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Kapitalismus und politische Moral in der Zwischenkriegszeit oder: Wer war Julius Barmat?

AutorMartin H. Geyer
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783868549362
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Der Aufstieg und Fall des jüdischen Unternehmers Julius Barmat in der Zwischenkriegszeit steht exemplarisch für die andauernden Debatten über Kapitalismus, Moral und Demokratie. Das Buch regt dazu an, den politischen Radikalismus neu zu überdenken und sich mit der heutigen Praxis des Kapitalismus und der Kapitalismuskritik auseinanderzusetzen. Wer war dieser Julius Barmat, der am Silvestertag 1924 im noblen Schwanenwerder bei Berlin verhaftet wurde? Ein begnadeter Unternehmer, der während der englischen Blockade maßgeblich zur Lebensmittelversorgung in Deutschland beitrug, dessen Industriekonzern aber im Zuge der Währungsstabilisierung scheiterte? Oder ein betrügerischer, korrupter, 'ostjüdischer' Kriegs- und Inflationsgewinnler? War er ein Agent des Kaiserreichs oder ein opportunistischer Sozialdemokrat und Förderer der Zweiten Internationale? Die Verhaftung dieses Mannes löste einen der brisantesten deutschen Finanzskandale aus, der nicht nur die Justizbehörden, die Medien und Radikale beschäftigte, sondern auch Literaten und Theaterregisseure.

Martin H. Geyer ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsthemen sind die Geschichte der Zwischenkriegszeit, die Entstehung des modernen Belagerungs- und Ausnahmezustands und die Zeitgeschichte seit den 1970er und 1980er Jahren.

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Leseprobe

Einleitung


Julius Barmat – ein bekannter Unbekannter


Wer war Julius Barmat? Diese Frage stellte sich nicht nur das Berliner Publikum, als am Silvestertag des Jahres 1924 erste Pressemeldungen über die Verhaftung des Unternehmers erschienen und in den folgenden Tagen dann auch noch die jüngeren Brüder Herschel (Henry) und Salomon Barmat sowie Manager des Barmat-Konzerns und Beamte der Preußischen Staatsbank festgenommen wurden. Ort des polizeilichen Großeinsatzes war nicht etwa ein anrüchiger Stadtteil Berlins, sondern die im Westen der Hauptstadt idyllisch gelegene Havelhalbinsel Schwanenwerder mit ihrer Villenkolonie. Neben der Villa, in der Julius Barmat zusammen mit seiner Frau Rosa und seinem minderjährigen Sohn Louis Izaak lebte, durchsuchte die Polizei die Zentrale und verschiedene Betriebe des Barmat-Konzerns sowie die Berliner Wohnungen seiner Brüder. Die Wasserschutzpolizei und die Grenzpolizei waren ebenfalls alarmiert worden, denn es bestand der Verdacht, dass die staatenlosen Barmats, die man als ukrainische Russen mit Wohnsitz in Amsterdam, Berlin und Wien identifizierte, sich durch eine Flucht ins Ausland der Verhaftung entziehen könnten.1

In der Presse zirkulierte bald der Vorwurf des Betrugs und der Bestechung, ja der Korruption im großen Stil, in die nicht nur Banker und andere Unternehmer, sondern auch Politiker verwickelt sein sollten. Letzteres hatte die erstaunlich gut informierte radikale Opposition, namentlich die kommunistische Rote Fahne und Zeitungen wie der völkisch-konservative Fridericus, schon seit Längerem kolportiert. Verkehrten nicht der Berliner Polizeipräsident Wilhelm Richter und viele einflussreiche Sozialdemokraten in den »Gemächern« des Unternehmers? Stand etwa »Ebert junior« als Privatsekretär in den Diensten Julius Barmats, oder war gar der Reichspräsident Friedrich Ebert selbst in die ganze Affäre verwickelt? Darüber hinaus gerieten die am Gendarmenmarkt gelegene Preußische Staatsbank sowie die Reichspost in den Verdacht, der »Groß-Schieberfirma Barmat« unbesehen hohe Kredite in Millionenhöhe zu »Wucher und Spekulationszwecken« gegeben zu haben.2 Neben Korruption und aktiver sowie passiver Bestechung war von einem Kreditbetrug großen Ausmaßes die Rede. Und nicht zuletzt: In all die umstrittenen Geschäfte sollten ganz maßgeblich sogenannte Ostjuden involviert sein.3

