Kapitel 1 Der Knabe Karl – ein gewesenes Kind
Ich schloff als kleiner Junge mit vier Jahren in das Stiefelrohr eines Rohrstiefels meines Vaters mit dem Kopf hinein, aus was für Gründen ist mir heute noch unbekannt, ich nehme an, es war jugendlicher Übermut. Ich wäre darin vielleicht erstickt, wenn nicht meine liebe Mutter, die alles für ihr Kind tat, mich aus diesem eigenartigen Tunnel herausgezogen hätte.«
Mit der verqueren Geschichte seiner gleichsam zweiten Geburt aus dem väterlichen Stiefelrohr hat Karl Valentin die Auswahl aus seinen ›Jugenderinnerungen‹ eingeleitet, die in der ›Süddeutschen Sonntagspost‹ vom 28. August 1932 erschien. Unter den Lesern dieser Münchner Wochenzeitung werden damals nur wenige das Doppeldeutige gemerkt haben; sie lachten über die »lustigen Lausbubenstreiche« des »großen unnachahmlichen Münchner Komikers, der zu den originellsten deutschen Künstlern gehört«. Valentin selber solche Naivität zu unterstellen, wäre aber wohl verkehrt. Dazu interessierte sich der geniale »Vorstadt-Hypochonder«, als den ihn der Wiener Essayist Anton Kuh Ende der zwanziger Jahre charakterisiert hat, privat zu sehr für Fragen der Medizin und Psychologie. Als Gasthörer besuchte er beispielsweise den Kurs »Psychologie der Gegenwart«, den das Pädagogisch-Psychologische Institut im Auditorium maximum der Universität während der Semesterferien im Sommer 1932 veranstaltete (›Süddeutsche Sonntagspost‹, 7. 8. 1932).
Dass Valentin, dem man gemeinhin dergleichen nicht zutraut, sich auch mit der Individualpsychologie von Alfred Adler beschäftigte, belegt eine andere Jugenderinnerung, die allerdings in der ›Süddeutschen Sonntagspost‹ nicht abgedruckt ist, ›Der Wuhwuh kommt‹. Valentin stellt sich darin als Opfer falscher Kindererziehung dar und erzählt wiederum von seiner Mutter. Sie habe ihn, wenn er unfolgsam war, mit der Drohung erschreckt, den »Wuhwuh« zu holen: »… und die Mutter geht aus dem Zimmer, stülpt einen Sack oder irgendeine Verhüllung über den Kopf (wie es leider meine Mutter zu oft gemacht hat) klopft mit den Fäusten an die Tür, murmelt geisterhafte Worte und erscheint als Gespenst im Zimmer. Was geht nun in dem kleinen Gehirn des Kindes vor? Es – bekommt Furcht und fängt an zu zittern, kurzum das ganze Nervensystem des Kindes ist ausser Rand und Band und in der Angst erfüllt das Kind nun die Wünsche der Mutter und ist brav geworden. Nun löst die Mutter das Rätsel, zeigt dem Kinde, indem sie den Sack vom Kopf nimmt, dass sie der ›Wuhwuh‹ war und meint irrtümlicherweise nun ist alles wieder gut und vorbei. Aber dem ist nicht so – Für dieses Kind kommt im ganzen Leben immer der ›Wuhwuh‹, in Form der verschiedenartigsten Hemmungen u. Komplexe.«
›Karl Valentin der Lausbub‹ ist die Veröffentlichung in der ›Süddeutschen Sonntagspost‹ überschrieben. Das klingt – gewiss nicht unabsichtlich – nach einer bekannten Vorlage, den ›Lausbubengeschichten‹ von Ludwig Thoma aus dem Jahr 1905. In der Vorbemerkung wird denn auch darauf hingewiesen, dass Valentin seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben habe, »um sie demnächst als Buch herauszugeben«. Und: »Eine Reihe hübscher Jugendbegebenheiten, illustriert von Ludwig Greiner, hat Karl Valentin der ›Süddeutschen Sonntagspost‹ zum Erstabdruck aus seinem Manuskript zur Verfügung gestellt, die wir fortlaufend veröffentlichen werden.« In der Tat hatte Valentin, der am 4. Juni 1932 seinen 50. Geburtstag feierte, spätestens um 1930 damit begonnen, »die mir noch in Erinnerung gebliebenen Erlebnisse aus meiner Jugend-, Jünglings- und Mannszeit zu sammeln«. Das geplante autobiografische Buch wurde jedenfalls mehrmals angekündigt. »Augenblicklich ist Valentin damit beschäftigt, ein Buch über seine ›Jugendstreiche‹ zu schreiben, das auch illustriert wird.« So oder so ähnlich schlossen fast alle Zeitungsartikel, die anlässlich der Münchner Uraufführung des Opernfilms ›Die verkaufte Braut‹ am 16. August 1932 eben auch über Valentin – »unseren deutschen Chaplin« – und Liesl Karlstadt berichteten. Der Film war in Geiselgasteig unter der Regie von Max Ophüls gedreht worden und Valentin und Karlstadt spielten darin »ihre erste große Tonfilmrolle«, das Zirkusdirektorenpaar Brummer.
