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E-Book

Kerkerjahre

Als Geiseln der uruguayischen Militärdiktatur

AutorEleuterio Fernández Huidobro, Mauricio Rosencof
VerlagAssoziation A
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783862416301
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'Dieses Buch feiert einen Sieg der menschlichen Sprache. Seine Autoren rufen ihre Erfahrungen im Reich der Stille und des Terrors wach. Sie erzählen, wie sie, wie Efeu an der Mauer dem Leben verhaftet, ihre Würde als Menschen vor einem System retten konnten, das sie in den Wahnsinn treiben und in leblose Dinge verwandeln wollte', schreibt Eduardo Galeano im Vorwort des Buches. Der Dialog der beiden Autoren, die als gefangene Tupamaros während der uruguayischen Militärdiktatur elf Jahre lang in Kerkern buchstäblich lebendig begraben waren, stellt ein herausragendes Dokument der Gefängnisliteratur dar. Verfilmt unter dem Titel 'Compañeros' von Alvaro Brechner mit Antonio de la Torre in der Hauptrolle des Pepe Mujica, des späteren Präsidenten Uruguays. Eine 'Hommage an alle politischen Gefangenen und an jene, die Widerstand leisten gegen die Barbarei der Menschen' (Jury des Filmfestivals in Fribourg).

Mauricio Rosencof, geboren am 30. Juni 1933 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Polen in Florida/Uruguay. Schriftsteller und Dramaturg. Führendes Mitglied der Stadtguerilla MLN-Tupamaros. 1972 verhaftet, nach dem Militärputsch ein Jahr später zusammen mit acht weiteren Gefangenen von den Militärs entführt und in Kasernen des Landes als Geisel des Staates in Isolationshaft gefangen gehalten. Freilassung 1985 nach dem Ende der Diktatur. Unter der Regierung des Linksbündnisses Frente Amplio Kulturdirektor von Montevideo. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane 'Der Bataraz' und 'Die Briefe, die nicht ankamen'. Eleuterio Fernández Huidobro, genannt 'el Ñato', geboren am 14. März 1942 als Sohn spanischer Einwanderer in Montevideo, gestorben am 5. August 2016. Gründungsmitglied und theoretischer Kopf der Stadtguerilla MLN-Tupamaros. Mehrfach verhaftet, Flucht aus dem Gefängnis. Nach dem Militärputsch 1973 entführt und als Geisel des Staates in Isolationshaft. Freilassung 1985. Reorganisation der Tupamaros als politische Partei. Historiograf der Bewegung, zahlreiche Bücher. Senator für das Linksbündnis Frente Amplio und Verteidigungsminister des Landes von 2011 bis zu seinem Tod.

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Leseprobe

Erstes Buch


»WIR WERDEN SIE IN DEN WAHNSINN TREIBEN«


MR: Wir hatten Revierdienst und waren gerade dabei, den Gang zu fegen, als sie uns an jenem Tag urplötzlich in die Zellen beförderten, den Hofgang und die Arbeit strichen und irgendwo draußen ein Flugzeug landete, in dem sie Gefangene aus dem Landesinnern brachten; ich weiß nicht mehr, ob aus Paysandú oder Artigas. Sie haben sie brutal zusammengeschlagen.

Die Antwort aus dem Knast ließ nicht lange auf sich warten. Mit den kleinen Blechkännchen, die wir für den Milchkaffee hatten, fingen wir alle an, gegen die Eisentüren zu schlagen. Danach blieb uns das Gefühl, dass sie Strafen verhängen würden, vor allem gegen uns. Ein Major hatte das schon vorexerziert (der, dem sie jedes Mal, wenn er am Zellentrakt vorbeikam, irgendwas nachgebrüllt haben).

FH: Zum Beispiel: »Schlappschwanz!«.