Die Verhaftung der Barmats war das Resultat einer merkwürdigen, fast schon abenteuerlich zu nennenden Verkettung von Ereignissen, an denen diverse Akteure beteiligt waren. Auf die Barmats stieß die Staatsanwaltschaft erst über den Umweg anderer Ermittlungen, die auch in die Amtsstuben der Berliner Fremdenpolizei führten. Deren Leiter hatte den aus Litauen stammenden Geschäftsmann Iwan Kutisker, der auf die Verwertung von Militärbeständen aus dem Ersten Weltkrieg spezialisiert war, erpresst. Hierfür hatte der Beamte Informationen genutzt, die ihm wiederum Michael Holzmann, ein zweifelhafter russischer Unternehmer, zugespielt hatte. Dieser war Kutiskers früherer Geschäftspartner, stand bei ihm mit hohen Summen in der Kreide und versuchte ihn ebenfalls zu erpressen. Kutisker zeigte Holzmann jedoch an, worauf dieser seine Haut retten wollte, indem er seinerseits schwere Vorwürfe vorbrachte: Der litauische Unternehmer und Jude Kutisker habe die Preußische Staatsbank systematisch um Millionen betrogen. Nachforschungen bestätigten, dass in der Tat höchst dubiose Geschäfte getätigt worden waren. Das führte noch vor der Verhaftung der Barmats zur Festnahme Iwan Kutiskers sowie seiner beiden Söhne und mehrerer Komplizen. Nicht zu Unrecht witterte die Presse einen Skandal rund um die Staatsbank. »Wie muß es da stinken?«, mutmaßte Die Rote Fahne.4

Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen waren jedoch weder in der Sache Kutisker noch in der Barmats durch eine Anzeige der Preußischen Staatsbank ins Rollen gekommen. Im Gegenteil: Die Leitung der Bank spielte von Anfang an eine passive Rolle, womit sie Verdächtigungen und Mutmaßungen befeuerte, die konservativen Beamten des altehrwürdigen Instituts seien in die Sache verstrickt. Zentrale Akteure bei der Aufklärung waren die Berliner Presse sowie die Wirtschaftsabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, die sich mit Rückendeckung des preußischen Justizministeriums in Form eines »Sonderauftrags« der Sache annahm, wohl wissend, dass es sich um eine politisch brisante Angelegenheit handelte.5 Empörte und dementsprechend auskunftsfreudige Bankbeamte aus dem mittleren Dienst äußerten den alarmierenden Verdacht, dass es sich bei dem »Betrug« Kutiskers nur um die Spitze des Eisbergs handle: Millionenkredite seien unwiederbringlich verloren, die Bank sei unter Umständen sogar »pleite«, mit unübersehbaren Folgen für die Finanzen des Freistaats Preußen. Und nicht nur das: Der Staatsanwaltschaft wurde schnell klar, dass »auch noch andere Ostjuden die Preußische Staatsbank in unerhörter Weise betrügerisch geschädigt hatten«.6 Aus diesem Grund dehnte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf Julius Barmat und seinen Konzern sowie auf weitere, ähnlich gelagerte Fälle aus, wie den des erfolgreichen Frankfurter Finanziers und Unternehmers Jakob Michael.

