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E-Book

Kein Kind zum Vorzeigen?

Bericht über eine Behinderung

AutorIngrid Häusler
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl136 Seiten
ISBN9783688112890
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Mitleid ist eine Form von Menschenverachtung. Wer einen andern bemitleidet, nimmt ihn nicht ernst, zwingt ihm eine hilflose Rolle auf.» Ingrid Häusler kämpft seit Jahren gegen Mitleid und Selbstmitleid, denn sie ist die Mutter eines behinderten Kindes. In diesem Bericht schildert sie ihre Alltagserfahrungen: wie sie nach und nach das Ausmaß der Behinderung erfährt, ihre hilflose Wut, ihre Einsamkeit und - ihre Emanzipation. Denn aus der beschädigten Mutterrolle - aus der Enttäuschung, daß sie kein gelungenes Ergebnis vorzeigen, also keine gesellschaftliche Anerkennung für ihre Mühe verbuchen kann - ergibt sich die Forderung, die eigene Identität, ihr Frauenbild, ihre Beziehungen zu ändern, neu zu ordnen. Auf der Suche nach den Ursachen der Behinderung, im Kampf gegen die Gleichgültigkeit der Umgebung erringt Ingrid Häusler wenig greifbare Erfolge, wohl aber ein neues Selbstbewußtsein und die Abkehr vom «Weiblichkeitswahn». «Mütter und Väter von behinderten Kindern haben die große Chance, sich von unmenschlichen Rollenzwängen zu lösen. Nur wer sich nicht auf ein Rollenbild reduzieren läßt, ist fähig, einem behinderten Kind den notwendigen Halt zu geben, ohne es abhängig zu machen. Ein behindertes Kind stellt die Aufforderung an die Mutter dar, ihr Leben und damit auch das ihres Kindes in die Hand zu nehmen und nicht in eine verkrampfte Opferhaltung zu verfallen.»

Ingrid Häusler, geboren 1952 in Stuttgart, nach Abschluß der Mittleren Reife Ausbildung zur Bauzeichnerin.

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Leseprobe

1 Wie alles anfing


Frank war kein «Wunschkind», wie man so schön sagt. Wie sollte er auch! Welche junge Frau wünscht sich im «Zeitalter der Pille» mit zwanzig schon ein Kind? Ich hasse es, wenn eine Mutter sagt: «Es ist ein Wunschkind!» Fordert ein Kind nicht allein durch seine Anwesenheit heraus, es anzunehmen? Irgendwie habe ich bei Müttern, die das so betonen müssen, das Gefühl, daß sie damit gewisse Zweifel an der Liebe zum Kind überdecken wollen.

Meine Situation vor der Schwangerschaft war folgendermaßen: Ich hatte mit siebzehn mit einigermaßen zufriedenstellendem Erfolg die Mittlere Reife gemacht und habe dann drei Jahre lang eine Lehre als Bauzeichnerin absolviert. In der Hauptschule und in den ersten Klassen der Realschule gehörte ich immer zu den Klassenbesten, ich war eine ängstliche, stille und schüchterne Streberin. Mit Beginn der Pubertät und weit darüber hinaus änderte sich das dann, wie bei vielen Mädchen. Ich arbeitete mit nur einer Kollegin und unserem Chef in einem kleinen Statikerbüro. Mit der Kollegin verstand ich mich sehr gut, und die Arbeit machte mir auch Spaß.

Mit zwei Freundinnen zusammen wagte ich es, abends in einen Jugendclub zu gehen, um unsere Kontaktarmut zu überwinden. Es handelte sich um einen Gewerkschaftsjugendclub, der Diskussionsveranstaltungen, Disco-Parties und anderes anbot. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich bei den Diskussionsveranstaltungen dasaß: still, aufmerksam lauschend, den Blick gesenkt, wissend, daß ich auch bei größter Anstrengung und bester Gelegenheit keinen Ton herausbringen würde … Wie viele Mädchen und Frauen hatte ich es schon früh versäumt, mir auch nur einen mageren Grund an politischem Wissen anzueignen. Ein Mädchen fiel bei den Diskussionen durch geistige Wendigkeit und Schlagfertigkeit auf, sie war bei den Männern nicht sehr beliebt, und obwohl ich sie bewunderte, war sie mir doch ziemlich unheimlich …

In der Diskothek dieses Jugendclubs lernte ich dann Martin kennen – endlich hatte auch ich einen «festen Freund». Er war mir schon ein paarmal durch seine ebenfalls zurückhaltende und schüchterne Art aufgefallen, auch er sagte bei Diskussionen so gut wie nichts. Wir erlebten zwei herrliche Jahre der Verliebtheit. Unsere Beziehung spielte sich hauptsächlich im emotionalen und sexuellen Bereich ab; wir führten aber kaum tiefe Gespräche. Ab und zu ließ ich mir was von ihm erklären. Ich begann, meine Arbeit im Büro nicht mehr so wichtig zu nehmen, ich träumte während der Arbeit vom nächsten Treffen mit Martin, mein Leben hatte nur noch einen Sinn, wenn ich mit ihm zusammen war.