MR: Wir haben einen Donner aus Blech verursacht, und der Blitz folgte um zwei oder drei Uhr morgens …

FH: Am 7. September 1973; man müsste mal im Kalender nachschauen, ob es ein Donnerstag oder ein Freitag war. Sie kommen an und befehlen uns, aufzustehen und uns anzuziehen. Zumindest mir haben sie das befohlen. Ich sollte aufstehen, mich anziehen, Zahnbürste, Seife und Klopapier zusammenpacken, kein Stück mehr.

MR: Es gab da einen schlacksigen Arzt, der uns, ohne einen Laut, mit dem Stethoskop untersucht hat. Alles geschah in absoluter Stille, heimlich …

FH: Alarmierend …

MR: Sie führen mich ins Erdgeschoss, stellen mich neben dich. Dort haben wir miteinander geflüstert: »Was ist los?« – »Keine Ahnung«, hast du zu mir gesagt.

FH: Das muss das letzte Mal gewesen sein, dass wir miteinander gesprochen haben.

MR: Dass wir uns gesehen haben …

FH: Dass wir uns gesehen haben.

MR: Erst viele Jahre später haben wir uns wieder zu Gesicht bekommen, obwohl wir die ganze Zeit zusammen waren, mit einer Mauer zwischen uns.

FH: Sie bringen uns zu einem Waschraum im Erdgeschoss, der nur vom Militärpersonal benutzt wurde. Sie legen mir Watte auf die Augen, machen einen Verband drum, stülpen mir eine Kapuze über und fesseln mich mit Draht.

MR: All das ohne ein Wort. Die Kapuzen waren riesige Säcke.

FH: Ja, es war keine normale Kapuze.

MR: Sie waren aus Segeltuch und verdreckt.

FH: Lang.

MR: So dass sie dir bis auf die Brust hing.

FH: Wir werden sie lange Zeit benutzen.

MR: Lange.

FH: Keiner sprach. Nicht einmal der Offizier mit seinen Untergebenen oder der Gefreite mit den Soldaten. Es gab Befehl, keinen Ton zu sagen, alle Anweisungen wurden durch Gesten erteilt. Und obwohl ich schlecht geschlafen hatte, hatte ich nicht gehört, wie die Lastwagen ans Erdgeschoss herangefahren wurden.

MR: Merkwürdig, als wir nach unten gingen, habe ich mehrere Gefangenentransporter gesehen.

FH: Die standen dort, aber gehört habe ich nichts. Es war eine lautlose Operation. Als ob sie wollten, dass die anderen nichts mitkriegten. Es war ein verschämter Transport, ein Transport, bei dem sie wussten, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

MR: Eine Ewigkeit später, als ich schon frei war, hat mir ein Journalist während einer Reportage für die BBC in London etwas erzählt, was ich nicht gewusst hatte: Der Oberst, der für die Operation verantwortlich war, hatte erklärt: »Wenn wir sie schon nicht umbringen konnten, als wir sie geschnappt haben, werden wir sie in den Wahnsinn treiben.« Das war das Vorzeichen, unter dem das Abenteuer stehen sollte, das in jenem Augenblick seinen Anfang nahm.

DIE GESETZE DES IRREALEN


FH: Wie Abfall haben sie uns hinten in den Laster geschmissen. Wir konnten nicht mehr auseinanderhalten, wie viele und wer wir waren, die Stille und die Dunkelheit waren absolut.

MR: Das Ziel: unbekannt. Sie hatten noch einen Dritten zu uns geworfen. Wen? Ich fing an, daran zu zweifeln, dass da noch ein Dritter war, selbst daran, dass du dabei warst. War ich überhaupt da? All das war unwirklich, gespenstisch.

FH: Es war sinnlos, zu schreien, zu fluchen oder irgendetwas anderes zu tun. Wenn ich mich irgendwie zurechtgelegt hatte, war die einzige Reaktion ein Schlag oder ein harter Stoß, der mich wieder in die alte Position zurückbringen sollte.

