Kapitel 2
Ketone: Der Superkraftstoff für unseren Körper
Therapeutisches Fasten und die ketogene Diät
Die ketogene Diät gibt es seit den 1920er-Jahren. Ihre Ursprünge liegen im therapeutischen Fasten, das Anfang des 20. Jahrhunderts eine beliebte Behandlungsmethode vieler chronischer Beschwerden war. Die Patienten fasteten bis zu 30 Tage lang oder zuweilen sogar noch länger und nahmen dabei ausschließlich Wasser zu sich. Mit der Fastentherapie wurden zahlreiche schwer zu behandelnde Gesundheitsprobleme angegangen, etwa Verdauungsstörungen, Arthritis und Krebs. In vielen Fällen erwies sich das längere Fasten als sehr effektiv.
Eine der Erkrankungen, die auf die Fastentherapie sehr gut ansprach, war Epilepsie. Das 2- bis 4-wöchige Fasten reduzierte die Häufigkeit von Krampfanfällen drastisch, und dieser Effekt hielt noch lange danach an. Manchmal erbrachte es sogar eine vollständige Heilung.
Einer der entschiedensten Befürworter der Fastentherapie für Epileptiker war Dr. Hugh Conklin, ein Osteopath aus Wisconsin. Er empfahl eine 18- bis 25-tägige Fastenkur. Mit seiner »Wasserdiät« behandelte er Hunderte von Epilepsiepatienten und erzielte eine 90-prozentige Heilungsrate bei Kindern; bei Erwachsenen betrug sie immerhin noch 50 Prozent.
Dr. H. Rawle Geyelin, ein prominenter Kinderarzt aus New York, sah Conklins Erfolge mit eigenen Augen und testete die Kur an 36 eigenen Patienten. Er erzielte ähnliche Resultate. Seine Patienten waren zwischen 3½ und 35 Jahre alt. Nachdem sie 20 Tage lang gefastet hatten, waren 87 Prozent von ihnen frei von jeglichen Krampfanfällen. Geyelin präsentierte seine Erkenntnisse 1921 auf der alljährlichen Konferenz der American Medical Association in Boston und führte so die Fastentherapie als gängigste Behandlungsform bei Epilepsie ein.
In den 1920er-Jahren, als Phenobarbital und Bromid die einzigen erhältlichen krampflösenden Mittel waren, stießen die Berichte, dass Fasten Epilepsie heilen könne, auf großes Echo und lösten geradezu hektische klinische Untersuchungen und Forschungen aus.
Als Resultat der Fastenkur blieben viele Epileptiker jahrelang, wenn nicht sogar ihr ganzes Leben lang von Krampfanfällen verschont. Bei anderen wirkte die Kur nur vorübergehend, etwa 1 oder 2 Jahre lang. Betroffene Kinder waren zu 18 Prozent ihr ganzes restliches Leben frei von Krämpfen. Erneutes Fasten stoppte die Anfälle erneut, aber es gab keine Garantie, wie lange das anhielt. Längeres Fasten schien bessere Resultate zu zeitigen, für manche Patienten schien jedoch die Zeitdauer, die nötig war, um eine dauerhafte Besserung zu erzielen, nicht praktikabel; Menschen können nur eine bestimmte Zeit auf Nahrung verzichten. Die Wissenschaftler begannen, nach Wegen zu suchen, den metabolischen und therapeutischen Effekt des Fastens nachzuahmen und den Patienten gleichzeitig zu erlauben, ausreichend Nahrung aufzunehmen, um längere Zeit durchzuhalten – und hoffentlich eine höhere Heilungsrate zu erzielen. Das Ergebnis war die Entwicklung der ketogenen Diät.