»Valentin’s Jugendstreiche« sind dann aber doch nicht als Buch erschienen; erst 1951 hat Gerhard Pallmann aus dem Nachlass eine Zusammenstellung unter dem Titel ›Der Knabe Karl‹ herausgegeben. So ist es zu Valentins Lebzeiten bei dem Fotoband ›Das Karl Valentin Buch‹ geblieben, einer Art Vorstufe zu seinen Memoiren. Das Buch kam mit dem Erscheinungsdatum 1932 schon an Weihnachten 1931 im Verlag Knorr & Hirth heraus. Den fast barock-langen Untertitel wird sich Valentin selber ausgedacht haben: »Erstes und einziges Bilderbuch von Karl Valentin über ihn und Lisl Karlstadt mit Vorwort und ernsthafter Lebensbeschreibung und Bildunterschriften von ihm selbst, sowie zwei Aufsätzen von Tim Klein und Wilhelm Hausenstein«. Als Vorwortschreiber ist er unverkennbar: »Schon Nepomuk der Trotzige meinte, es müßte einmal ein Karl Valentin-Buch erscheinen, welches zum Umblättern geeignet ist und von groß und klein betrachtet werden kann. Diese sinnige Anregung wurde endlich in die Tat umgesetzt.« Demgemäß enthält das Buch neben Rollen-, Masken- und Bühnenfotos auch Privataufnahmen, darunter Kinderbilder des kleinen Valentin und Fotografien von seinem Elternhaus in der Vorstadt Au. Dazu hat sich Valentin an einem »ernsthaften« Lebensabriss versucht und auf ein paar Seiten erzählt, »Wie ich Volkssänger wurde«.
Der bekennende Valentin-Fan Peter Panter alias Kurt Tucholsky rezensierte ›Das Karl Valentin Buch‹ in der ›Weltbühne‹. Natürlich empfahl er es – »zwecks Lachung«: »Es ist eine völlig närrische Welt, in der dieser da Kaiser, König, Edelmann, Bauer, Sieben, Achte, Neune und Zehne ist – und aus dem Meer dieses Unfugs taucht der Leser auf und blickt auf ein Land, dessen ……… grade so närrisch sind, aber lange nicht so amüsant wie Karl Valentin.«
Obwohl es in Valentins Vorträgen, Szenen und Stücken überraschend viele versteckte und verzwickte autobiografische Bezüge zu entdecken gibt, spielt das direkte autobiografische Schreiben in dieser »närrischen Welt« eigentlich eine eher zweitrangige Rolle. Vor allem ist sein Zweck ein anderer als beim gewöhnlichen Memoirenschreiber. Dem geht es um den bekannten »roten Faden«, um Sinnstiftung und das Herstellen eines schlüssigen Lebenszusammenhangs. Der Komiker Valentin hingegen schafft sein eigenes verqueres »Reich des Blödsinns«, in dem wiederum er als populäre Kunstfigur »Karl Valentin« das Subjekt ist. Lebensläufe sind in dieser besonderen valentinesken Welt sowieso absurd.
Wobei Valentin sein erprobtes literarisches Verfahren der grotesk-komischen Lebensbeschreibung eben immer wieder auch auf die eigene Biografie angewendet hat. Da rief etwa Liesl Karlstadt als »Impresario« in der Szene ›Oktoberfestschau‹, die Mitte November 1920 im Kabarett Charivari uraufgeführt wurde, die Riesendame »Fräulein Lilly Wiesi-Wiesi« und Herrn »Tafit, den Mann mit den Riesenohren«, folgendermaßen aus: »Sie wurde im Jahre 1908 geboren und vollendete am 31. Februar 1892 ihr 45stes Lebensjahr. Ihr Papa, ehemaliger Direktor einer Schmalznudel-Verleihanstalt in Thalkirchen an der Ruhr, scheute keine Kosten, seine Tochter die Abnormität erlernen zu lassen. – Hier sehen Sie ›Tafit‹, den Mann mit den Riesenohren. Er ist geboren in dem Jahr, als der Komet am Himmel war. Im Alter von 12 Jahren und 16 Monaten kam er in die Lehre eines neapolitanischen Schuhmachermeisters in Ceylon. …«
›Karl Valentins Selbstbiographie‹, ein bis heute viel zitierter sanft irrsinniger Text, den Valentin seinen im Verlag Max Hieber 1926 veröffentlichten ›Originalvorträgen‹ voranstellte, beginnt vergleichbar paradox: »Karl Valentin, Münchner Komiker, Sohn eines Ehepaares. Karl Valentin erlernte aus Gesundheitsrücksichten im Alter von 12 Jahren die Abnormität und zeigte nach reiflicher Überlegung Talent zum Zeitungslesen. Sein Hang zur Musik ist alltäglich. Am liebsten hört er zu, wenn er selbst spielt.«
Zur Groteske geriet schließlich zwei Jahrzehnte später der Dialog ›Ein Interview mit Karl Valentin‹. Er wurde im März 1947 bei Radio München aufgenommen. Liesl Karlstadt spielte darin die Funkreporterin und Valentin scheinbar unbeirrt noch immer sich selber als reale Kunstfigur in seiner valentinesken Welt, die er über Nazizeit, Krieg und Zusammenbruch in eine ungewisse Zukunft zu retten versuchte. Valentin: »Ja, also ich wurde geboren in dem Jahr, als der Komet am Himmel war, 1881.« Karlstadt: »So. Also 1881 ist Ihr Geburtsjahr.« Valentin: »Nein, da war ich noch gar nicht da, denn ich bin ja erst eigentlich ein Jahr später auf die Welt gekommen.« Karlstadt: »Ja, das wär ja dann 1882.« Valentin: »Ja, stimmt, stimmt.« Karlstadt: »Und was hatten Sie gleich nach der Geburt für einen Eindruck von der Welt?« Valentin: »Als ich die Hebamm sah, die mich empfing, war ich sprachlos. – Ich habe...