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Kleine Geschichte Großbritanniens

AutorThomas Kielinger
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783406689543
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Großbritannien ist ein Land, das sich gerne am Rande Europas und im Zentrum der Welt ansiedelt. Dabei blickt es selbstbewusst auf seine Geschichte zurück: auf die stolzen Traditionen seiner Demokratie, seines Rechts, seiner Monarchie und seiner Kultur. Mit dem Kolonialismus, dem Sklavenhandel und der Unterdrückung Irlands kennt auch diese Geschichte ihre dunklen Flecken. Doch selbst Revolutionen und Weltkriege haben ihre beneidenswerte Kontinuität wenig beeinträchtigt. Thomas Kielinger folgt in seinem lebendig erzählten Buch den tiefen Spuren, die Alfred der Große und Wilhelm der Eroberer, Heinrich VIII. und Elisabeth I. in dem Land von heute ebenso hinterlassen haben wie Winston Churchill, Margaret Thatcher und die Queen.

Thomas Kielinger berichtet seit 1998 für «Die Welt» aus London. Seine journalistischen Beiträge wurden vielfach ausgezeichnet. Für seine Arbeit für die deutsch-britischen Beziehungen erhielt er 1995 den Orden eines Honorary Officer of the Order of the British Empire (OBE). Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: Elizabeth II. Das Leben der Queen (2012) und Winston Churchill. Der späte Held. Eine Biographie (2015).

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Leseprobe

1


IM TAUMEL DER GEGENWART


DIE GROSSE UNBERECHENBARKEIT


Ein Buch über die britische Geschichte kann nicht beginnen ohne einen Blick auf die Insel, wie sie sich dem heutigen Auge darbietet. Zwar stimmt, was Winston Churchill 1948 seinem Enkel – ebenfalls ein Winston – auf den Weg gab: Er solle die Vergangenheit studieren, um ein besseres Verständnis für die Gegenwart zu entwickeln. Aber der Rat hat einen Pferdefuß: Was, wenn die Gegenwart einen Grad der Unordnung erreicht hat, dass auch das Studium der Geschichte nur wenig hilft, die Wirrnis des Heute zu entflechten? Großbritannien teilt mit der Welt des Jahres 2015 ein wichtiges Charakteristikum: Gegenwartsschrumpfung. Mit dieser Wortprägung hat der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe auf den Verschleiß alles Neuen hingewiesen oder, anders ausgedrückt, die Beschleunigung des Veraltens. Auf die Zeitgeschichte gemünzt heißt dies: Die Zeitspanne, über die wir verlässliche Urteile fällen können, wird immer kürzer, bedrängt von Ereignissen, die niemand vorhergesehen hat und die das Heute binnen Kurzem zu Geschichte machen. Die Gegenwart «schrumpft» und wird immer unberechenbarer.

Wer wusste vor Ende 2013 etwas von der kommenden Ukraine- und Krim-Krise, wer – außer einem kleinen Kreis von Eingeweihten – hatte je von ISIS gehört, der Bedrohung durch ein islamistisches Kalifat und seine mörderischen Tentakeln? Als alle Augen auf die Lösung der Euro- und Griechenland-Krise gerichtet waren, wer sah die Springflut der Flüchtenden voraus, die heute aus Afrika, Syrien oder Afghanistan nach Europa drängen? In Großbritannien bündelt sich wie in einem Prisma das Eintreten des Unerwarteten in die Geschichte. Das bringt Gefährdungen mit sich, welche die Politik in ein Rätsel um unlösbare Fragen verwandeln.

Hinzu kommt, dass das Vertrauen in die Weichensteller, die Politiker, auf seinem tiefsten Punkt angelangt ist. Die Ursache liegt nicht in jenem Stammtisch-Unmut, den die Menschen zu allen Zeiten der Politikerklasse entgegengebracht haben. Briten sehen vielmehr handfeste Gründe, an den Regierenden, wenn nicht am politischen Establishment überhaupt, zu zweifeln. Den Beginn dieser Entfremdung kann man an einem konkreten Datum festmachen: der Finanzkrise von 2007/08.

