Woher komme ich, wer bin ich?
Ich bin ein uneheliches Kind. Gezeugt im letzten Kriegswinter des Tausendjährigen Reiches, geboren im ersten Friedensherbst. Von meinem Vater weiß ich nicht, woher er kam und was er machte. Er war sehr krank, meine Mutter besaß kaum Geld, und das ging für Medikamente drauf, die er benötigte. Er heiratete eine andere Frau. Dort war ich bisweilen zu Besuch. Er starb, als ich fünf war.
Großmutter nannte ihn abfällig Zigeuner. Vielleicht wegen seiner tiefschwarzen Haare. Es existieren wenige Fotos, aber keinerlei Belege, dass er mein tatsächlicher Erzeuger war.
Als ich vor einiger Zeit in Weimar den Friedhof aufsuchte, wo er 1950 bestattet worden war, sprach mich eine Friedhofsgärtnerin wegen eines Autogramms an. Das bekäme sie nur, antwortete ich, wenn sie mir etwas zu Rudolf Wagner sage, dessen Grab sich einmal hier befunden habe. In den Büchern las sie, dass er am 3. August 1909 in Naumburg geboren und gerade mal einundvierzig Jahre alt geworden sei. Nun werde ich meine Nachforschungen auf Naumburg ausdehnen müssen.
Das Interesse für meine Herkunft und die Ursprünge der Familie setzte ein, als ich auf die sechzig zuging. Das ist vermutlich bei den meisten Menschen so. Je älter man wird, desto neugieriger ist man auf seine Wurzeln. Meine Neugier nahm seitdem stetig zu. Jetzt bin ich an dem Punkt, wo ich es einfach wissen muss: Woher komme ich?
Das Graben nach den Wurzeln beginnt wahrscheinlich erst deshalb im vorgerückten Alter, weil man bis dahin zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, die Arbeit kaum noch Überraschungen bereithält und auch die Eltern nicht mehr sind – meine Mutter starb 2012 –, bricht es durch. Und es wird einem schmerzlich bewusst, dass man es versäumt hat, die Vorfahren zu fragen, was man sie eigentlich hätte fragen müssen, als sie noch da waren. So ist denn vieles mit ihnen unwiederbringlich verschwunden.
Rudolf Wagner, der Vater, mit Sohn Andreas, Aufnahme 1946
Was das Motiv für ein solches Grübeln ist, vermag ich nicht zu beantworten. Vielleicht, weil einem zunehmend bewusst wird, dass die Zahl der Tage endlich ist, die man noch hat. Oder man sucht nicht nur um seiner selbst willen die Nachrichten über die Familie zusammen, sondern weil man festhalten und weitergeben will, was die Kinder nicht fragen. Wenn ich nicht mehr bin, sind auch meine Geschichten weg. Wäre doch schade, wenn die mit mir stürben.
Ich lebe jedenfalls nicht so geschichtslos wie inzwischen die meisten Zeitgenossen. In unserer Gesellschaft scheint nur die Gegenwart noch zu interessieren. Vergangenheit und Zukunft sind ohne Belang: Geschichte liefert allenfalls Anlässe für Events, ist reduziert auf Marketingfaktoren. Und die Zukunft? Nach uns die Sintflut. Lasst doch die Polkappen schmelzen und die Meeresspiegel steigen – Hauptsache, die Kasse stimmt.
Aber es geht auch um kleine Münze. Manchmal frage ich mich: Warum hast du intuitiv so gehandelt und nicht anders, von wem hast du was geerbt? Söhne sind ihren Vätern ähnlicher, als ihnen oft lieb ist, bei Frauen und ihren Müttern wird es wohl auch so sein. Da können wir hundertmal in der Pubertät wütend brüllen: So wie du will ich nie werden! Nein, wir kommen aus unserer Haut nicht raus, da kann das gesellschaftliche Ensemble beschaffen sein, wie es will, und das Sein noch so sehr aufs Bewusstsein drücken: Am Ende entscheiden die Gene doch.
Da gibt es so eine Begebenheit, die mir in der Erinnerung geblieben ist. Sie beweist mir nachdrücklich, dass ich eben nicht nur Kind meiner Mutter, sondern auch das eines Vaters war.
Mutter ging regelmäßig und oft mit mir spazieren, bis ich ihr als Kind die Gefolgschaft verweigerte, weil ich es hasste, mit ihr an der Hand immer dieselben Wege in Weimar und später in Gera abzulaufen. Die Osterspaziergänge waren mir vornehmlich deshalb ein Gräuel, weil Mutter Zweige mit geschwollenen Knospen und erstem Grün abriss und nach Hause trug, um sie in eine Vase zu stecken. Dagegen lehnte ich mich auf, das war Frevel an der Natur. Die gleiche abwehrende, unverständliche Reaktion in Gera-Ernsee: Dort befanden sich große Obstplantagen, wo wir im Sommer Kirschen klauten. Auch da gab es stationierte Sowjetsoldaten. Sie fuhren mit Lkw vorbei, die Klappe hatten sie heruntergelassen und ließen die Beine baumeln. Sobald sie aber unter den Kirschbäumen waren, sprangen sie auf und rissen die Äste herunter, das ging ratzfatz und mir ins Herz. Die Russen spielten oft mit uns und hoben uns Kinder hinters Lenkrad; sie waren uns wohlgesonnen. Aber beim Kirschenklauen waren sie rücksichtslos und rupften die Bäume wie Suppenhühner. Dagegen sperrte sich mein Innerstes, es gehörte sich nicht, derart rabiat mit der Natur umzugehen. Die fuhren einfach die Allee entlang, stoppten, brachen die mit Kirschen vollbehangenen Äste ab und warfen sie hinter sich. Fuhren weiter, stoppten, langten nach den Kirschzweigen.
