Einleitung
Mit Glockenläuten und Dankgottesdiensten haben die beiden großen Kirchen die Verkündigung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. In einer gemeinsamen Kanzelabkündigung riefen der Rat der EKD und die Katholische Bischofskonferenz die Gläubigen dazu auf, für »die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes einzutreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht.« Die Demokratie stelle die Menschenwürde an die erste Stelle und eröffne »Freiheits- und Handlungsspielorte, die gewahrt und genutzt werden müssen.« Auch für die Kirchen ergebe sich daraus eine große Verantwortung: »Christinnen und Christen sind dazu von ihrem Glauben her besonders aufgerufen und befähigt.«
Evangelischer Pressedienst, 23. Mai 1949
Stopp! Natürlich ist diese »Agenturmeldung« ein Fake. Als das Grundgesetz 1949 verkündet wurde, läuteten keine Glocken und statt Dankgottesdiensten gab es wütende Proteste der katholischen Kirche und verächtliche Reaktionen von evangelischen Kirchenführern. Die Proteste richteten sich gegen die religionsneutrale Ausrichtung der Verfassung, die Verachtung traf das Wagnis der Demokratie als Ganzes. Führende Protestanten fremdelten noch viele Jahre mit einer Staatsform, die auf den mündigen Bürger und nicht mehr auf eine gottgegebene Obrigkeit setzte. Der Ratsvorsitzende der EKD, Otto Dibelius, trauerte noch 1959 der Monarchie nach und machte aus seiner Distanz zur Demokratie keinen Hehl.
Trotzdem stimmen auch die Zitate in der Fake-Meldung. Sie stammen allerdings nicht aus dem Gründungsjahr der Bundesrepublik, sondern aus dem Jahre 2006: Man findet sie im gemeinsamen Wort »Demokratie braucht Tugenden«, das die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz veröffentlicht haben. Solange hat es gedauert, bis die Kirchen auch offiziell ihre Zurückhaltung gegenüber der freiheitlichen Demokratie aufgegeben haben. Selbst die zwanzig Jahre jüngere Denkschrift der EKD ist mit Rücksicht auf die Kirchen in der DDR noch so professoral-distanziert formuliert, dass sie nur mit gutem Willen als Aufruf zur demokratischen Teilhabe gelesen werden kann.
Immerhin: Schon bevor der Protestantismus in der Demokratie offiziell ankam, waren Protestanten als zivilgesellschaftliche Akteure nicht mehr wegzudenken. Das gilt für Debatten bei Kirchentagen und in den Akademien, für die Mitwirkung in Umwelt- und Friedensbewegung sowie für das ehrenamtliche Engagement in vielen Gemeinden. Und wo immer es heute Proteste gegen rechtsextreme Aufmärsche gibt, sind meist auch Pfarrer, Gemeindemitglieder und mitunter Kirchenführer dabei.
In einer Zeit, in der die freiheitliche Demokratie von innen und außen unter Beschuss steht, ist das die gute Nachricht: Die evangelische Kirche hat in erstaunlich kurzer Zeit das jahrhundertealte autoritäre Erbe einer obrigkeitsfixierten Staatstheologie hinter sich gelassen. Die schlechte Nachricht: Zu viele in den 14.000 protestantischen Kirchengemeinden nehmen diese rasante historische Lernkurve inzwischen schon wieder für selbstverständlich. Der Protestantismus hat sich eingerichtet in der Komfortzone der Demokratie.
Genau hier setzt dieses Buch an. Die Demokratie erlebt einen beispiellosen Stresstest. Weltweit leben nur noch 350 Millionen Menschen in Ländern, die der Demokratieindex des Economist im Jahr 2018 als »vollständige Demokratien« einstuft. Das sind gerade einmal 5 Prozent der Weltbevölkerung. Die Runde der G20-Führer wird längst von Autokraten und Nationalisten dominiert. Zu den üblichen Verdächtigen aus Moskau, Peking, New-Delhi und Ankara ist mit Donald Trump ein nihilistischer Zerstörer getreten und zuletzt mit Jair Bolsonaro auch in Brasilien ein Hassprediger und Verächter von Menschenrechten. In der EU attackiert die Ideologie von der »illiberalen Demokratie« das Wertefundament der Europäischen Union. Dieser Angriff hat bereits das humanitäre Profil der EU in der Flüchtlingspolitik zerstört.
Und im eigenen Land? Da ist man inzwischen fast schon erleichtert, wenn sich die schlimmsten Prognosen nicht bestätigen und die AfD bei der Landtagswahl in Hessen »nur« 13,1 Prozent bekommt. So schnell funktioniert die Gewöhnung an die Tatsache, dass eine völkisch-nationalistische Partei im Jahr 2019 im Bundestag und allen 16 Landtagen vertreten ist. Der Raum des politisch Hingenommenen hat sich dramatisch nach rechts verschoben und umfasst eine gefährliche Akzeptanz für autoritäres, illiberales und menschenfeindliches Denken.
