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Angst und Geborgenheit

Soziokulturelle Folgen der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr

AutorFranz Renggli
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783688113255
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Angst und Geborgenheit - das sind die beiden Pole menschlicher Existenz. Ständig pendelt unser Leben zwischen ihnen hin und her. Wie kommt das? Wo liegt die Quelle unserer Angst und unserer Sehnsucht nach Geborgenheit? Der junge Schweizer Portmann-Schüler und Psychoanalytiker Dr. Franz Renggli machte sich mit dem Instrumentarium interdisziplinärer Wissenschaft, der Verhaltensforschung, der Psychoanalyse und der Ethnologie, auf die Suche. Er gelangte in seinem erstmals 1974 erschienenen Buch zu neuartigen, folgenschweren Einsichten: • Ängste des Kleinkinds sind angeboren, das heißt stammesgeschichtlich determiniert. • Ängste lassen sich bestimmten, in der Psychoanalyse beschriebenen Entwicklungsphasen des Kleinkindes zuordnen. • Die spezifische Behandlung des Kleinkinds durch die Mutter in jeder Entwicklungsphase hat eine spezifische Charakterstruktur des Erwachsenen mit einem mehr oder minder großen Maß an Angst und Geborgenheit zur Folge. • Die Charakterstruktur der Erwachsenen bestimmt den Charakter der Kultur. Kinder werden weiterhin schreien. Angst und die Suche nach Geborgenheit werden weiterhin existieren - aber durch Rengglis Analyse sind sie konkreter, der Reflexion zugänglicher und damit lenkbarer geworden.

Dr. phil. Franz Renggli, 1942 in Zug/Schweiz geboren, studierte in Basel Zoologie bei Professor Adolf Portmann, erhielt die Ausbildung als Psychoanalytiker im Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Freiburg. Er arbeitet als Körpertherapeut, Paar-, Baby- und Familientherapeut in Basel.

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Leseprobe

Das erste Quartal (der erste bis dritte Monat)


Die motorische Hilflosigkeit des neugeborenen Kindes ändert sich auch während des ersten Quartals kaum. Erst im dritten Monat kann es beispielsweise in Bauchlage den Kopf und die Schultern für längere Zeit über die Unterlage erheben, indem es sich auf den Vorderarmen aufrichtet, aber die Lage seines Körpers selbst kann es immer noch in keiner Weise verändern.[1] Im Gegensatz zu diesen nur langsam heranreifenden Körperbewegungen sind erste Lernvorgänge in der Ernährungssituation schon kurze Zeit nach der Geburt zu beobachten. In der 2./3. Woche wird das reflexhaft rhythmische Brustsuchen durch das gerichtete Brustsuchen abgelöst, das heißt, das Kind wendet den Kopf direkt der Reizquelle zu.[2] Im zweiten Monat schnappt es bereits nach der Brustwarze bzw. dem Sauger, wenn dieser in die Nähe der Mundregion gebracht wird.[3]

Der Beginn des Körpererforschens


Wichtig sind in diesem Quartal die allmählich einsetzenden Experimentierbewegungen: Das Kind beugt und streckt, hebt und senkt Arme und Beine; es reibt einzelne Körperteile aneinander; es nimmt die Hände in den Mund oder ergreift eine Hand mit der anderen. Im Gegensatz zu den ‹impulsiven› Bewegungen des Neugeborenen sind diese Experimentierbewegungen koordiniert und regelmäßig und werden häufig genau wiederholt. Solches Strampeln mit den Beinen und Rudern mit den Armen wird zudem vom Kind beachtet, aber nicht etwa visuell, sondern rein proprioceptiv (mit dem Muskelsinn). Darüber hinaus werden diese Bewegungsübungen von lustvollen oder freudigen Ausdrucksbewegungen begleitet, so plaudert es beispielsweise vermehrt oder beginnt umgekehrt zu schreien, wenn es gewickelt wird, nachdem es vorher frei strampeln durfte.[1] Anzumerken ist hier, daß solche Experimentierbewegungen erst im Laufe des zweiten Quartals gegenüber den ‹impulsiven› Bewegungen überwiegen, die schließlich im dritten Quartal ganz verschwinden.

