2. Heinrich Schrörs. Historismus als historischer Antirelativismus?
2.1 Herkunft und Bildungsgang
Als Erster von drei Brüdern und einer Schwester, die dem Seidenweber Johann († 1885) und seiner Frau Henriette, geborene Schlösser, beschieden waren, kam Johann Heinrich Schrörs, mit dem diese Untersuchung ihren Anfang nehmen soll, am 26. November 1852 im niederrheinischen Krefeld zur Welt.1 Seine schulische Ausbildung erhielt er zunächst am Progymnasium, das mit der Katholischen Höheren Bürgerschule seiner Vaterstadt verbunden war und bis zur Sekunda führte. Auf den Schlussfeierlichkeiten am 30. August 1870, nach denen er von dieser Anstalt seinen Abschied nahm, durfte er den „Aufruf“ von Theodor Körner (1791–1813), ein aus den Befreiungskriegen stammendes Gedicht, deklamieren. Es scheint, als hätten die darin enthaltenen religiös überhöhten preußisch-patriotischen Siegesbeschwörungen die Stimmung getroffen, die während des deutsch-französischen Krieges auch im katholischen Bevölkerungsteil von Krefeld herrschte.2 Zwei Jahre später, am 2. September 1872, dem Sedanstag, hielt Schrörs die lateinische Abiturrede am Katholischen Gymnasium an der Apostelkirche in Köln, wo er die Unter- und Oberprima durchlaufen hatte. Das Motto, das der Hochbegabte wählte, „Eruditissimus quisque patriae amantissimus est“, zeigt, wie wenig auch der beginnende Kulturkampf an der anerzogenen vaterländischen Gesinnung zu ändern vermochte, die Schrörs anlassgemäß in bildungspathetischer Zuspitzung darbot.3 „Vernunftkleindeutscher“ und „Herzenskatholik“ zugleich, nahm er im Wintersemester 1872/1873 an der nahe gelegenen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn das Studium von Philosophie und katholischer Theologie auf, wobei für den Priesteramtskandidaten zunächst die erstere im Vordergrund stand. Schon als Gymnasiast hatte sich Schrörs mehr für Logik und Psychologie, die „sog[enannte] philosophische Propädeutik“,4 begeistern können, die im Rahmen des Deutschunterrichts behandelt worden war, als für den Religionsunterricht, der, auch in kirchengeschichtlicher Hinsicht, nach dem „Lehrbuch der katholischen Religion“ von Konrad Martin (1812–1879) gegeben wurde, dem als „Vater der Neuscholastik in Deutschland“ gefeierten späteren Paderborner Erzbischof.5 Die Bonner Fakultät befand sich allerdings, so erinnerte sich Schrörs später,
„infolge der an das Vatikanische Konzil sich anschließenden kirchlichen Wirren auf einem Tiefstande, wie ihre ganze Geschichte keinen zweiten zu verzeichnen gehabt hat. Sie war zerrissen in einen altkatholisch gewordenen und einen römisch-katholisch gebliebenen Teil. Der letztere bestand nur aus einem ordentlichen, zwei außerordentlichen Professoren und einem Privatdozenten, und von allen diesen war keiner eine hervorragende akademische Kraft; so achtenswert sie mit einer Ausnahme als Gelehrte waren, so mittelmäßig als Lehrer.“6
Weil Laurenz Max Roth (1814–1877) und Hubert Theophil Simar (1835–1902), die beiden Extraordinarii, sowie Franz Philipp Kaulen (1827–1907), der Privatdozent, „sich auf ihre Fächer, Pastoraltheologie, Dogmatik und Exegese des Alten Testamentes, zu beschränken genötigt waren“, hatte Joseph Heinrich Floß (1819–1881), der verbliebene Ordinarius für Moraltheologie, „alles übrige auf seine Schultern zu nehmen: Enzyklopädie, Moraltheologie, Kirchengeschichte mit allen Nebenzweigen (Archäologie, Patrologie, kölnische Kirchengeschichte), die neutestamentliche Exegese, Homiletik nebst Predigtübungen“.7 Schrörs trat Floß zwar näher, „als es sonst zu geschehen pflegt“, da er „in seinem Hause und seine[r] Familie wohnen“ durfte.8 Dieser vermochte jedoch dem Studiosus weder eine Leidenschaft für die Theologie im Allgemeinen, geschweige denn für die Kirchengeschichte im Speziellen, seine spätere Disziplin, zu vermitteln. Über das kirchengeschichtliche Kolleg, urteilte Schrörs später, war „nicht viel Rühmliches zu sagen“.9 Es habe „Öde wie in den Bänken so auf dem Katheder“ geherrscht. Überhaupt sei Floß, obwohl ursprünglich für dieses Fach habilitiert, „für Geschichtschreibung im höhern Sinne nicht beanlagt“ gewesen.10 Hinzu kam überdies, dass auch die beiden aus der Schule des Berliner Neuaristotelikers Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) stammenden katholischen Philosophen Georg von Hertling (1843–1919) und Joseph Neuhäuser (1823–1900), die Schrörs hörte, seine Erwartungen nicht erfüllten. War der eine „für Anfänger zu abstrakt und auch wohl zu hoch“, so der andere zu „hausbacken“.11 Schrörs wählte daher nach nur einem Jahr, wie überhaupt „viele der Kölner Diözesanen aus begreiflichen Gründen[,] statt der Bonner Hochschule eine auswärtige“.12 Nach Würzburg, wo