«Wir stehen am Anfang eines Goldenen Zeitalters», hatte Gordon Brown im Juni 2007 einem prominenten Zuhörerkreis in der Londoner City zugerufen, kurz nachdem er Premierminister geworden war. Vier Monate später musste er mit Northern Rock zum ersten Mal in der neueren Geschichte eine ins Schlingern geratene Bank verstaatlichen. Die Blase des straffreien Schuldenmachens war zerplatzt. Hatte die Politik nichts kommen sehen? Wie konnte sie noch im Sommer zum Leichtsinn im Umgang mit Geld raten und ein Goldenes Zeitalter, das Ende der Auf- und Abschwünge in der Wirtschaft, verkünden, während der Herbst schon lauerte, der diese Annahme zum Einsturz brachte? Mit Milliarden an Steuergeldern mussten mehrere Banken vor dem Ruin gerettet werden. Kein Wunder, dass auch diese Hochburgen des Mammon und ihre überbezahlten Lenker dem allgemeinen Misskredit verfielen. Wie auch jene, die schon früh die Lockerung der finanzpolitischen Klugheit gepredigt hatten, etwa der Mitbegründer von New Labour Peter Mandelson, der 1997 frohgemut verkündete, Geld sei jetzt auch bei der bürgerlichen Mitte-Links-Partei gut aufgehoben, denn Labour habe mit den «unverschämt Reichen», den «filthy rich», keine Probleme mehr. Man sprach und spricht heute gerne von einer «Krise des Kapitalismus». Es wäre besser, man hielte sich an das Wort des Cassius in Shakespeares «Julius Caesar»: «Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in unseren Sternen, sondern in uns selber.»

Als habe die Wirtschaftskrise das öffentliche Vertrauen nicht weit genug untergraben, kam 2009 über Nacht ein neues Desaster über die britische Gesellschaft, und auch dieses betraf einen traditionellen Garanten der Stabilität – das Parlament. Dabei konnte der Anlass dieses Vertrauensbruchs nicht trivialer sein. Ein generöses System von Spesen und Zuschüssen hatte es den Abgeordneten erlaubt, sich mit großem Einfallsreichtum steuerbegünstigte Vorteile zu verschaffen, die oft der Verschönerung – und Wertsteigerung – ihrer diversen Wohnsitze dienten. Lange hatten die wechselnden Regierungen es nicht gewagt, an die heikle Frage der Anhebung der Abgeordneten-Diäten zu rühren, um Proteste im Land zu vermeiden. Man installierte statt dessen ein hausinternes System lukrativer Ansprüche auf Kostenerstattungen, und wie überall, wo solche Möglichkeiten bestehen, wuchs auch bei britischen Parlamentariern die Versuchung, dieselben auszunutzen, unter Hintanstellung jeder Schicklichkeit und bis über die Grenze der Legalität hinaus.

Was überhaupt hat heute noch Bestand? Vielleicht das Ansehen eines Mannes wie Tony Blair, der immerhin zehn Jahre lang, von 1997 bis 2007, das Land regierte und in seiner Frühzeit wie ein junger Gott auf der europäischen Bühne agierte? Blair trat im rechten Moment zurück, im Sommer 2007, kurz vor Ausbruch der Finanzkrise. Aber gerade diese Krise warf ein ungünstiges Licht auf seine Jahre an der Spitze und ihren mit Schulden bezahlten Wirtschaftsboom. Mehr noch: Die Invasion in Irak im März 2003 hat sich längst als folgenschwerer Fehler der alliierten Amerikaner und Briten herausgestellt. Blair, der bis vor Kurzem jede Verantwortung für die heute entstandene Lage im Nahen Osten abstritt, entschuldigte sich Ende Oktober 2015 im US-Fernsehsender CNN zum ersten Mal für «unseren Fehler, nicht verstanden zu haben, was nach dem Sturz des Saddam-Regimes passieren könnte». Auch räumte er indirekt eine kausale Verbindung zwischen 2003 und 2015 ein, als er reichlich gewunden gestand: «Natürlich kann man nicht behaupten, dass wir, die wir Saddam Hussein beseitigten, gar keine Verantwortung für die heutige Situation tragen.» Das Eingeständnis schwächte er allerdings sogleich mit der Bemerkung ab, dass, wenn Saddam nicht gestürzt worden wäre, Irak heute womöglich als zweites Syrien dastünde.

