Wie das Land Tirol entstand
Die Bischöfe als Herren des Landes und Meinhard II.,
der Schöpfer Tirols
Als Passlandschaft zwischen Deutschland und Italien erlangten die Täler „im Gebirge“, wie man das Gebiet um Reschen und Brenner in den Urkunden des hohen Mittelalters zu bezeichnen pflegte, zunehmend politische Bedeutung. Nach dem Tod Karls des Großen (814 n. Chr.) und den Teilungsverträgen seiner Erben lag das heutige Tirol innerhalb der Grenzen des Ostfränkischen Reichs Ludwigs des Deutschen und seiner Nachfolger, das seit dem 11. Jahrhundert Deutsches Königreich genannt wurde. Als die ostfränkischen Könige die karolingische Reichstradition wieder aufnahmen, Italien gewannen und 962 unter Otto I. die Kaiserkrönung in Rom erreichten, war es für sie besonders wichtig, ungehindert über die Alpen ziehen zu können und während der monate-, oft jahrelangen Aufenthalte in Italien sichere Verbindungen zurück nach Deutschland zu haben. Die Wege nach Italien mussten in der Gewalt treuer Anhänger sein.
Nun war es aber im 10. Jahrhundert innerhalb des Ostfränkischen Reichs zur Ausbildung von Stammesherzogtümern und zum Erstarken der herzoglichen Gewalt gekommen. Das Kerngebiet des späteren Tirol gehörte zu Bayern, der Westen zum Herzogtum Schwaben, das Lienzer Becken mit dem Iseltal zu dem von Bayern abgetrennten Herzogtum Kärnten, Trient zur Mark Verona.
Auf die Treue der Herzöge konnten sich die Herrscher vielfach nicht verlassen, was umso schwerer wog, als deren Stellung und Besitz vererbt wurden. Vor allem bayerische und schwäbische Adelssippen betrieben eine zielstrebige Politik der Konzentration von Besitz und Rechtstiteln und lagen oft im Streit mit König und Reich. Die Alpenpässe waren in ihren Händen ein wirkungsvolles Faustpfand, immerhin führte mehr als die Hälfte aller Romzüge deutscher Könige über den Brenner. Zur Sicherung ihrer Politik lösten deshalb mehrere deutsche Könige bzw. (nach der Krönung in Rom) römisch-deutsche Kaiser im 11. Jahrhundert die wichtigsten Grafschaften im Gebirge aus dem Machtbereich unverlässlicher Vasallen und übergaben sie den Bischöfen von Trient und Brixen, von deren Treue sie überzeugt sein konnten, wurden sie doch im Sinne des Reichskirchensystems vom Herrscher eingesetzt und brauchten keine dynastischen Interessen zu verfolgen.
Mit dieser Urkunde begann die Herauslösung des späteren Tirols aus dem Herzogtum Bayern: Kaiser Konrad II. übertrug am 7. Juni 1027 die Grafschaft Norital, die von Bozen über den Brenner bis ins Inntal reichte, dem Bischof von Brixen.
Zunächst übergab Heinrich II. im Jahr 1004 die den Weg aus den Alpen in die Poebene bewachende Grafschaft Trient dem dortigen Bischof. Als 1027 diese Belehnung durch Konrad II. bestätigt wurde, erhielt dieser dazu noch die nördlich angrenzenden Grafschaften Bozen und Vinschgau. Die Grafschaft Norital, die von Bozen über den Brenner bis ins Inntal reichte, wurde gleichzeitig dem Brixner Bischof übertragen. 1091 erhielt dieser zudem die Grafschaft Pustertal. Grundschenkungen und die Verleihung königlicher Rechte ergänzten die Machtfülle der beiden Bischöfe.
Dass jetzt die Bischöfe von Trient und Brixen, die als Reichsfürsten unmittelbar dem König bzw. Kaiser unterstanden, über das Gebiet vom Inntal bis zum Gardasee geboten, führte aber nicht zur gewünschten Herauslösung der ihnen verliehenen Grafschaften aus dem Herzogtum Bayern, denn sie übten die Herrschaftsgewalt aus Rücksicht auf ihre kirchliche Würde nicht selbst aus, sondern gaben sie als Lehen an verschiedene, meist bayerische Adelige weiter, die als Grafen gleichzeitig die Schutz- oder Vogteigewalt über den weltlichen Besitz der Bischöfe erlangten, die Hochstifte, was weitgehenden Einfluss bedeutete. Durch Eheschließungen, Erbschaften, Kaufverträge, aber auch durch blutige Fehden oder sonstige Gewaltanwendung bemühten sie sich erfolgreich um die Festigung ihrer erblichen Position und Ausdehnung ihrer Herrschaft.
