1. Wenn der Staat nach den Kindern greift: Die „Klimaabkühlung“ für Mutter und Kind
Eine Mutter und ihr Kind – ein Urbild für Liebe, Glück und Wärme. Auch heute noch. Wie die Mutter-Kind-Beziehung in der Menschheitsgeschichte gelebt wurde, unterlag im Detail verschiedenen kulturellen Einflüssen und Veränderungen. Über die Bedeutung dieses elementaren Lebenszusammenhanges für den Fortbestand und die Zukunft eines Volkes war man sich, seitdem die Menschheit besteht, offensichtlich einig. Erstmals ab dem 20. Jahrhundert trat hier in unserem Kulturkreis ein Wandel ein: Zwei schwere Kriege bedeuteten unter dem Strich Arbeitskräftemangel in der Industrie, und das Fehlen der Männer als Ernährer der Familien erforderte das Nachrücken der Frauen in die Berufstätigkeit. Außerdem waren totalitäre Regime entstanden, die ein Interesse an der massenhaften Manipulation der Menschen hatten, unter anderem aus Gründen des Machterhalts. Man wusste, dass die Kinder immer am leichtesten zu beeinflussen sind. So begann „Vater Staat“ nach den Kindern zu greifen: Er übernahm selbst die Erziehung, indem er finanziellen Druck und ideologische Kunstgriffe einzusetzen wusste, um die Mütter früh von ihren Kindern zu trennen. So kam die Mutter-Kind-Beziehung immer mehr ins Abseits. Der Staat selbst hatte ein Interesse daran, diese Beziehung zu stören, um seine eigenen Interessen an den Kindern durchzusetzen und sie „nach seinem Bilde“ zu formen. Unter diesen Umständen wird es für Mutter und Kind immer schwerer, zueinander zu finden und sich aneinander zu binden, weil es unweigerlich zu einer gesamtgesellschaftlichen „Klimaabkühlung“ für die Mutter-Kind-Beziehung kommt. Es wird hart für beide. Sowohl als Mutter als auch kleines Kind habe ich damit persönliche Schlüsselerfahrungen gemacht. Diese haben nicht nur mein weiteres Leben nachhaltig beeinflusst, sondern sind auch die Ausgangspunkte dieses Buches.
Den Anfang macht das erste Kind:
Ein Wunder und viele Fragen
Mutter wird man mit dem ersten Kind, und das ist wohl eine der nachhaltigsten Umstellungen im Leben einer Frau. Schon in der Schwangerschaft habe ich es so empfunden: Neues Leben in mir! Ich begann in einer völlig anderen Dimension zu denken und zu handeln, nämlich immer für zwei: Ich liebte dieses Kind und wünschte ihm nur das Allerbeste. Jeder hat schließlich seine Kindheit nur einmal. Ich spürte, dass meine Verantwortung und die meines Mannes größer sein würden, als uns lieb sein konnte. Viele Fragen beschäftigten mich: Wie würde wohl die Geburt werden, würde ich stillen können, kann ich überhaupt mit Kindern umgehen – ich hatte da so meine Zweifel, weil es in meinem unmittelbaren Umfeld kaum Babys gab – bzw. kann bzw. sollte man Babys schon erziehen?
So wie es meine Art ist, mich auf wichtige Dinge gut vorzubereiten, ging ich auch in diesem Fall vor: Ich suchte Bücher zur Geburtsvorbereitung und Babypflege. Mitte der 1980er Jahre, als noch „tiefste DDR“ war, war zu diesen Themen nicht viel zu finden; nur ein Buch schien mir überhaupt brauchbar zu sein, weil es wenigstens einen kleinen Abschnitt zum Thema Stillen enthielt. Trotz intensiver Lektüre und Austausch mit meiner Mutter kam ich mir vor, als sollte ich zu einer Prüfung gehen, für die ich nicht nur nicht vorbereitet war, sondern für die ich nicht einmal den Prüfungsstoff kannte.
Heute, unter bundesdeutschen Verhältnissen, hat sich die Lage vollkommen geändert. Man kann sich vor Ratgebern zwar kaum mehr retten, verwirrend sind aber die Fülle und die verschiedenen Meinungen. Viele Mütter stehen heute noch fast genauso ratlos da, wie ich in DDR-Zeiten. Da ihnen gute Vorbilder häufig fehlen und sie dadurch meist keinen Maßstab zur Beurteilung dessen haben, was sie über Kinder und das Muttersein lesen oder hören, fällt es ihnen schwer, zu erkennen, was denn wirklich wesentlich und tragfähig ist. Ich habe im Laufe der Jahre feststellen dürfen, dass wir als Mütter keine Übermenschen sein müssen, sondern dass wir eigentlich nur „das Normale“ tun müssen. Was „das Normale“ ist und warum es uns oft so schwer fällt, es zu tun, darauf werde ich noch ausführlich eingehen.