Skandal und Skandalisierung


Die Verhaftungen elektrisierten die politische Öffentlichkeit, die nun über Tage und Wochen mit Zeitungsartikeln und Balkenüberschriften auf der ersten Seite in Atem gehalten wurde.7 Bald spießten auch satirische Blätter wie der Simplicissimus und der Kladderadatsch das Thema auf. Über Nacht rückten die Namen Barmat, Kutisker und Michael ins Rampenlicht. Die Staatsanwaltschaft hatte, so der verbreitete Eindruck, die Büchse der Pandora geöffnet und gab Spekulationen und Verschwörungstheorien reichlich Nahrung. Ihre Verlautbarungen legten nahe, einem der größten Betrugsfälle der Zeit auf der Spur zu sein. Den Verhaftungen und ersten Pressemeldungen folgte eine Kaskade weiterer Ereignisse, wozu die Inhaftnahme des Reichspostministers Anton Höfle (Zentrum) zählte. Der aufbrausende mediale Sturm mit forschen Anschuldigungen und oft hilflos wirkenden, defensiven Dementi ließ an der Jahreswende 1924/25 aus den verschiedenen Fällen einen Skandal, genauer: einen politischen Finanzskandal werden – den größten dieser Art in der Weimarer Republik, wenn nicht gar in der deutschen Geschichte überhaupt.

Schnell war die Rede von einem Skandal Kutisker-Barmat oder Barmat-Kutisker-Skandal, gelegentlich auch von einem Barmat-Kutisker-Michael-Skandal. Im Gegensatz zu neutraleren Begriffen wie »Affäre« oder »Fall« implizierten diese Bezeichnungen schon eine Interpretation der Ereignisse. Ähnliches gilt auch für die Rede von einem Finanz- oder politischen Skandal oder für die Mutmaßung, es handle sich gar um einen Skandal der Preußischen Staatsbank, deren Direktoren allem Anschein nach leichtsinnig und regelwidrig Millionenkredite vergeben hatten. Wie das linksliberale Berliner Tageblatt kommentierte, attackierte neben der Roten Fahne insbesondere die deutschnationale Presse alle ihnen »verhaßten oder unbequemen Persönlichkeiten als Sklaven des Barmat-Mammons oder als Freunde der Barmats«;8 die Rede war von einer politisch gezielt geschürten, gegen die Republik gerichteten »Barmat-Psychose«, die von Anfang an mit einer latenten antisemitischen Pogromstimmung einherging.9

Die in diesem Buch verfolgte Frage, wer Julius Barmat war, entfaltete sich in dieser Geschichte von Skandalen. Jede Annäherung beginnt mit den überbordenden zeitgenössischen Diagnosen, Erklärungen und Interpretationen der Vorgänge, die sich mit Schuldzuschreibungen, politischen und moralischen Urteilen vermischten. Dafür gab es verschiedene Bühnen. Zu nennen sind an erster Stelle die Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete sowie eine Flut von Bildern, später dann auch Theaterstücken, die die komplexen Ereignisse vermittelten, simplifizierten und zugleich ausdeuteten. Eine Explosion des Redens und Sprechens ist zu beobachten, und zwar in einem Gestus der Empörung.10 Die mediale Sensation wurde durch immer neue, sich weiter gegenseitig aufputschende Nachrichten und Informationen genährt, darunter viele irreführende Falschmeldungen und »enthüllende Berichte«, deren Widerlegungen selbst wieder Bestandteile des Skandals wurden. Im Laufe dieser Eskalation erweiterten sich die Grenzen des Sagbaren, indem vertrauliche interne Vorgänge und Privates öffentlich gemacht wurden, mit der Folge, dass der Ruf vieler Personen beschädigt wurde. Dabei eröffnete die Skandalisierung gerade denjenigen Chancen, die sonst auf ihre eher marginalen politischen und sozialen Teilöffentlichkeiten beschränkt waren. Das galt für die Kommunisten ebenso wie für die völkische und deutschnationale Rechte, die zumindest im liberal und sozialdemokratisch gesinnten Berlin nicht das öffentliche Meinungsbild prägten.11

Von Anfang an war auch die Justiz eine wichtige Bühne...

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