Unter den Adelsdynastien an Inn, Etsch, Eisack und Rienz überflügelten zwei alle anderen. Die aussichtsreichste Stellung hatten zunächst die Grafen von Andechs inne. Sie besaßen nicht nur das Unterinntal (von Zirl bis zum Ziller) mit der von ihnen um 1180 gegründeten Stadt Innsbruck und das Pustertal, sondern auch Grafschaften in Bayern, Franken, Kärnten, Krain und an der Adria. Das Geschlecht starb jedoch 1248 aus. Glücklicher waren die vom Trienter Bischof im Vinschgau eingesetzten Grafen, die wahrscheinlich aus Kärnten stammten und sich nun nach ihrer Burg „von Tirol“ nannten. Neben dem Vinschgau begründete die Vogtei über das Hochstift Trient ihre Machtstellung. Den Tiroler Grafen gelang es nach und nach, die bischöflichen Grafschaften um Reschen und Brenner in ihrer Hand zu vereinen. Graf Albert von Tirol, der Letzte seines Geschlechts, gewann durch weitblickende Heiratspolitik als Erbe der Andechser die Grafschaften Unterinntal und Pustertal. So kann das Jahr 1248 als Geburtsjahr Tirols bezeichnet werden, „weil die Klammer zwischen Inn und Etsch erstmals fest geknüpft war“, wie der Historiker Franz Huter es formulierte. Als Zeichen dafür, dass sich die weltliche Macht gegenüber der rechtlichen Oberhoheit der Kirchenfürsten durchgesetzt hat, taucht jetzt in den Urkunden die Bezeichnung „Herrschaft des Grafen von Tirol“ auf.
Das von Graf Albert geschaffene Territorium überdauerte jedoch seinen Tod im Jahr 1253 vorerst nicht. Seine Tochter Elisabeth, deren erste Ehe die Andechser Erbschaft eingebracht hatte, war in zweiter Ehe mit dem bayerischen Grafen Gebhard von Hirschberg vermählt; seine zweite Tochter Adelheid mit dem Grafen Meinhard III. von Görz. Als Graf Albert von Tirol starb, teilten sich die Gatten seiner Töchter das Erbe: Meinhard (in Tirol der I.) erhielt den südlichen, Gebhard den nördlichen Teil. Während so das nördliche Tirol wieder enger mit Bayern verbunden war, gehörte der Süden zu einem Herrschaftsverband, der auch die Görzer Gebiete in Friaul, in Istrien und im Herzogtum Kärnten umfasste. Neben der Stadt und der Burg Görz im östlichen Friaul war Lienz am Ausgang des Pustertals Hauptsitz der Görzer Grafen.
Der „Meinhardzwanziger“, die erste Münze mit einem Tiroler Adler, geprägt 1274.
Nach dem Tod Meinhards I. (1258) trat zunächst sein Sohn Meinhard II. allein die Nachfolge in den görzischen Landen und in Tirol an, musste aber 1271 mit seinem Bruder Albert teilen, der Friaul und Istrien, das Pustertal, den Lurngau (mit Lienz) und die Kärntner Herrschaften der Görzer erhielt. Meinhard II. verblieb das wichtigere Tirol. Er ging sofort an den Ausbau des Landes. Vom Hirschberger Grafen gewann er – als dessen Ehe kinderlos blieb – das Wipptal und das Inntal zurück. Die Ehe mit der Witwe des Hohenstaufen Konrad IV. sicherte ihm die in Westtirol liegenden staufischen Güter und Rechte und ermöglichte die Erwerbung des oberen Inntals und des Lechtals. Im Unterinntal dehnte Meinhard seine Herrschaft über den Zillerfluss aus, da ihm der Bayernherzog das Gericht Rattenberg verpfändete. Eine jahrelange Auseinandersetzung mit den Bischöfen von Trient festigte den Besitz des Etschtales von Bozen bis zur Mündung des Avisio südlich von Salurn, wo damals die Sprachgrenze verlief.
Im 16. Jahrhundert entstandenes Phantasieporträt Meinhards II. von Tirol-Görz. Er gilt als der Schöpfer des Landes Tirol.
Den Rechtstitel der Vogtei, der erblichen Schutzgewalt über die geistlichen Fürstentümer (Hochstifte) Brixen und Trient, benützte Meinhard II., die Bischöfe, eigentlich seine Lehensherren, völlig in seine Abhängigkeit zu bringen. Von der Einschleusung seiner Parteigänger in die Domkapitel bis zu Rechtsbruch und Gewalt war ihm jedes Mittel recht, die weltliche Macht der Kirche zu schmälern. Unter Meinhard verloren die beiden geistlichen Reichsfürsten jegliche Chance, ihre Herrschaftsansprüche zur Geltung zu bringen. Zuletzt geboten sie nur mehr über ihre Residenzstädte und kleine – in Trient etwas größere – Landflecken und Dörfer. Auch diese „Stiftsländer“ wurden durch Schutzverträge an die landesfürstliche Macht gebunden. Später sollten Verträge über Wehrhoheit und Steuereinhebung dazukommen.
Neben der Abrundung des Territoriums und der Durchsetzung seines Machtanspruchs gegenüber den Bischöfen hatte Meinhard II. noch ein drittes Ziel, das er ebenso konsequent und skrupellos verfolgte und schließlich auch erreichte: die Vereinheitlichung all seiner Lehen, Vogteien, Gerichtshoheiten und anderer Rechtstitel unterschiedlicher Herkunft zur vollen landesfürstlichen Gewalt. Dieser Konzentrationsprozess ging großteils auf Kosten der zahlreichen gräflichen oder edelfreien Adelsgeschlechter, die der Landesfürst entmachtete und seiner Dienstbarkeit unterwarf.
Gleichzeitig schuf Meinhard eine einheitliche Verwaltungsorganisation für das ganze Land mit gut...