MR: Weißt du, wann ich herausfand, mit wem ich zusammen war? Als Pepe anfing, immer wieder darum zu bitten, dass sie ihn scheißen lassen sollten. Pepe war krank, als sie uns geholt haben.

FH: Er hatte chronischen Durchfall.

MR: Ich höre, wie du sagst: »Lassen Sie ihn gehen, er ist doch krank.«

FH: Die Fahrt ging stundenlang.

MR: Dass es so lange dauerte, hat uns durcheinandergebracht. Auch die Art der Straße. Eine gut ausgebaute Straße gab uns das absurde Gefühl, wir würden an einen »zivilisierten« Ort gebracht werden. Als dann das Rütteln anfing, haben wir gedacht: »Wohin, verdammt noch mal, fahren die uns?« Ich habe das Zeitgefühl verloren, der Kopf war auf einmal ganz woanders, bei anderen Ereignissen, Erinnerungen, und ich wusste nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war. Es konnten drei Stunden oder dreißig Minuten sein.

FH: Auf jeden Fall hat Pepe nach einiger Zeit, als er es allem Anschein nach nicht mehr aushielt, zu uns gesagt: »Also, Genossen, tut mir leid, aber ich werde jetzt einfach hier scheißen.«

MR: Das nächste Problem war dann, dass die Wache den Gestank nicht mehr aushielt. Nach etlichen Stunden kamen wir schließlich in einer Kaserne an.

FH: Sie haben uns, gefesselt und mit Kapuze, so wie wir angekommen waren, aus dem Laster geholt und in einem der Kerker strafstehen lassen, das heißt aufrecht und ohne die Wand zu berühren; sobald du dich angelehnt hast, weil du’s nicht mehr ausgehalten hast, haben sie dich zusammengeschlagen.

MR: Nachdem uns so eine ganze Horde von Stiefeln fertiggemacht hatte, haben uns die Chefs und Offiziere besichtigt wie Tiere im Zoo. Der Kommandant hat auf uns herabgeblickt wie Napoleon aus dem Bilderrahmen.

FH: Am nächsten Tag, frühmorgens, wir hatten nichts gegessen und die ganze Zeit gestanden, haben sie uns einer anderen Einheit übergeben, diesmal der Kavallerie. Ihr Lastwagen war anders. Noch klappriger. Sie haben unsere Füße mit Draht gefesselt und uns in den Laderaum zwischen zwei riesige Ersatzreifen geschmissen, die durch die Gegend flogen und etliche Male auf uns drauf rollten. Der Weg, den sie ausgesucht hatten, war nicht gepflastert. Offensichtlich waren noch andere Fahrzeuge dabei. Die Fahrt hat so lange gedauert, dass sie auf halber Strecke halten und die Tanks auffüllen mussten.

MR: Die Bretter der Ladefläche war mit Eisenbändern und Bolzen zusammengehalten. Daran haben sie sorgfältig unsere mit Draht gefesselten Knöchel festgezurrt. Obendrauf noch ein Stiefel, der uns den Knöchel massiert hat – es war ein Kampf zwischen Knöchel und Bolzenkopf; der Knöchel hat verloren.

FH: Er verlor immer wieder. Es war eine unvergessliche Reise. Mit dem Stiefel auf dem Rücken, ohne zu essen, ohne zu schlafen, hatten wir bald jede Hoffnung auf Besserung aufgegeben.

MR: Anscheinend verlangt der Organismus in solchen Momenten von der Psyche, dass sie ihn mit irgendeiner angenehmen Vorstellung aufrechterhält.

FH: Wir begaben uns langsam in ein Universum, in dem die konkrete Realität für uns an Wert verlor und etwas anderes ihre Stelle einnahm. Jemand, der durchs Land reist, hat eine Karte bei sich und sieht, wo er langfährt. Er hat nicht den geringsten Zweifel daran. Am Handgelenk...

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