Damals wusste ich nur zwei Dinge genau: Erstens wollte ich mein Kind stillen und zweitens wollte ich es nicht in die Krippe bringen. Bereits das erste Anliegen stellte sich als schwierig heraus. Heute weiß ich, dass nicht nur die schwere Geburt an sich, sondern die Tatsache, dass ich mein Kind erst ca. zwölf Stunden später das erste Mal im Arm halten und stillen durfte sowie der straffe Vier-Stunden-Stillrhythmus im Krankenhaus – wobei man die Kinder für zwanzig Minuten zum Stillen bei sich hatte –, die Milchbildung nicht recht in Gang kommen ließen. Abnabeln auf dem Bauch der Mutter, warten, bis das Baby von selbst an die Brust robbt, ständiges Rooming-in (Praxis in Krankenhäusern, mit der es Eltern ermöglicht wird, mit ihrem Kind im selben Zimmer aufgenommen zu werden und dadurch durchgehend anwesend zu sein), Stillen nach Bedarf oder Schlafen bei der Mama im Bett – kurz, alles was die so unendlich wichtige „erste Bindung“ zwischen Mutter und Kind erzeugt – gab es meines Wissens nach nirgends in der DDR.
Aber von all dem wusste ich damals noch nichts. Ich war unglücklich, weil ich zu wenig Milch hatte; ich kam mir regelrecht fehlkonstruiert vor. Bei der Entlassung aus der Klinik hatte ich das Gefühl, mit einem fremden Kind entlassen zu werden. Ich wollte mir das aber nicht eingestehen; ja, ich schämte mich für solche Gefühle. Schließlich darf einem doch das eigene Kind nicht fremd sein? Heute weiß ich, dass es vielen Müttern so erging und oft immer noch so ergeht, wenn das Krankenhausregime so ist, dass Mutter und Kind es schwer haben, sich aufeinander einzustellen.
Erst zu Hause, als ich endlich mehr mit meinem Kind zusammen sein konnte, kam in mir ein tiefes Glücksgefühl auf: Dieses kleine Kind, mein Kind, unser Kind … alles so fein gebildet … aus nur zwei Zellen entfaltet – ein Wunder! Der Reichtum der ganzen Welt schien sich in diesem kleinen Bündel zu vereinigen. Die Stillschwierigkeiten aber blieben. Alles was ich wusste, war, dass ich stillen wollte und dass man nach Bedarf stillen sollte. Der Kleine schien aber keinen Bedarf zu haben; er schlief fast nur, und ich war ratlos. Da er nicht zunahm, wurde er mit vier Wochen in die Kinderklinik eingewiesen. An eine Einweisung auch für mich war unter den damaligen Verhältnissen nicht zu denken. Unter Aufbietung meiner ganzen (geringen) Kraft als Wöchnerin setzte ich durch, dass ich wenigstens dreimal am Tag zum Stillen kommen durfte. Eine Schwester warf mir die Bemerkung zu: „Mit den 50 g (Muttermilch) können Sie keinen Blumentopp gewinnen. Es gibt eben welche, die wollen unbedingt stillen … Manche sind sogar so verrückt, die wollen auch noch drei Jahre zu Hause bleiben.“ Bei diesen Worten verlor ich fast die Fassung. Ich wurde hier für „verrückt“ erklärt, weil ich einfach für mein Kind da sein wollte. Die Tränen liefen. Es tobte in mir eine Mischung aus Angst, dass meine Milch noch mehr zurückgehen könnte, und ohnmächtiger Wut. Wut auf ein Regime, eine Ideologie, deren Ziel es war, Müttern ihre Kinder quasi aus der Hand zu nehmen, um selbst gleich die Hand darauf zu haben. Wut auf ein Regime, das Menschen wie diese Schwester so geprägt hat, dass sie auch noch von der Richtigkeit ihrer Ansichten überzeugt waren.
Meinem Kind wurde dann Zwiemilchernährung verordnet. Ich fügte mich, weil ich nichts anderes kannte. Es war einfach keiner da, der es besser wusste oder den man hätte fragen können. Erst in der zweiten Schwangerschaft – etwa zur Wende – fiel mir ein Stillbuch in die Hände, das kurz zuvor noch in der DDR erschienen war. Hier fand ich diejenigen Informationen, die ich gebraucht hätte, um voll stillen zu können. Hochmotiviert begann ich meine neugeborene kleine Tochter zu stillen. Mit den entsprechenden Informationen ausgerüstet, klappte es diesmal wunderbar, und ich erlebte mit meinem Kind eine lange, wunderbare Stillzeit. Bereits auf der Entbindungsstation gab ich mein Wissen an andere Mütter weiter. Weil ich es selbst erlebt hatte, wie deprimierend es ist, wenn man niemanden fragen kann, wurde ich später ehrenamtliche Stillberaterin.
Das Nächste, was mir dann bei meinem ersten Kind arg zusetzte, war die im fünften Monat fällige Krippenanmeldung. Mein Kind in die Krippe bringen, das wollte ich auf keinen Fall. Jede Faser sträubte sich mir dagegen. Ich schickte Stoßgebete zum Himmel, denn mir war völlig unklar, wie ich mich beim Rat der Stadt (Stadtverwaltung) verhalten sollte. Immerhin trat man ja, wenn man sein Kind nicht in eine Krippe bringen wollte, letztlich offen gegen die herrschende Ideologie und den sozialistischen Staat an, und das konnte, je nachdem, wie „linientreu“ diese Amtsperson sein würde, sehr unangenehm werden. Aber ich wurde angenehm...