IN KONTAKT KOMMEN: GEGENSEITIGES KENNENLERNEN, ALLTÄGLICHER UMGANG
(Foto: Mader)
Im neuen Heim beginnt für Ihr Jungpferd ein extrem spannender, neuer Lebensabschnitt. Haben Sie sich für ein Fohlen entschieden, ist es zum ersten Mal weg von zu Hause, seiner Mutter und seinen gewohnten Lebensumständen. Mit dem Absetzen und dem Transport zum Aufzüchter ist für das Pferdekind ganz sicher erst mal die Welt eingestürzt. Aber auch ein etwas älteres Pferd, das vielleicht sogar schon durch mehrere Hände gegangen ist, hat oft einen langen Transport hinter sich und muss, genau wie das Fohlen, zunächst ankommen in seiner neuen Umgebung, seiner neuen Pferdeherde und bei seiner menschlichen Bezugsperson.
Je nach Haltungsform kann das ganz schön viel auf einmal sein. Stellen Sie sich einmal den normalen Tagesablauf und Wochenrhythmus Ihres Pferdes vor. Lebt es extensiv in Weidehaltung, also ausschließlich in der Herde auf großen Weiden? Dann hat es wahrscheinlich wenig Menschenkontakt und kann in Ruhe seine Herdenkollegen kennenlernen. Ab und an kommt der Traktor vorbei, bringt Heuballen und ein Wasserfass, ein Mensch kontrolliert den Gesundheitszustand (was je nach Philosophie von Über-die-Herde-“Drübergucken“ bis zu Einzeln-Anfassen variieren kann), vielleicht springen ein paar Hunde herum. Den Rest des Tages hat das Pferd Zeit, sich einzuleben.
Kommt es dagegen in einen aktiven Reitstall, zum Beispiel in die Jungpferde-Aufzuchtgruppe eines Reiterhofs oder bereits in eine gemischtaltrige Herde mit Reitpferden, dann herrscht mehr Trubel: Autos fahren an und ab, Kinder machen vielleicht Lärm, andere Pferde werden aus der Herde herausgeholt und zwei Stunden später wieder-gebracht. Vielleicht laufen verschiedene Menschen zwischen den Herdenmitgliedern herum. Zudem gibt es neue Abläufe, die das Pferd erst kennenlernen muss. Wo und wie wird gefüttert? Wie wird das Heu vorgelegt, in welcher Reihenfolge gibt es Kraftfutter?
Pferde sind sprichwörtliche Gewohnheitstiere. Was ihnen das Heimischwerden im neuen Umfeld erleichtert, ist allem voran ein regelmäßiger, für sie vorhersehbarer Tagesablauf. Bis sie sich an diesen gewöhnt haben, vergehen mehrere Tage und Wochen. Bis aus einer zusammengestellten Pferdegruppe eine echte „familienartige“ Herde wird, braucht es Monate.
Allein damit wird das Pferd also vorerst beschäftigt sein, Langeweile kommt in den ersten Wochen sicher nicht auf. Erfahrungsgemäß schätzen motivierte, frischgebackene Pferdebesitzer diese Phase häufig falsch ein.
Durch stressfreies Zusammensein, Kraulen, Beobachten und Miteinander-„Plaudern“ lernen Mensch und Pferd sich kennen. (Foto: Mader)
Deswegen empfehle ich Ihnen, immer mal wieder die Übung zu machen, sich in Ihrem Tagesverlauf vorzustellen, was Ihr Pferd wohl gerade erlebt, und nicht nur über die wenigen Stunden nachzudenken, die Sie „live vor Ort“ sind.
Gemeinsam Zeit verbringen, Anfassen
Sie tun sich und Ihrem Pferd einen großen Gefallen, wenn Sie bei Ihren ersten Besuchen erwartungsfrei „einfach da“ sind. Setzen Sie sich auf oder neben die Weide/den Auslauf und beobachten Sie Ihr Pferd beim Fressen und Spielen. Welche anderen Pferde sind seine Freunde, mit wem hat es Stress? Wie fühlt es sich?
Allein durch diese unaufdringliche Anwesenheit werden Sie (temporär) Teil der Herde. Irgendwann werden die Tiere sicher neugierig und kommen heran. Um in Kontakt zu kommen, können Sie ein Liedchen trällern und auf dem Auslauf herumwandern – spätestens dann kommen unverdorbene Pferde sicherlich zu Ihnen. Wenn Ihr Pferd Kontakt sucht, streicheln Sie es. Fassen Sie es an, wenn und solange es sich anfassen lässt, aber bedrängen Sie es nicht. Reden Sie mit ihm, plaudern Sie einfach. Je nach Stallgebräuchen reichen Sie ihm eventuell auch sein Mineralfutter.
Der erste Schritt zu einer vertrauensvollen Partnerschaft ist, dass sich Ihr Pferd in Ihrer Gesellschaft wohlfühlt. Stellen Sie sich als freundlichen Zeitgenossen vor, nicht als Stressfaktor, der sofort etwas verlangt oder einschränkt.
Was das Pferd als Stress erlebt, hängt von seinem Alter und seinem Ausbildungsstand ab. Ein rohes Pferd würde ich ausschließlich auf seiner Weide besuchen, ohne aktiv irgendetwas zu tun. Selbst wenn es sich um ein älteres Pferd handelt, das schon halfterführig und den Umgang mit Menschen gewohnt ist, würde ich es in den ersten Tagen nicht aus der Herde herausnehmen und es innerhalb der Herde keinesfalls festhalten oder gar nötigen, die Hufe zu heben.