Unter normalen Umständen verbrennen wir Glucose zur Energiegewinnung. Beim Fasten jedoch, wenn keine Glucose – oder Nahrung, die in Glucose umgewandelt werden kann – konsumiert wird, verwendet der Körper eingelagertes Fett, um seinen Energiebedarf zu stillen. Ein Teil dieses Fetts wird in der Leber in wasserlösliche Verbindungen (Beta-Hydroxybutyrat, Acetoacetat und Aceton) umgewandelt, die unter der Sammelbezeichnung Ketonkörper oder schlicht Ketone bekannt sind. Normalerweise verwendet das Gehirn Glucose, um seinen Energiebedarf zu decken. Wenn aber Glucose nicht zu haben ist, kann es Ketone als Energiequelle nutzen. Andere Organe und Gewebe im Körper können Fett als Energielieferant heranziehen, nicht aber das Gehirn – es muss entweder Glucose oder Ketone zur Verfügung haben. Ketone sind sogar eine höher konzentrierte und effizientere Energiequelle als Glucose. Eine effizientere Energieproduktion sorgt dafür, dass das Gehirn besser funktioniert. Ketone sind zudem neuroprotektiv, weshalb in einem Gehirn, das mit Ketonen »betankt« ist, die von Epilepsie ausgelösten Fehlfunktionen oder Kurzschlüsse überbrückt werden. Das Gehirn kann sich nach und nach neu vernetzen und sich selbst heilen.
Der erhöhte Ketonspiegel im Blut während des Fastens kann noch verdoppelt werden, einfach indem man den Konsum von Kohlenhydraten (Stärke und Zucker) – den größten Glucoselieferanten in der Nahrung – einschränkt. Kohlenhydrate bestehen aus Glucosemolekülen und anderen Zuckern, die der Körper in Glucose umwandelt. Stärke und Zucker sind in allen Nahrungspflanzen enthalten, am meisten jedoch in Getreide, Obst und stärkehaltigem Gemüse wie Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Ballaststoffe, die ebenfalls als Kohlenhydrate gelten, werden nicht zu Glucose verarbeitet, weil unser Körper nicht die Enzyme hat, die nötig wären, um sie aufzuspalten. Deshalb bleiben die Glucosemoleküle von Ballaststoffen an Ort und Stelle eingeschlossen, während sie den Verdauungstrakt durchlaufen. Fleisch und Eier enthalten nur eine sehr kleine Menge an Kohlenhydraten und Fett so gut wie gar keine.
Die ketogene Diät war entwickelt worden, um die Kohlenhydratzufuhr deutlich zu reduzieren und die Kalorien der Kohlenhydrate durch Fett zu ersetzen. Der Eiweißkonsum musste ebenfalls eingeschränkt werden, da einige Proteine in Glucose umgewandelt werden könnten. Die ketogene Diät besteht aus sehr wenig Kohlenhydraten, vielen Fetten und ausreichend, aber nicht zu vielen Proteinen. Ballaststoffreiche Kohlenhydratnahrung wird gegenüber stärke- und zuckerreicher bevorzugt. Die Diät liefert gerade genug Eiweiß sowie reichlich Kalorien und Nährstoffe, um Wachstum sowie Instandsetzung und – haltung zu unterstützen.
