In der Einsamkeit von Yuste
… ES WAR Nacht gewesen, als am 24. Februar 1500 in einem finsteren Abstellraum in Gent Karl V. das Licht der Welt erblickte. Schon mit sechs Jahren, nach dem Tod seines Vaters, wurde er auf sein zukünftiges Herrscheramt vorbereitet. Die spanische Königskrone fiel ihm als kaum sechzehnjährigem Jüngling zu, mit neunzehn wählte man ihn gegen hohe Bestechungsgelder zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, mit dreißig empfing er in Bologna aus der Hand des Papstes die Kaiserkrone. Von Gott und den Menschen war er ausersehen, über Völker und Länder diesseits und jenseits des Weltmeeres zu herrschen wie kein anderer vor ihm, und dennoch war er gezwungen, ein Leben lang ruhelos herumzuziehen, kreuz und quer durch Europa, ohne feste Bleibe und ohne Residenz. Er fällte Entscheidungen, die er gerne von sich geschoben hätte, und führte Kriege, die ihm verhaßt waren, und war Jahre hindurch nur von dem einen Wunsch beseelt – die Last der Macht abzuschütteln, um in Spanien, vergessen von der Welt, in Ruhe Mensch sein zu können. Denn allmählich wurde es wieder Nacht …
Kaiser Karl V. saß auf einem einfachen Stuhl allein inmitten des weiten Gartens vor seiner kleinen Villa, von wo aus er einen Blick auf das nahegelegene Kloster werfen konnte, welches dem heiligen Hieronymus geweiht war. Der kühle Wind wehte vereinzelte Töne der sich wiederholenden Gesänge der Mönche herüber, langsam wurde es dunkel. Vor Jahren, als die Kaiserbürde schwer auf seinen Schultern lastete, als die politischen und religiösen Probleme immer bedrückender wurden, hatte er den unstillbaren Wunsch nach Einsamkeit verspürt, und die unbändige Sehnsucht nach Ruhe und innerer Einkehr hatte ihn psychisch so belastet, daß er krank wurde. Deutlich war in ihm der Plan gereift, sich hier nach Yuste zurückzuziehen, in diese gottverlassene Gegend, wo ihn tagtäglich die Mönche des Klosters San Jeronimo de Yuste mit ihren monotonen »memento mori-Gesängen« an die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins erinnerten. Er hatte genug vom Lärm der Welt und wollte als einfacher Mensch seinen Lebensabend beschließen. Alles um ihn herum war bescheiden. Kein aufwendiges Schloß hatte er sich als Alterssitz erbauen lassen, wie man dies von einem Kaiser erwartet hätte, in seiner schmucklosen Villa mit vier Zimmern und einem Baderaum fühlte er sich wohl. Hier wurde er von niemandem gestört, wenn er sich Stunden um Stunden mit seiner Uhrensammlung beschäftigte. Manchmal wollte es ihm nicht gelingen, die Räder eines Chronometers mit seinen gichtigen Fingern in Schwung zu bringen, dann beorderte er den Uhrmacher zu sich, der mit ihm nach Spanien gekommen war, um seinen fachmännischen Rat einzuholen. Ein Leben lang hatte er den Tag herbeigewünscht, an dem es ihm möglich sein würde, sich seiner Liebhaberei zu widmen. Jetzt hatte er die nötige Ruhe, die komplizierte Mechanik jeder einzelnen Uhr zu studieren – hatte Zeit für sich selbst!
Obwohl sein neues Refugium nach außen hin bescheiden wirkte, entbehrte es keiner Bequemlichkeit. Im Morgengrauen hörte er die Gebete der Mönche und sobald er die Augen öffnete, fiel sein erster Blick an jedem neuen Tag auf den Hochaltar der angrenzenden Kirche. Denn der Baumeister hatte auf sein Geheiß hin in seinem Schlafzimmer ein riesiges Fenster anbringen lassen, so daß Karl jederzeit dem heiligen Meßopfer ohne große Beschwerlichkeiten beiwohnen konnte. Das Aufstehen bereitete ihm zunehmend Schmerzen, und jeder weitere Schritt war ihm eine Qual. Wurde er aber in den hellen luftigen Wohnraum getragen, dessen Wände kunstvolle flämische Gobelins zierten, dann vergaß er seine Leiden und genoß das heitere Licht, das in den Raum strömte. Gewöhnlich ließ er die Fenster weit öffnen und lauschte dem Gesang der Vögel. Ab und zu, wenn er sich besser fühlte und die Ärzte es ihm gestatteten, wagte er den einen oder anderen zaghaften Schritt auf den weichen kostbaren persischen Teppichen, die den Boden des Zimmers bedeckten. Meist aber war er gezwungen, stundenlang in seinem Stuhl zu sitzen, den erfinderische Konstrukteure eigens für ihn gebaut hatten und in dem er möglichst wenig Schmerzen haben sollte. Wenn er sich auch in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, so war doch sein Gefolge, das mit ihm nach Spanien gekommen war, beachtlich. Immerhin standen über fünfzig Personen zu seiner persönlichen Betreuung zur Verfügung. Trotz aller Bescheidenheit, in der er leben wollte, fand er es notwendig, seine engsten Berater mitzunehmen. Sein Majordomus war für ihn genauso wichtig wie sein Beichtvater, daneben benötigte er mehrere Sekretäre, die sich um die tägliche Post kümmern mußten. Nach wie vor wurde er über die Vorgänge im Reich von seinem Bruder Kaiser Ferdinand unterrichtet so wie über die Entwicklung in Spanien von seinem Sohn, der hier regierte. Daneben kannte keiner so wie sein langjähriger Garderobenmeister seine Wünsche die Kleidung betreffend, und seine Leibköche sorgten dafür, daß nur jene Speisen auf der schmal gewordenen Tafel aufgetragen wurden, die seinen von Kindheit an verwöhnten Gaumen kitzelten, denn auf jeglichen Luxus der Welt hatte er aus freien Stücken verzichtet, nur nicht auf die Delikatessen. Erst wenn er in seinem Spezialstuhl, auf dem er die dick geschwollenen Beine hochlagern konnte, von einem Gichtanfall überrascht wurde, wenn er nicht mehr aus noch ein vor Schmerzen wußte, dann ging er mit sich selbst ins Gericht und beschloß, auf Speisen zu verzichten, die ihm gesundheitlich schaden konnten. Aber kaum waren die Qualen vorüber, warf er, der sonst sein Leben lang so konsequent war, die guten Vorsätze über Bord und rief nach seinen geliebten Austern und Krebsen, seinen Muscheln und Langusten.