Mit diesen Experimentierbewegungen beginnt das Kind, seinen eigenen Körper zu untersuchen. In demselben Zusammenhang dürfen auch die Zungen- und Lippenspiele[2] gesehen werden: Das Kind leckt beispielsweise seine Lippen, oder es läßt die Zunge zwischen Lippen und Gaumen entlanggleiten. Ist der Mund dem Kind erst einmal vertraut, kann dieser zum ‹Wahrnehmungsorgan› werden, um die eigene Hand kennenzulernen: Es steckt sie in den Mund, saugt an einzelnen Fingern, an seinem Handrücken oder an seinem Gelenk. Gegen Ende des ersten Quartals, zwischen dem zweiten bis vierten Monat, beginnt das Kind dann auch, eine Hand mit der anderen zu ergreifen und seine Hände zu betrachten. Da seine Hand- und Armbewegungen aber noch unabhängig sind vom Sehen, das heißt vom Sehen her nicht gesteuert werden können, sind Bühler und Hetzer (1927) der Ansicht, daß das Kind die Hand in dieser Phase vorwiegend als bewegten Gegenstand wahrnimmt. Piaget (1936) drückt dasselbe aus, wenn er sagt, daß das Kind versuche, mit seinem Blick zu verfolgen, was seine Hände tun.

Dieses Hand- oder Finger-in-den-Mund-Nehmen, verstanden als Körpererforschung, muß deutlich gegen das Daumenlutschen abgegrenzt werden, welches ebenfalls in dieser Zeit einsetzt oder bei einigen Kindern schon bei der Geburt vorhanden sein kann. Gesell und Ilg (1937) konnten beobachten, daß die Reaktion des Hand-in-den-Mund-Nehmens oder auch Schreiens in der Ernährungssituation sofort dann auftritt, wenn dem Kind der Nippel entzogen wird. Die Kinder in dieser frühen Phase können somit noch keinen Aufschub ihrer Bedürfnisse ertragen. Das Saugen an einem Finger, das heißt das Lutschen, hat dabei eine beruhigende Wirkung für das Kind. Man vergleiche auch die Wirkung des Schnullers bei Neugeborenen. Aber erst gegen Ende des ersten Quartals kann das Kind diese ‹Selbstberuhigung› einigermaßen erfolgreich ausführen, weil es in der ersten Lebenszeit schon bei geringen inneren Spannungszuständen ‹impulsive› Bewegungen ausführt[3] und dadurch den Finger immer wieder aus dem Mund verliert. Nach Wolff (1969) ist das Daumenlutschen eine spezifische Reaktion des Kindes auf Angst, besonders wenn es verlassen wird.

Die Zuwendung zur Umwelt


Während das Neugeborene auf die meisten Reize und Empfindungen – seien sie vom eigenen Körper oder aus der Umwelt – vorwiegend ablehnend reagiert, wendet sich das Kind im Laufe des ersten Quartals immer mehr diesen Sinneswahrnehmungen zu. Es beginnt nicht nur seinen eigenen Körper zu erforschen, wie oben geschildert, sondern es nimmt allmählich auch Umweltreize aufmerksam auf.

Nach den Beobachtungen von Bühler und Hetzer (1927) liegt gegen Ende des ersten Monats der Höhepunkt der negativen Ausdrucksbewegungen, worunter sie Schreien, Erschrecken, unruhige Bewegungen usf. verstehen. In der Folgezeit sinken diese schnell ab zugunsten der Zuwendung zu den Umweltreizen, seien es Hör- oder Sehreize usf. und schließlich auch Sensationen oder Empfindungen aus dem eigenen Körper. Der Schnittpunkt zwischen negativen und positiven Ausdrucksbewegungen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Lächeln usf., liegt nach Bühler aber erst im zweiten Quartal, das heißt erst dann überwiegen die positiven gegenüber den negativen Reaktionen. Im Zusammenhang mit dem Schreien sei auch die Klang-Spektrogrammanalysen von Wolff (1969) hingewiesen. Nach seinen Ergebnissen hat jede Art von Vokalisation im ersten Quartal ihren Ursprung im Schreien oder in einem Äquivalent des Schreiens von geringerer Intensität. An Sprachäußerungen werden in diesem frühen Lebensabschnitt vor allem Vokalplaudern ohne Konsonanten gefunden. Ein solches Plaudern kann im dritten Monat bereits in längere Stimmübungen übergehen.[1]