Ich war entsetzt und habe es nicht verstanden.
Diese Demut vor der Natur – nicht vor der Schöpfung: ich bin kein gläubiger Mensch – scheint mir eingepflanzt zu sein. Ich kann, im Wortsinne, keiner Fliege etwas zuleide tun, keine Spinne, keinen Käfer zertreten.
Wir wohnten in Weimar unterm Dach. Die Atelierwohnung hatte mein Großvater, der inzwischen in Schweden lebte, in den zwanziger Jahren bezogen. Die Straße führte am Alten Friedhof mit der Fürstengruft vorüber. Meine Freunde und ich nutzten den Gottesacker respektlos als Abenteuerspielplatz.
Neugierig und selbstbewusst: Welt, ich komme! Ein Kinderbild mit fünf im Kindergarten
Peter und Wolfgang Ramme sind meine Freunde, solange ich denken kann. Wir wuchsen zusammen auf, waren wie Geschwister, und unsere Mütter übernahmen gleichermaßen die Erziehung von allen drei Jungs. Der Vater von Peter und Wolfgang betrieb eine Fahrradreparaturwerkstatt. Großzügig boten wir unsere Dienste als Testfahrer an und ratterten mit den Rädern übers Kopfsteinpflaster. Auf dem ebenen Bürgersteig fahren konnte schließlich jeder, durfte man aber nicht. Wir fuhren um die Wette und veranstalteten unsere eigene kleine »Friedensfahrt«. Durch unsere Ausflüge lernten wir jede Straße, jeden Weg, jede Abkürzung in und um Weimar kennen. Das war – im wahrsten Sinne des Wortes – erfahrene Geografie, die sich mir bis heute eingeprägt hat.
Sonntags trafen wir uns oft zum Wettessen der selbstgemachten Thüringer Klöße. Dazu gab es Fleisch vom Schlachthof, sogenanntes Freibankfleisch, das es dann oft als Sauerbraten gab. Meist gewann Peter bei unserem Wettbewerb, er schaffte in seinen Hochzeiten bis zu sechs Stück.
Rammes hatten Westverwandtschaft in Berlin, die sie in den Ferien oft besuchten. Wenn sie aus der Hauptstadt zurückkamen, brachten sie Kaugummi und Schokolade mit. Besonders angetan war ich von einem Hawaiihemd. Die Südsee mitten in Thüringen! So eines wollte ich auch haben. Erst viele Jahre, einen Mauerbau und einen Mauerfall später flog ich nach Hawaii und suchte mir das schönste Hemd aus, das ich finden konnte. Es erinnert mich nun an zweierlei: An Familie Ramme und an einen herrlichen Urlaub.
Mutter arbeitete in Erfurt als Journalistin und hatte dort ein möbliertes Zimmer, wo sie übernachtete, wenn es in der Redaktion spät geworden war und kein Zug mehr fuhr. Es wurde fast jeden Tag später. Deshalb verbrachte ich die meiste Zeit mit der Großmutter. Und mit eben jenem Getier, das mit uns das Atelier teilte. Mitunter wurde ich nachts wach und sah, wie etwas mit acht Beinen über die Bettdecke stakste. Andere Menschen kriegen in solchen Momenten gewiss einen Schreikrampf, ich hingegen beobachtete neugierig, wie die Spinne lief. Das fand ich faszinierend: Ich stolperte zuweilen über meine zwei Beine – sie kam mit acht Beinen klar und verhedderte sich nicht einmal.
Wenn meine Neugier nachließ, nahm ich mit einem Blatt Papier die Spinne ganz vorsichtig auf. Behutsam setzte ich sie vors Fenster.
Trotz meiner tief wurzelnden Tierliebe war ich die längste Zeit meines Lebens kein Vegetarier, und ich würde auch nicht ausschließen wollen, dass ich, ginge es ums Überleben, notfalls selbst ein Tier schlachten würde. Es käme auf die Umstände an. Dennoch bleibt mir rätselhaft, wie man sich als zivilisierter, friedfertiger Mensch in wenigen Augenblicken ins Gegenteil verwandeln kann. Ende der siebziger Jahre schickte man mich als Reservisten zur Marine-Artillerie. Auf einem Schießplatz nahe Zingst mussten wir die Rohre auf heranrollende Panzer richten. Betrug die Distanz etwa zweitausend Meter, sollte gefeuert werden. Sicher, das war eine Übung, und wir schossen auch nicht mit scharfen Granaten, aber meine Fantasie genügte, um mir vorzustellen, wie es im Ernstfall sein würde. Wie würde ich in einer solchen Situation reagieren? Und meine Antwort lautete: Du musst schneller sein, also eher schießen als der Kanonier im Panzer.
Gewiss, das war alles nur theoretisch. Doch ich fand es schon erstaunlich, wie ich plötzlich und fast wie selbstverständlich in die Rolle eines Todesschützen hineinfand. Entweder du oder er, und ich hatte mich entschieden, überleben zu wollen und dafür einen anderen zu töten.
Niemals würde ich auf einen Menschen schießen, davon war ich bis zu dieser Übung überzeugt gewesen. Doch in jenem Moment hämmerte es in meinem...