Wenn Sie merken, dass Ihr Pferd Ihre Anwesenheit genießt und bei mehrmaligen Besuchen sofort zu Ihnen kommt, zunehmend länger bei Ihnen bleibt, gern gekrault wird und sich wohlfühlt, können (nicht müssen!) Sie mit der Ausbildung beginnen.
Was „müssen“ wir „arbeiten“?
Wird Ihr Pferd artgerecht, das heißt mit genügend freier Bewegungsmöglichkeit, in der Herde gehalten, dann müssen Sie überhaupt nicht aktiv mit dem ein- bis dreijährigen Jungpferd „arbeiten“. Es wächst, es entwickelt sich, es wird durch seine Herdenmitglieder und Lebensumstände sozialisiert. Damit ist ein Pferdekind körperlich und geistig gut beschäftigt. In einer größeren Gruppe auf abwechslungsreichen Weidegründen braucht Ihr Pferd keinerlei weitere Bespaßung durch den Menschen. Sie können, wenn Sie möchten, den noch zusätzlich sinnvolle Übungen mit Ihrem Pferd machen, sobald es sich im neuen Zuhause eingewöhnt hat. Lassen Sie sich aber nicht unter Druck setzen von vermeintlichen Vorgaben dazu, in exakt welchem Alter welche Übungen angeblich sitzen müssen. Sicherlich gibt es Dinge, die in Notsituationen praktisch sind, und sicherheitsrelevante Verhaltensweisen. Aber abhängig von den Lebensumständen und den individuellen Voraussetzungen bei Ihnen und Ihrem Pferd können die für Sie persönlich wichtigen Dinge stark differieren. Je nach Lernumfeld sind manche Dinge im Aufzuchtstall auch noch gar nicht wirklich umsetzbar und müssen deswegen aufgeschoben werden, bis das Pferd mit drei bis vier Jahren in einen Reitstall mit besseren Trainingsmöglichkeiten umgestellt wird. Weil zudem Übungshäufigkeit und Lerngeschwindigkeit individuell sind, werden die folgenden Übungen in diesem Kapitel altersunabhängig beschrieben. Wichtig ist nur, dass sie alle sitzen, bevor Sie ans Anreiten denken – egal, wie viele Jahre Sie dafür brauchen.
Aufhalftern, Führen, Stall und Weide verlassen
Wenn Ihr Jungpferd Sie als freundlichen, zunächst passiven Besucher stressfrei kennengelernt hat, freiwillig zu Ihnen kommt und sich in Ihrer Anwesenheit wohlfühlt, lässt es sich auch anfassen. Bei Pferden, die mit engem Kontakt zu Menschen aufgewachsen sind, ergibt sich das völlig von selbst: Kraulen Sie Ihr Pferd, wenn es herankommt, mit völlig natürlichen, ruhigen Bewegungen überall dort, wo Sie ohne Aufwand hinkommen. Meist sind das die Schultern, der Hals und der Rücken und je nach Zutrauen auch schon der Kopf und die Flanken. Stammt Ihr Jungpferd aus „wilder“ Aufzucht ohne viel Menschenkontakt, kann es misstrauischer sein. Nähern Sie Ihren kraulenden Arm immer langsam und von schräg-vorn seinem Schulterblatt. Erst wenn es diese Berührung entspannt duldet oder besser genießt, lassen Sie die kraulende Hand Richtung Hals wandern. Machen Sie das von beiden Seiten und an mehreren Tagen. Da junge Pferde nie lange still stehen bleiben, wird es sich ergeben, dass Ihre kraulende Hand auch mal an andere Körperstellen wie den Rücken oder den Kopf rutscht. So gehen Sie vor, bis Sie irgendwann das gesamte Pferd berühren können.
Das junge Pferd senkt vertrauensvoll den Kopf zum Aufhalftern. (Foto: Mader)
Freiwilliges Zusammensein
Pferde sind Fluchttiere und fühlen sich instinktiv wohl, wenn die Möglichkeit zur Flucht besteht. Daher sollte das Pferd mit seinem neuen Menschen und später mit neuen Ausrüstungsgegenständen in einer weitläufigen Umgebung vertraut gemacht werden, in der es flüchten könnte.
Bedrängen Sie Ihr Pferd nicht, drücken Sie es zum zwangsweisen Anfassen oder Aufhalftern nicht in eine Stallecke oder vor einen Zaun und ringen Sie es keinesfalls körperlich nieder.
Geben Sie ihm Zeit, Sie und das Halfter in aller Ruhe zu beäugen (manche Pferde tun das eine ganze Weile lang in großem Abstand, bevor sie herankommen) und dann freiwillig Kontakt aufzunehmen. Das wird Ihnen langfristiges Vertrauen sichern. Und Zeit ist ja gerade das, was Sie von kommerziellen Jungpferdeaufzüchtern unterscheidet. Ersparen Sie Ihrem Pferd ein womöglich traumatisches Eingefangenwerden. Das Zusammensein mit Ihnen soll ihm entspannte Freude bereiten, sodass es gern wiederkommt. Gestalten Sie Ihre gemeinsame Zeit nie so, dass das Pferd nur darauf wartet, endlich von Ihnen wegzukommen.
GEWÖHNUNG AN DAS HALFTER
Wenn Ihr Pferd Ihnen so weit vertraut, dass Sie es in aller Ruhe am Kopf anfassen und ihm die Ohren kraulen können, können Sie im nächsten Schritt auch ganz unspektakulär das Halfter anlegen. Wenn Ihr Pferd...