Ein Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Es war ihm, als hätte er in der Ferne seine Schweizer Kühe gesehen, die hier in Spanien zwar nicht das saftige Gras der Alpen fanden, trotzdem aber tagtäglich ausgezeichnete Milch lieferten. Er erinnerte sich an das allgemeine Erstaunen in seinem Gefolge, als er seinerzeit Order gegeben hatte, diese Tiere mit in sein selbstgewähltes Exil zu nehmen. Er hatte auf den Gesichtern seiner Leute den Gedanken, der sie bewegte, ablesen können: Der Kaiser war schrullig geworden!
Langsam blickte er um sich. Er vermißte zwar nicht die unbarmherzige Hitze des spanischen Sommers, die ihn so oft gepeinigt und die ihm jedesmal aufs neue den Atem genommen hatte, aber die Feuchtigkeit in Yuste kroch ihm unangenehm in alle Glieder. Er gewöhnte sich nicht an dieses Klima, obwohl er ein Leben lang den Unbilden der Witterung Europas ausgesetzt war und keine Rücksicht auf Wind und Wetter in den Niederlanden, auf Schnee und Kälte in Deutschland, auf tobende Stürme auf dem Meer, auf glühende Hitze in Oberitalien oder in Nordafrika, auf die spröde Trockenheit in Südspanien hatte nehmen können. Hier litt er Tag und Nacht unter den Nebelschwaden und dem undurchdringlichen Dunst, der die klare Sicht auf die Umgebung raubte und der wochenlang ringsherum Hügel und Berge einhüllte. Die seltsame Feuchtigkeit legte sich auf seinen schmerzenden Körper und vergrößerte in den endlosen Nächten seine Qual.
Mit seinen 56 Jahren war er ein schwerkranker Mann. Das Leben, das er geführt hatte, hatte ihn unendliche Kraft gekostet, hatte seinen Körper ausgezehrt und ihn zu einem müden alten Mann werden lassen. Er, der Kaiser, der in ganz Europa zu Hause war und der über ein Weltreich geherrscht hatte, sehnte sich nach diesem Leben voller Hast und Kampf, voller drückender Probleme, nur nach der Einsamkeit. In stillem Gebet wollte er sich Gott widmen, von dem er hoffte, daß er ihm gnädig sein würde.
Gedankenverloren lauschte er dem Gesang der Zikaden, jener monotonen, faszinierenden Melodie, die nur im Süden zu hören ist. Vielleicht hätte er ein anderes Leben führen können, sann er vor sich hin, wenn er sein Reich von Brüssel oder Gent aus hätte regieren oder wenn er sich in Spanien, in Granada eine feste Bleibe hätte errichten können – so wie sein Sohn Philipp, der in Madrid Hof hielt und der kaum gezwungen war, die Strapazen des Reisens auf sich zu nehmen. Er aber war stets rastlos in Europa herumgezogen, genau wie sein Großvater Kaiser Maximilian. Was aber Maximilian wenig geschadet hatte, da er über eine stabile Gesundheit verfügte, das brachte ihm früh täglich aufs neue Beschwerden. Er wußte es selbst genau – und dazu brauchte er beileibe nicht den Rat der Ärzte. Sein gieriges Essen war schuld an den zahlreichen Gebrechen, die ihm die Tage vergällten und ihn die Nächte über marterten. Jahrelang hatte er die berühmtesten medizinischen Kapazitäten konsultiert, hatte all ihre Ratschläge befolgt – bis auf einen, das mußte er sich ehrlich eingestehen: Er konnte das üppige Essen nicht lassen.
Hier in der kargen Landschaft, die ihn umgab, hatte er Zeit und Muße, über den Sinn des Lebens nachzugrübeln. Er, der Herrscher, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, war nur zum Schein auf der Sonnenseite des Lebens geboren worden. Die...