben. Die im Schlussteil aufgenommenen Beiträge zu „Jugendkultur in der DDR“ rahmen die in den Porträts erzählten Geschichten und kontextualisieren – im doppelten Wortsinne – einzelne der beschriebenen Szenen.

Dass allerdings ein schmaler Band zu Jugendkultur in Stendal: 1950–1990 – und damit eine Rückschau auf vier DDR-Jahrzehnte jugendkultureller Praxis – nur Schlaglichter liefern und keine allumfassende Abhandlung sein kann, wird recht schnell ersichtlich: Denn es gab so wenig „die“ DDR wie es „die“ Jugend oder „die“ Jugendforschung gibt (Mey 2011).

„die“ ddr gibt es nicht – und es gab sie doch!


Zwar gibt es „die“ DDR als Antagonisten zu „der“ BRD, aber wenn von „der“ DDR gesprochen wird, ist zu beachten, dass es „die“ DDR ohne und mit Mauer gegeben hat und damit sehr verschieden geregelte Zugänge zur Westwarenwelt und unterschiedlich weite/begrenzte Mobilitätsgrade.

Dann gab es „die“ DDR unter dem Staatsratsvorsitz von Walter Ulbricht, der 1965 beim XI. Plenum des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) die „Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt“ beklagte und forderte, dass „man doch Schluss machen“ sollte damit, „dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nur kopieren müssen“; kurze Zeit da­rauf wurden Gruppen der Singebewegung installiert, wie etwa der Oktoberklub mit seinem „Agitationssong“: „Sag mir wo du stehst“.

Dann gab es „die“ DDR unter Erich Honecker, der sich im Lichte der 1973 ausgerichteten Weltfestspiele als weltoffen auch für internationale Musikstile inszenierte.1

Weltfestspiele 1973 in Ostberlin; Privataufnahme Heidrun Senf

Allerdings ist bei seiner Regentschaft wiederum zu unterscheiden zwischen „der“ DDR vor und nach der Ausweisung von Wolf Biermann und einer damit einhergehenden tiefen Zäsur in der kritischen Kunstszene, die allerdings schon davor einsetzte, u. a. mit dem Verbot der Combo Renft.

Schließlich existierte „die“ DDR als sozialistischer Bruderstaat von KPDSU-Chef Breschnew – zuvor Chruschtschow und Stalin – oder Gorbatschow, der über Glasnost und Perestroika Demokratisierungsprozesse einleitete. Zum Ende der 1980er gastierte in der DDR fast alles, was Rang und Namen in der Rock- und Popwelt hatte, allen voran Bruce Springsteen, der zu Hunderttausenden „GDR“-Fans sein „Born in the U.S.A.“ intonierte. Der Film Mein Sommer 88 – Wie die Stars die DDR rockten von Carsten Fiebeler und Daniel Remsperger erzählt diese musikalische Blütezeit vor dem Hintergrund des untergehenden Staates.

Und „die“ DDR war nicht nur Ostberlin, also die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, mit den Stadtteilen Hohenschönhausen als Hochburg der Parteigenossen und Stasi-Getreuen oder dem Prenzlauer Berg mit seinen subversiven Künstlerinnen und Künstlern. „Die“ DDR waren auch Dresden (gern als das „Tal der Ahnungslosen“ aufgrund eingeschränkten Empfangs von Westsendern betitelt) sowie die international renommierte Messestadt Leipzig. Und es gab noch viele andere Städte und noch mehr Provinzen, die fernab der Hauptstadt ganz real existierten – wie etwa Stendal als Zentrum der Altmark im heutigen Sachsen-Anhalt.

1: Plattencover u. a. Joe Cocker, Scorpions, Udo Lindenberg, Karat (Michael Philipp); fotografiert von Luisa Simon

2: Motorisierte Jugendliche; Privataufnahme Sabine Lange, 1970

3: Jugendliche in der Straße der Freiheit (heute: Schadewachten); Privataufnahme Dr. Rolf Gierke

4: Plattencover Rolling Stones, Beatles (Helmut Billy Groth); fotografiert von Luisa Simon