Ab und zu wurde unser vollkommenes Glück getrübt. Ich hatte mich von ihm abhängig gemacht, und ich wurde immer wieder von seltsamen Depressionen überfallen, die ich heute erklären kann. Ich war ein Mensch mit sehr wenig Selbstvertrauen. Ich war unselbständig, hilflos, unzufrieden mit mir selbst, aber unfähig, mir selbst zu helfen. Martin sollte nun diesen Mangel ausgleichen, was ihm natürlich nicht immer gelang, und in den Momenten, in denen sich diese Erkenntnis eben nicht ganz verdrängen ließ, fing ich an zu heulen. Martin reagierte wie die meisten Männer in dieser Situation: Er ließ sich «mißbrauchen», er tröstete mich, er tat alles für mich.

Eines habe ich damals nicht verstanden; als Martin aus gesundheitlichen Gründen überraschend nach einem Monat von der Bundeswehr heimgeschickt worden war, hatte er sich flugs ohne mein Wissen an der Wirtschaftsoberschule angemeldet. Und ich hatte schon meinen Traum vom gemeinsamen Geldverdienen und vom Heiraten in greifbare Nähe rücken sehen!

Ich hatte mir die Pille besorgt, aber ich habe entscheidende Fehler gemacht; ich habe trotz Verdacht auf Schwangerschaft mit der Einnahme begonnen, dann aus lauter Scham in aller Heimlichkeit einen Schwangerschaftstest zum Selbermachen durchgeführt, der ungenau ausgefallen ist, dann habe ich nach Rücksprache mit Martin noch mal vier Wochen gewartet, die Pille weiterhin eingenommen und dann erst einen Test in der Apotheke machen lassen. Ich hatte irgendwo gelesen, daß die Pille keinen negativen Einfluß auf eine noch nicht entdeckte Schwangerschaft hat, ich sagte mir, sie enthält ja sowieso nur die Hormone, die in der Schwangerschaft vom Körper gebildet werden. Verantwortungslosigkeit? Ja und nein. Wir waren beide noch sehr jung, unerfahren und unreif, wir konnten zu jenem Zeitpunkt nicht anders handeln. Auf jeden Fall plage ich mich nicht mit Schuldgefühlen herum; ich würde meinem Kind einen sehr schlechten Dienst erweisen. Es gehört zu unserem Menschsein, daß wir alle Fehler machen; wenn wir das immer mit einkalkulieren, dann sind wir davor gefeit, uns selbst zu verurteilen und zu hassen. Selbsthaß erzeugt die Neigung, ihn in «Fremdhaß» umzuwandeln, das heißt, ihn auf äußere Instanzen zu übertragen und diese dann stellvertretend zu «bestrafen», um das eigene seelische Gleichgewicht wiederherzustellen. Man kann nur versuchen, aus seinen Fehlern zu lernen; das gelingt um so eher, je mehr man mit sich selbst «im Einklang» ist, am wenigsten gelingt es, wenn man in Schuldgefühle und Selbstmitleid versinkt.

Martin stand ein Jahr vor dem Abitur, und ich hatte erst ein Jahr vorher meine Lehre abgeschlossen. Ich war zwar so naiv, mir mit zwanzig eine baldige Heirat zu wünschen, aber ein Kind? Ich erinnere mich, wie Martin mich fragte, ob ich denn meine, etwas zu versäumen, wenn ich jetzt ein Kind bekommen würde. Diese Frage habe ich ehrlich bejaht. Martin hatte die Nase voll von zu Hause, sein unduldsamer und jähzorniger Vater setzte ihm oft stark zu, und er war nie fähig und auch nicht willens, sich dagegen zu wehren. Sein rationales (männliches) Denken hatte ihm zwar als Ziel vorerst nur eine gute Berufsausbildung «erlaubt», aber er hatte mir auch mal gestanden, daß das eine gute Möglichkeit wäre, aus dem unliebsamen Elternhaus wegzukommen.