Die klassische ketogene Diät aus den 1920er-Jahren besteht aus einem Verhältnis von vier Teilen Fett und einem Teil Proteine und Kohlenhydrate (bei Kindern und Jugendlichen beträgt dieses Verhältnis 3:1 statt 4:1). Jede Mahlzeit enthält also viermal so viel Fett wie Eiweiß und Kohlenhydrate zusammengenommen. 1 Gramm Fett liefert 9 Kalorien, 1 Gramm Eiweiß oder Kohlenhydrat liefert 4 Kalorien. Eine ganz normale Ernährung besteht aus etwa 30 Prozent Fett, 15 Prozent Eiweiß und 55 Prozent Kohlenhydraten. Das gewichtsmäßige 4:1-Verhältnis der ketogenen Diät entspricht rund 90 Prozent Kalorien aus Fett, 8 Prozent aus Proteinen und 2 Prozent aus Kohlenhydraten. Die Kohlenhydratzufuhr wird auf etwa 10 bis 15 Gramm täglich reduziert. Verboten sind die meisten kohlenhydratreichen Getreide, Früchte und Gemüsesorten, also Brot, Mais, Bananen, Erbsen, Kartoffeln etc. Anfangs wurde die Kalorienzufuhr insgesamt auf 80 bis 90 Prozent des geschätzten Ernährungsbedarfs beschränkt, weil man glaubte, dass dies den Ketonspiegel verbessere. Das war kein großes Problem, weil Ketone dazu neigen, Hunger zu lindern, sodass die Patienten weniger essen und sich trotzdem gesättigt fühlen können, ohne hungern zu müssen. Die Flüssigkeitszufuhr wurde am Anfang auf 80 Prozent des normalen Tagesbedarfs beschränkt. Das geschah ebenfalls in dem Glauben, dass es den Ketonspiegel im Blut erhöhe. Aber der Flüssigkeitsmangel führte zu einem höheren Nierensteinrisiko. Später fand man heraus, dass die geringere Flüssigkeitszufuhr keinen Vorteil bringt, und die Einschränkung wurde wieder verworfen.
Da jede Kalorie aus Fett, Eiweiß und Kohlenhydrat präzise errechnet und gemessen wurde, sollte der Patient immer eine ganze Mahlzeit zu sich nehmen, ohne irgendwelchen Aufschlag. Jede Mahlzeit sollte in besagtem 4:1- beziehungsweise 3:1-Verhältnis zusammengestellt sein. Jeder Snack musste in die tägliche Kalorienzuteilung einberechnet werden und dasselbe Mengenverhältnis aufweisen. Folglich nahm die Zubereitung von Haupt- und Zwischenmahlzeiten viel Zeit in Anspruch und verursachte einen großen Aufwand.
1921 prägte Dr. Russell Wilder von der Mayo Clinic den Begriff »ketogene Diät« für eine Ernährungsweise, die durch den Konsum einer fettreichen, kohlenhydratarmen Kost für einen hohen Ketonspiegel im Blut sorgt. Er setzte als Erster die ketogene Diät in der Behandlung von Epilepsie ein. Wilders Kollege Mynie Peterman entwickelte später die klassische ketogene 4:1-Diät. Sein Ernährungsplan lieferte täglich 1 Gramm Proteine pro Kilogramm Körpergewicht und 10 bis 15 Gramm Kohlenhydrate, der Rest der Kalorien wurde durch Fett aufgenommen. Peterman dokumentierte positive Auswirkungen wie eine Verbesserung von Aufmerksamkeit, Verhalten und Schlaf sowie eine bessere Kontrolle der Krampfanfälle. Die Diät erwies sich als sehr erfolgreich, insbesondere bei Kindern. 1925 berichtete Peterman, dass durch die Diät bei 95 Prozent seiner Patienten die Krampfanfälle besser kontrollierbar und 60 Prozent von ihnen vollständig frei von Krampfanfällen wurden. Das ist eine ungewöhnlich hohe Heilungsrate für eine Krankheit, die ansonsten als unheilbar galt.
Die Diät hatte jedoch auch ihre Schattenseiten. Eine Reihe von Patienten fand die ketogene Diät zu schwierig in der Zubereitung und unappetitlich, und Kinder weigerten sich häufig, sich längere Zeit an die Diät zu halten. In der Folge hielten viele nicht lange genug durch, um zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Bis zu 20 Prozent brachen die Diät ab. 1938 wurde ein neues krampfhemmendes Medikament entwickelt, Phenytoin [Dilantin; in Europa unter anderem unter dem Handelsnamen Epanutin erhältlich, Anmerkung der Redaktion]. Eine Pille einzuwerfen war viel einfacher, als sich um die Zubereitung und den Verzehr einer speziellen Diät zu kümmern. Der Fokus der Forschung verlegte sich schnell auf die Entwicklung neuer Arzneimittel. Die...