| Ungeschickte Kinder
Probleme zu Hause, in der Schule und Freizeit
Emily, Teil 1
„Emily, wo bleibst Du denn?” Frau Schmidt steht an der Treppe und schaut verzweifelt auf die Uhr. Jeden Morgen das Gleiche. Emily wird nicht mit dem Anziehen fertig. Sie hat ihrer 7-jährigen Tochter Hosen ohne Reißverschluss und ohne Knöpfe sowie Schuhe mit Klettverschluss besorgt, damit es morgens schneller geht. Jetzt rennt die Mutter die Treppe rauf, um nachzusehen, was es für Probleme gibt.
Emily sitzt mit rotem Kopf auf einer Bank, vor ihr stehen ihre roten Lieblingsschuhe. Glänzender Lack mit kleinen Schmetterlingen drauf. Dunkelrot sind die Schnürsenkel. Emily wickelt immer wieder den einen Schnürsenkel richtig um den anderen, zieht ihn aber nicht durch die Schlaufe und es kommt keine Schleife zustande.
Am Wochenende haben die Eltern sich wieder bemüht, Emily beizubringen, wie man eine Schleife bindet. Aber es klappt einfach nicht. Immer wieder versucht Emily es mit viel Anstrengung, aber leider immer ohne Erfolg. Frau Schmidt hat es dann schließlich aufgegeben, nachdem sie es Emily mindestens 15-mal vorgemacht hat.
„Ich will doch heute die schönen Schuhe anziehen. Nach der Schule ist der Kindergeburtstag bei Katrin. Das weißt Du doch, Mama.”
„Ja, stimmt. Du hast ja auch gestern die Geburtstagskarte geschrieben. Warte, ich helfe Dir schnell mit den Schnürsenkeln, wir sind spät dran.”
Frau Schmidt bindet die Schnürsenkel zu, Emily sieht ihr enttäuscht zu.
Sie denkt an die Geburtstagskarte, die ihr auch nicht gut gelungen ist. Die Buchstaben sehen krumm und schief aus, mit dem „t” kommt sie immer noch nicht klar, das „s” ist viel zu eckig und immer wieder brechen die Buntstifte ab, auch wenn sie sich noch so viel Mühe gibt. „Ich kriege einfach nichts richtig hin”, denkt sie traurig.
Nachdem Katrin die Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausgeblasen hat, gehen die Kinder gemeinsam auf die Spielstraße vor dem Haus. Marie malt ein Hüpfkästchen auf den Bürgersteig. Drei Mädchen fangen an, Steine in das Hüpfkästchen zu werfen und auf einem Bein zu hüpfen. Emily steht am Rand und sieht zu. Auf einem Bein hüpfen, das klappt bei ihr nicht. Ein paar Kinder fahren mit den Fahrrädern die Straße rauf und runter. Auch da kann Emily leider nicht mithalten. Sie fährt noch mit Stützrädern und das wäre ihr zu peinlich. Die anderen würden sie bestimmt „Baby” nennen. Als eine Stunde später ihre Mutter und Hanna, ihre 4 Jahre alte Schwester, kommen, steht Emily erleichtert von der Schaukel in Katrins Hof auf. Mit Hanna spielt sie noch eine Weile in Katrins Zimmer Puzzle, bevor es nach Hause geht.
„Es hat mir leidgetan, dass Emily die meiste Zeit des Nachmittags nur zugeguckt hat. Aber ich habe sie ein paar Mal gefragt, ob sie nicht mitspielen will. Aber sie wollte nicht. Ist das immer so mit ihr?”, fragt Katrins Mutter.
Frau Schmidt zuckt mit den Schultern. „Leider ja, Emily hat so viele praktische Probleme. Sie kann nicht auf einem Bein hüpfen und nicht ohne Stützräder Rad fahren, sie kann keine Schleife binden, keine Knöpfe schließen. Ihre Schrift ist eine Katastrophe. Und in der dritten Klasse wird das alles bestimmt noch schlimmer. Mir graut schon vor den Sportfesten. Aber was soll ich bloß machen? Wir üben und üben, aber sie lernt es einfach nicht.”
Katrins Mutter sieht sie mitfühlend an. „Ja, ich weiß genau, wie es Ihnen geht. Wissen Sie, unser Großer, Denis, hatte ähnliche Probleme. Er ist halt ein richtiger Junge, hat sein Vater immer gesagt. Er war nie gerne drin, lieber tobte er draußen im Hof oder auf der Straße mit den anderen Jungs. Dabei ging es auch schon mal etwas grober zu und es kam zu kleinen Raufereien. Besonders, wenn die anderen Jungs ihn mal wieder gehänselt haben. Denis wollte für sein Leben gern Tore schießen wie Özil oder Schweinsteiger, er strengte sich sehr an, traf aber trotzdem so gut wie nie das Tor. Im Gegenteil, manchmal traf er noch nicht mal den Ball und fiel einfach auf die Nase. Das fanden die anderen sehr lustig. Denis machte dann gleich eine Clownsnummer draus, damit sie denken, er macht es extra. Aber eigentlich war er sehr traurig und wütend, dass er nicht so geschickt laufen, schießen und werfen kann, wie z. B. Cem aus der Nachbarklasse. Sein Vater wollte auch, dass Denis ein guter Fußballspieler wird, er selbst hat mal in der A-Jugend gespielt. Anfangs fand sein Vater die Clownereien noch lustig, aber als Denis älter geworden ist, schimpfte er meist darüber. Mich hat es sehr genervt, dass Denis ständig was runter fiel und er beim Essen so furchtbar kleckerte. Mit Messer und Gabel essen, das ging gar nicht. Denis war das egal, er isst sowieso am liebsten Pommes, aber mir war das schon sehr peinlich. Besonders, wenn wir Besuch hatten oder Denis bei anderen Kindern war. Da heißt es doch gleich, die Eltern haben ihm keine Manieren beigebracht.”