Die einzelnen Entwicklungsschritte des Kindes seien wiederum am Beispiel des Sehens erläutert. Schon kurze Zeit nach der Geburt dreht das Kind den Kopf nach hellen Stellen oder Flächen.[2] Im zweiten Monat kann es bereits eine Person mit seinen Augen im Raum verfolgen, sein Gesichtskreis erweitert sich also.[3] Blickt das Kind ein vorgezeigtes Objekt noch im zweiten Monat verzögert an, so erfolgt im dritten Monat ein promptes und regelmäßiges Fixieren.[4] Ferner haben Versuche von Polak u.a. (1964) ergeben, daß im dritten Monat auch das räumliche Sehen einsetzt. Dagegen entwickelt sich das Wahrnehmen von kleinen Objekten, und das heißt das Scharfsehen, erst im zweiten Quartal.[5]

Ein Problem der optischen Wahrnehmung möchte ich hier speziell erwähnen, nämlich das Konstanzsehen, mit welchem sich vor allem Piaget (1936) beschäftigt hat. Setzt man sich eine Brille aus Prismen auf, so zeigt sich die Umwelt, wie sie eigentlich auf der Retina abgebildet ist, nämlich um 180° gedreht (oben–unten vertauscht). Versucht man, mit einer solchen Brille zu laufen oder gar eine Treppe hochzugehen, so stellen sich sofort Schwindel und Unheimlichkeitsgefühle ein, weil alle vertrauten Gegenstände der Umwelt sich bei jeder Eigenbewegung mitbewegen. Piaget vermutet nun, daß das Kleinkind ähnlich sieht: Nicht es selbst bewegt sich, sondern die Gegenstände der Umwelt sieht es sich bewegen. Zu welchem Zeitpunkt diese Art von Sehen aufhört zugunsten eines hirnphysiologisch bedingten, auskorrigierenden Konstanzsehens, ist bis heute nicht geklärt.

Gegen solche Auffassungen sprechen praktisch alle neueren Experimente an Kleinkindern, die den Schluß nahelegen, daß das Sehen des Kindes wahrscheinlich zu einem großen Teil genetisch vordeterminiert ist.[6] So konnte Bower (1971) zeigen, daß neugeborene Kinder auf ein herannahendes, das heißt sich vergrößerndes Objekt mit Schrecken reagieren. Bereits Neugeborene erwarten somit – obwohl sie noch keine Erfahrungen mit Gegenständen besitzen – von einem herannahenden Objekt taktile Konsequenzen. Vielleicht noch erstaunlicher ist die Beobachtung, daß bereits so kleine Kinder um die Permanenz der Objekte wissen: Auch wenn ein Objekt hinter einem anderen verschwindet, wissen sie noch um dessen Gegenwart.[7] In dieselbe Richtung weisen auch Beobachtungen von Gibson und Walk (1960), welche zeigen, daß Kinder, die zu kriechen beginnen, bereits vor einem Abgrund erschrecken, obwohl auch sie dazu noch keine Erfahrung sammeln konnten.

Das Sozialverhalten


Wie das Neugeborene erlebt das Kind auch in den ersten drei Monaten Kontakt in erster Linie durch unmittelbare Nähe zu einer Pflegeperson, das heißt in Form von Körperkontakt. Beobachtungen von Schaffer und Emerson (1964 a) ergaben, daß praktisch alle Kinder in diesem Alter beruhigt werden können, indem man sie auf den Arm nimmt. Umgekehrt beginnen sie zu weinen, wenn sie aus der Körperkontaktsituation in die Wiege zurückgelegt werden. Allerdings können sie teilweise dadurch beruhigt werden, daß man zu ihnen spricht[1], das heißt, sie unterscheiden schon in diesem frühen Alter (ab erstem Monat) die menschliche Stimme von allen anderen akustischen Reizen.[2] Als Reaktion darauf versucht das Kind, ins Gesicht der betreffenden Person zu blicken oder aber später zu lächeln.

Dieselbe Verhaltensweise, nämlich ins Gesicht der Pflegeperson zu blicken, zeigt das Kind im zweiten Monat auch in der Ernährungssituation, aber erst dann, wenn es allmählich satt wird. Die Beobachtung von Spitz (1967), nach welcher Brustkinder öfter ins Gesicht der Mutter blicken als Flaschenkinder, ist falsch. Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der...

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