er unter dem Biernamen „Gunther“ bald der katholischen Studentenverbindung Walhalla beitrat, zog ihn vor allem Franz Brentano (1838–1917), der wohl bedeutendste unter den katholischen Trendelenburg-Schülern, der sich dem Unternehmen widmete, „einen neuthomistischen Aristoteles zu entwerfen, der die Grundlage für die katholische Wissenschaft bilden“ sollte.13 Just während der Semesterferien, in denen sich der Wechsel an die Mainstadt vollzog, legte Brentano jedoch, eine Spätfolge des Ersten Vatikanischen Konzils, Priesteramt und Professur nieder. Erst jetzt wandte sich Schrörs, bestürzt über den „Fall dieses Geistes“, mit ganzer Kraft der Theologie zu. Niemals wieder will er „einen philosophischen Hörsaal“ betreten oder „ein philosophisches Buch“ aufgeschlagen haben.14 Für die katholische Theologie galt nun aber die in der Mehrzahl mit am Collegium Germanicum ausgebildeten „Römern“ bestückte Würzburger Fakultät damals als erste Adresse im deutschen Sprachraum.15 Eine Literaturliste, in die Schrörs, nach Fächern gegliedert, seine Studienlektüre eintrug, bestätigt, dass die Formation, die er schon bisher im aristotelisch-scholastischen Sinne empfangen hatte, sich nun auf die in Würzburg durch Heinrich Denzinger (1819–1883), Joseph Hergenröther und Franz Seraph Hettinger (1819–1890) gleich dreimal vertretene jesuitische „Römische Schule“ spezialisierte.16 Eingetragen sind da in der philosophischen Rubrik die „Consolatio philosophiae“ des Boethius sowie die Lehrbücher von Antoine Goudin (ca. 1639–1695), Georg Hagemann (1832–1903) und Albert Stöckl (1823–1895). Die dogmatische Theologie weist die obligatorische „Summa theologica“ des Thomas von Aquin und das „Breviloquium“ des heiligen Bonaventura auf, darüber hinaus aber auch die „Praelectiones dogmaticae“ von Giovanni Perrone, dem „Initiator“ der „Römischen Schule“, und das „Handbuch der Dogmatik“ von Matthias Joseph Scheeben (1835–1888),17 der als der allerdings stärker thomistisch orientierte „bedeutendste Schüler jener Professoren“ gilt, die üblicherweise der römischen Richtung zugerechnet werden.18 Auch nachdem Mitte der 70er-Jahre in der Stadt am Main die „Dominanz der Germaniker gebrochen“ war,19 betrachtete sich Schrörs weiterhin als einen Spross am Baum der „Altwürzburger Schule“, zu der er sich zeitlebens im Gegensatz zu den durch den Brentano-Schüler Herman Schell (1850–1906) repräsentierten „Neuwürzburgern“ bekannte.20 Vor allem Hettinger, der Apologet und Homiletiker, an dessen „Thomas-Kränzchen“ Schrörs teilnahm, der „Krone seines akademischen Wirkens“, übte großen Einfluss auf ihn aus.21 Hettinger führte im Rahmen dieses „Kränzchens“ ganze Studentengenerationen durch die Lektüre des Originals in das Denken des Aquinaten ein. Er vermittelte ihnen zugleich die Zuversicht, dass das damit bereitete wissenschaftliche Fundament die akademische Satisfaktionsfähigkeit des philosophisch gebildeten Theologen nicht etwa einschränkte, sondern sie auch für alle übrigen Wissensgebiete allererst begründete. Auf Schrörs dürfte insbesondere das Grundvertrauen in die Geschichte nicht ohne Einfluss geblieben sein, das Hettinger hegte. „Die Restauration der Geschichtswissenschaft“, so betonte dieser gerade damals unter Berufung auf den französischen Publizisten und Politiker Alexis de Tocquevilles (1805–1858), „ist die Restauration der katholischen Größe.“22 Umso enttäuschender waren für Schrörs, der die von Hergenröther über Kirchenrecht gehaltenen Vorlesungen sehr schätzte, diejenigen, die dieser der Kirchengeschichte widmete. Man hat Hergenröther den „einzigen ‚Historiker‘ dieser [sc. der „Römischen“, G.K.] Schule von Gewicht“ genannt.23 Schrörs dagegen befand:
„Die mit Stoff vollgepfropfte Darstellung überschüttete nicht bloß den Hörer mit Einzelheiten, sondern ließ auch keine Höhepunkte hervortreten, von denen aus das Auge sich hätte zurechtfinden können, und zog die verbindenden Linien nicht deutlich genug. Keine Kunst der Schattierung, keine sprechenden Charakteristiken, kein Packen der vorstellenden Phantasie, kein vergleichender Blick auf ähnliche Vorgänge und Personen aus älterer und neuerer Zeit – so floß eintönig der breite, viel zu breite Strom dahin. Auch kein Reiz der Darstellung kräuselte den glatten Spiegel. Dazu kam die Art des Vortrages: die Stimme in gleichförmigem Tone, das Gesicht tief über das Heft gebeugt, das getreulich abgelesen wurde, hier und da eine linkische Handbewegung, um nach der Schnupftabakdose zu langen. Der Student blieb kühl und bemüht, soviel als möglich aufs Papier zu bringen und seinem Gedächtnisse einzuprägen. Für ein kirchengeschichtliches Kolleg hatte ich mir ein anderes Ideal vorgestellt, als ich von...