„die“ jugend ist immer anders


Genauso gibt es zwar „die“ (Rede von der) Jugendkultur als eine Absatzfolie von der Erwachsenenwelt mit ihrer je eigenen Logik von Anderssein und Aufbegehren (Mey 2018). Doch für jede Zeit sind ganz verschiedene jugendkulturelle Strömungen zu identifizieren, die scheinbar zumindest auf den ersten Blick für „die“ markanten Kollektiv-Identitäten der jeweiligen Jahrzehnte stehen (Mey & Dietrich 2019). Seien es die in den 1950er Jahren mit dem aufkommenden Rock’n’Roll als „Halbstarke“ bezeichneten Jugendlichen (dazu Janssen 2010 und in diesem Band). Die „Halbstarken“ wurden aber nicht nur wegen ihres besonderen Kleidungs- und Haarstils als neue „sichtbare“ Modeerscheinung wahrgenommen, sondern auch als „Jugendliche stören die Ordnung“ (Bondy et al. 1957), da sie sich mit Mopeds motorisierten und an Straßenecken versammelten: das sogenannte hanging around ganz im Stile der street corner society (Whyte 1996 [1943]).

Diese Kultur überstrahlte allerdings andere zeitgleich relevante Szenen, wie jene der Existenzialisten mit Vorliebe für Jazz und Literatur, die wiederum als moderne Spielart der „Swing Kids“ zu sehen sind, die bereits im nationalsozialistischen Deutschland gegen die herrschende Klasse subversiv agierten (Ueberall 2015).

In den 1960ern entstanden dann mit Beat- und Rockmusik zwei Genres, die mit den britischen Bands Beatles und Rolling Stones zwei Inkarnationen aufwiesen, die die Elterngeneration wie die Politkaste irritierten.

Der musikalische Siegeszug der Stones und Beatles sowie Joe Cockers, der Doors, Jimi Hendrix’ und Janis Joplins u. v. a. führte, begleitet von Festivals, nicht nur zur Flower-Power-Bewegung und zum Hippietum – in der DDR in Form der „Blueser“ (Rauhut & Kochan 2009 sowie die Beiträge von Rauhut und Werner in diesem Band) –, sondern politisierte eine ganze Generation.

Es wurden nicht nur die Haare länger, die Kleidung bunter, sondern neue Existenzformen und vor allem artikulierte Sehnsüchte nach einer anderen und friedvollen Welt brachen ihren Bann: Das Peace-Emblem wurde zum Markenzeichen.

Parallel entstand eine Art Protestkultur und kritische Liedermacher gehörten von nun an ebenso zum Repertoire wie Folk- und Bluesmusik von Bob Dylan und Joan Baez oder psychedelische Musik von Pink Floyd.

In den späten 1970er Jahren sprengten dann die Punks die ästhetischen Vorstellungen durch eine Inszenierung der Hässlichkeit (Hahn in diesem Band). Sie verdüsterten das sonst die 1970er Jahre prägende grell-bunte Outfit und erschütterten die Klangskulpturen des Bombast-Rock à la Yes oder Emerson, Lake & Palmer.

Die 1980er Jahre dann wiesen ein Nebeneinander verschiedener Stile auf, wie etwa die aus Punk hervorgehenden Spielarten Gothic oder New Wave mit Depeche Mode und The Cure.

Ebenso entwickelten sich aus dem Hardrock à la Deep Purple weitere Stile wie Heavy oder Thrash Metal (Zaddach in diesem Band) mit Bands wie AC/DC, Van Halen oder Metallica.

Auch die aus den amerikanischen Ghettos aufsteigenden Sprechgesänge des Hip-Hop und Breakdance als neuer Tanzstil drängten ins Blickfeld.

1: Beschriftetes Regenbogenhemd Weltfestspiele, 1973 (Heidrun Senf); fotografiert von Luisa Simon

2: Konzerttour, 1986; Privataufnahme Susann Junghans

3: Selbstgenähte Tasche aus einer Jeanshose (Susann Junghans); fotografiert von Luisa Simon

4: Plattencover: Joan Baez, Beatles, Bob Dylan und Status Quo (Helmut Billy Groth); fotografiert von Luisa Simon

Dass eine „Geschichte der Jugend“ ganz anders als eine „Geschichte der Jugendkulturen“ zu schreiben wäre, versteht sich von selbst. Denn Jugendkulturen (z. T. auch als Jugendsubkultur oder Gegenkultur bezeichnet) stehen immer nur für einen Teil der jeweiligen Generation, der die jeweilige Zeit und die jeweilige Kohorte repräsentiert, gleich einem Halo-Effekt, bei dem eine auffällige Eigenschaft oder ein ausgeprägtes Merkmal auf andere ausstrahlt (Mey 2015). Angenommen wird aber, dass eben dieser Teil (oft heißt es, dass nur ein Fünftel einer Generation eine hohe Affinität zur Jugendkultur aufweist) das expressiv artikuliert, was die Themen eben dieser Generation sind.

1: Plattencover Jimi...

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