„Und wie ist das jetzt mit Denis? Haben sich seine Probleme von selbst gegeben?”, fragt Frau Schmidt interessiert.
„Nein, es wurde nicht besser. Schließlich hat uns die Lehrerin empfohlen, zum Kinderarzt zu gehen. Der hatte zwar schon mal bei der einen Vorsorgeuntersuchung gesagt, Denis sei noch nicht so weit wie die anderen Kinder in seinem Alter, aber damals meinte er, das gebe sich schon noch. Ich ging also mit Denis noch mal hin, als er 9 Jahre alt war. Der Arzt sagte uns, Denis habe eine Entwicklungsstörung und sei deshalb so ungeschickt. Er hat uns Ergotherapie verschrieben. Wir sind da dann ungefähr 6 Monate hingegangen. Einmal in der Woche. Denis musste dann zu Hause auch immer noch üben. Uns hat die Therapeutin erklärt, wie wir mit ihm üben sollten. Das war schon sehr schwierig, wir haben eine Zeit lang gebraucht, bis wir das richtig konnten. Aber dann hat es tatsächlich was gebracht.”
Frau Schmidt wird nachdenklich. „Vielleicht hat Emily auch so eine Entwicklungsstörung? Am besten ich gehe mit ihr zur Kinderärztin und frage mal nach.” „Ja, das ist sicher eine gute Idee. Emily ist jünger als Denis damals. Vielleicht lernt sie es sogar noch schneller. Bei Denis war es schwierig, weil er anfangs gar nichts mitmachen wollte. Es hat einige Treffen mit der Therapeutin gebraucht, bis er ihr vertraut hat und mitgemacht hat. Schließlich hat er verstanden, dass diese Art zu üben ihm hilft, und ab da ist er gerne hingegangen und hat auch mit uns zu Hause üben wollen. Heute spielt er im Fußballverein. Er ist zwar nicht in der A-Jugend. Das wird er wohl nicht schaffen. Aber es macht ihm Spaß und die anderen Jungs akzeptieren ihn jetzt. Das ist das Wichtigste. Als er dann wusste, wie er lernen kann, hat er auch mit dem Inlinerfahren angefangen und endlich schwimmen gelernt. Er ist viel ausgeglichener geworden. Und mit dem Essen klappt es jetzt auch ganz gut.”
Abb. 1:
Denis isst am liebsten seine
Pommes ohne Messer und Gabel
Motorische Entwicklungsstörungen
Denis und Emily sind zwei Kinder mit motorischen Entwicklungsstörungen oder Koordinationsstörungen. Kinder mit dieser Störung können ganz verschiedene Probleme im Alltag haben. Bei vielen sind sowohl die großen Körperbewegungen betroffen als auch die Handmotorik, bei einigen nur Handmotorik oder Körpermotorik, manche haben auch Sprachprobleme. Gemeinsam haben die Kinder, dass es ihnen nicht gelingt, alltägliche Bewegungen und Handlungen so auszuführen wie andere Kinder ihres Alters. Meist fällt das in der Vorschule oder Schule auf. In diesem Alter erwartet man z. B., dass Kinder sich selbst an- und ausziehen können, dass sie lernen, ihre Schuhe zu binden, Rad zu fahren, zu schwimmen, mit Messer und Gabel zu essen, Buchstaben und Zahlen zu schreiben.
In diesem Alter beginnen Kinder auch, sich mit anderen zu vergleichen. In Kindergartengruppen, Turngruppen oder Schulklassen fallen sie deshalb auf. Sie selbst bemerken auch, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Obwohl sie sich anstrengen, können sie manche Aktivitäten nicht so gut wie andere Kinder. Auf diese Frustration reagieren sie je nach Persönlichkeit verschieden. Manche ziehen sich zurück, andere verstecken ihre Probleme hinter Clownereien oder Aggressionen. Einige Kinder können sich durch andere Handlungen, die sie gut können, darüber hinwegtrösten, dass sie sich nicht so gut bewegen können, z. B. wenn sie gut reden und erzählen können, gut in Mathe oder Musik sind. Wie stark das Selbstbewusstsein des Kindes durch die Schwierigkeiten beeinträchtigt wird und wie stark das Kind in seinem Alltag und seiner sozialen Integration beeinträchtigt wird, hängt nicht nur von der Schwere der Störung ab, sondern auch davon, wie die Umwelt, also Eltern, Geschwister, andere Familienmitglieder, Erzieher und Lehrer und besonders andere Kinder auf sie reagieren.
Was man heute über motorische Entwicklungsstörungen weiß:
- Es gibt keine eindeutigen Zahlen darüber, wie häufig die Erkrankung vorkommt. Je nach Untersuchungsmethode kommt man auf einen Wert zwischen 5 und 20% der schulpflichtigen Kinder. Allgemein anerkannt ist, dass...