Jetzt war es passiert, und für uns beide sah es alles andere als rosig aus. Martin mußte natürlich sofort von der Oberschule herunter und sich einen Arbeitsplatz suchen. Das war gar nicht so einfach; die in Frage kommenden Arbeitgeber drückten alle sein Anfangsgehalt stark herunter, vermutlich ahnten sie seine «Zwangslage». Ich war in den Wochen der Ungewißheit und auch noch danach wie gelähmt. Ich lebte wie in Trance; wieviel Überwindung hat es mich gekostet, das Ganze meiner Mutter zu beichten! Obwohl ich sonst ganz gut mit ihr reden konnte, wußte ich doch, daß sie große Hoffnungen in mich gesetzt hatte, es sollte mir schließlich besser gehen als ihr, die sie zwei Kinder wollte und vier bekam.

Der Frauenarzt hörte mir mit ungläubigem Gesicht zu, bestätigte mir nach erfolgter Untersuchung die Schwangerschaft und fragte noch beiläufig: Wie sieht’s mit dem Heiraten aus?

Wir hatten eine schöne weiße Hochzeit mit allem Drum und Dran, ich war stolz darauf, daß man es mir nicht ansah, daß ich schon im vierten Monat war. Wir bezogen für ein halbes Jahr zwei kleine Zimmer im Haus der Schwiegereltern, dann bekamen wir im gleichen Ort eine neue Drei-Zimmer-Dachwohnung. Wirtschaftlich gesehen konnten wir zufrieden sein: wir mußten weder Miete noch Verpflegung bezahlen, und so konnten wir unsere beiden Gehälter für eine nette Wohnungseinrichtung sparen.

Meine Schwangerschaft verlief völlig problemlos, außer daß ich «viel weniger Bauch» als andere Mütter hatte. Langsam begann ich mich auch auf das Kind zu freuen. Das Verhältnis zwischen Martin und seinem Vater war nach wie vor gespannt, aber wir zogen uns so viel wie möglich auf unsere Bude zurück und waren glücklich. Aufs Fernsehen konnte damals auch Martin noch gut verzichten.

In dieser Zeit trat zum erstenmal eine Änderung in Martins Verhalten ein. Vorher hatten wir immer sehr viel zusammen unternommen, ob es sich nun um Ausflüge, Vorträge, Diskussionen oder Tanz handelte. Ich hatte zwar nie Kontakt zu den anderen Gruppenmitgliedern gefunden, ich war immer nur «die Freundin von Martin», bei ihm war es nicht viel besser, aber trotzdem waren wir immer dabei. Und wenn in der Gruppe nichts los war, gingen wir zusammen spazieren oder ins Kino. Jetzt während der Schwangerschaft hatte ich natürlich keine große Lust, in der Gruppe aufzutreten, aber daß Martin selbst zum Spazierengehen immer schwerer zu bewegen war, das hat mir doch zugesetzt.

Wenn ich dann weinte und nörgelte, beeindruckte ihn das auch nicht mehr so wie früher, er begann zusehends, sich gegen meine Erpressungsversuche zu wehren. Warum haben wir nicht an Abtreibung gedacht? Nun – zu jener Zeit fing man in Deutschland gerade damit an, über eine Reform des § 218 öffentlich zu diskutieren, nach gültigem Recht war ein Abbruch nur bei Gefahr für das Leben der Mutter erlaubt. Zu jenem Zeitpunkt hätten wir beide auch nie die Kaltschnäuzigkeit besessen, uns eine Adresse in Holland zu besorgen und hinzufahren.

Die Geburt rückte näher und näher, ich nahm brav an der Schwangerschaftsgymnastik teil und kam mir während meines sechswöchigem Mutterschaftsurlaubs vor der Geburt recht verloren in dem großen Haus vor.

Meine Schwiegermutter sagte, ich solle gar nicht erst mit dem Stillen anfangen, ich dachte, warum eigentlich nicht; sie selbst hatte Martin sechs Wochen lang gestillt und dann eine Entzündung bekommen, die sie zurück ins Krankenhaus zwang. Ich wollte mein Kind stillen. Ich hatte schon verschiedentlich gehört, daß bei Stillschwierigkeiten meist psychische Ursachen vorhanden sind, von der schockierenden Stillfeindlichkeit der Krankenhäuser wußte ich damals noch nichts.

Ich ging regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen, und im siebten Monat wurde eine Ultraschall-Untersuchung gemacht, bei der man die Kopfgröße des...

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