Neu ist ein solches Denken allerdings nicht. Empirische Untersuchungen belegen, dass Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, die Sehnsucht nach dem Autoritären und der Wunsch, einen Schlussstrich unter die dunklen Seiten der Geschichte zu ziehen, schon seit vielen Jahren bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Mit Bewegungen wie Pegida, dem Einzug der AfD in die Parlamente und den Möglichkeiten der digitalen Medien haben sie aber heute einen qualitativ neuen öffentlichen Resonanzraum gefunden. In einigen Regionen Deutschlands haben diese Kräfte längst die kulturelle Hegemonie übernommen. Politiker, die das Gespräch mit »besorgten Bürgern« suchen, geben sich dort bereits mit dem Minimalkonsens zufrieden, dass das Zeigen des Hitlergrußes bei Demonstrationen nicht o.k. sei.
Die Annahme, Christen seien immun gegen Nationalismus und Menschenfeindlichkeit, erweist sich dabei als gefährliche Selbsttäuschung. Es stimmt zwar, dass der Anteil der AfD-Wähler unter aktiven Gemeindemitgliedern unter dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt. Es stimmt aber auch, dass Donald Trump seine Wahl nahezu ausschließlich weißen Protestanten in den USA verdankt – und das nicht nur unter den Evangelikalen, sondern auch unter den »Mainline Protestants«, deren Kirchenleitungen die Politik des Präsidenten entschieden ablehnen. Auch zu Europa gibt es Zahlen, die beunruhigen: Im Sommer 2018 veröffentlichte das US-amerikanische Pew Research Center die Studie »Being Christian in Western Europe«, die auch die Religiosität in Deutschland untersucht. Die Studie kommt zu dem alarmierenden Ergebnis, dass aktive Kirchgänger in fast allen der 15 untersuchten Länder eine überdurchschnittliche Affinität zu autoritären Einstellungen, Nationalismus und Ressentiments gegenüber Minderheiten und Migranten zeigen.
Wer den öffentlichen Raum für die freiheitliche Demokratie zurückerobern will, wird das nicht geschenkt bekommen. In den großen Städten mag es leichter sein, die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Die große Demonstration »#unteilbar« hat das im Oktober 2017 eindrucksvoll in Berlin gezeigt. Aber der Slogan »Wir sind mehr« gilt längst nicht für alle Regionen des Landes.
Und hier kommen die großen Kirchen ins Spiel. An klaren Worten von Bischöfen und Kirchenleitungen fehlt es heute nicht. Und auch nicht an vielen Beispielen engagierter Basisarbeit in Gemeinden und Kirchenkreisen. Die Kirchentage der letzten Jahre waren allesamt »Festivals des Ehrenamtes« und haben demonstriert, welche Potenziale in den evangelischen Gemeinden lebendig sind. All diese Beispiele zeigen, was möglich ist. Aber sie verstellen auch den Blick darauf, dass diese Potenziale bei weitem nicht abgerufen werden und es immer noch eine Minderheit ist, die sich gesellschaftlich und politisch engagiert. Mehr noch: Die Klarheit mancher Kirchenführer und die vielen guten Beispiele an der Basis scheinen anderen Gemeinden das beruhigende Gefühl zu geben, auf der richtigen Seite zu stehen, ohne selbst aktiv werden zu müssen. Auf eine paradoxe Weise entfaltet das stellvertretende Engagement an der Spitze der Kirche geradezu eine sedierende Wirkung – als sei bereits alles gesagt, wenn’s der Herr Bischof gesagt hat.
So bleibt das Bild widersprüchlich: Es war großartig, wie sich die evangelische Kirche Ende 2017 in Görlitz an die Seite der Beschäftigten stellte, als der Siemenskonzern dort das Turbinenwerk dicht machen wollte. Fast gleichzeitig bekamen Kirchengemeinden im südniedersächsischen Uslar und im bayerischen Deggendorf es gar nicht mit, dass auch dort viele Familien um ihre Existenz kämpften, als die größten Arbeitgeber am Ort hunderte Jobs abbauen wollten.
Die stärkste Ressource der Kirchen ist ihre Verwurzelung in der Fläche und ihre Präsenz in jedem Ort und jedem Stadtteil. Das Beispiel der USA zeigt, dass die Demokratie eben nicht nur in den Metropolen, sondern vor allem auch in den vielen kleinen Städten und Gemeinden verteidigt und gestärkt werden muss. Denn Donald Trump wurde nicht in New York, Chicago oder San Francisco gewählt, sondern in abgelegenen Orten in Wisconsin, Pennsylvania oder New Mexico.
Für die Verteidigung der Demokratie braucht es heute deshalb jede einzelne der 14.000 evangelischen und 11.000 katholischen Gemeinden in Deutschland – und das gerade in den abgehängten Regionen und Stadtteilen. Wenn ich mich in diesem Buch vor allem auf den Protestantismus konzentriere, dann aus zwei Gründen: Zum einen kenne ich das Innenleben der katholischen Kirche nicht gut genug, um ihr mit der nötigen Meinungsfreudigkeit begegnen zu können. Vor allem aber möchte ich keine Kritik von außen üben. Ich ärgere mich über die blinden Flecken und Versäumnisse der evangelischen Kirche, weil es meine Kirche ist – weil ich in ihr groß geworden bin und ich mich in ihr zuhause fühle. Ich fühle mich mitverantwortlich für ihr Gelingen, ebenso wie ich mich in Mithaftung sehe für eine Jahrhunderte währende Geschichte des Versagens im Eintreten für Demokratie und Menschenrechte.
Ein Versagen, das die unselige Verbindung von Thron und Altar im landesherrlichen...