Auf jeden Fall hemmen die Irak-Invasion und ihre Folgen bis heute die britische Politik, wenn es um neue militärische Einsätze außerhalb Europas geht. «Intervention» war ein positives Wort in der Blair-Ära – heute ist es verpönt. Und Tony Blair selber gilt inzwischen als die wohl am entschiedensten zurückgewiesene politische Figur Großbritanniens, wozu gewiss auch sein Lebensstil als Freund der Reichen und Überreichen in aller Welt beigetragen hat, zusammen mit einer schier unaufhaltsamen Akquisition von immer mehr Immobilien. Bei den Menschen, die heute bei steigenden Lebenshaltungskosten ums tägliche Überleben ringen und für die der britische Traum vom Grundbesitz unerreichbar geworden ist angesichts der astronomischen Hauspreise – bei ihnen und der Labour-Partei insgesamt ist der Name Blair zu einem Reizwort geworden, seine Ära fast eine Erinnerung aus der Vorzeit, die man am besten vergisst.

Das Sinken von Blairs Stern wurde auch zum Schicksal für Ed Miliband. Als Erbe einer Partei, unter deren Ägide das finanzpolitische Fiasko, die Verschuldungskrise, sich anbahnte, hatte er im Wahlkampf 2015 keine Chance gegen David Cameron, der jetzt mit einem strengen Sparkurs dem von Labour hinterlassenen Haushalts- und Staatsdefizit zu Leibe zu rücken versucht. Die zuvor fünf Jahre währende Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten hatte keine deutlichen Spuren in der Wahrnehmung der Zeitgenossen hinterlassen außer der Erkenntnis, dass man Koalitionen in Westminster wegen des andauernden Kompromissdrucks eigentlich nicht mag. Damit könne die Verschuldung des Landes nicht entschieden genug bekämpft werden, sagten sich die Wähler, die nun zähneknirschend die Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in Kauf nehmen. Jetzt hat Premierminister Cameron allein die Verantwortung, den Augiasstall auszumisten. Und die Verantwortung, wenn es nicht gelingt.

«Her Majesty’s Loyal Opposition», wie man die stärkste Oppositionspartei im britischen Unterhaus nennt, die Labour-Partei, hat derweil nichts zu lachen. Die Wahlschlappe vom 7. Mai 2015 offenbarte erneut eine erschreckend geringe Unterstützung für Labour – 30,4 Prozent, nach den 29 Prozent in der Wahl von 2010 – und zwang Ed Miliband zum Rücktritt. Was danach passierte, verrät, wie das Moment der Unberechenbarkeit, der unentwirrbare Augenblick geradezu neue Risikofreude erzeugen kann. Wenn kein Weg mehr irgendwohin weist, der Zustand einer geschlagenen Partei wie rettungslos erscheint – was kommt dann? Es ist das Spiel mit dem Anything goes. Dann wird plötzlich alles möglich, auch das schier Undenkbare wie die Wahl des 66-jährigen Linksaußen Jeremy Corbyn als neuen Parteivorsitzenden im Oktober 2015. Nur 36 der 232 Labour-Abgeordneten im Unterhaus hatten ihm in der Stichwahl ihre Zustimmung gegeben; dass er dennoch mit fast 60 Prozent gewählt wurde, verdankte er einzig den neu gewonnenen Parteimitgliedern im Lande, die damit den Labour-Konsens in Westminster glatt aushebelten und einen Propheten des Anti-Establishment an die Spitze hoben. Auch das ist...

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