Einführung: Haben die Klassischen Altertumswissenschaften[1] eine Zukunft?
2011 war für den (zu der Zeit längst) verstorbenen Terence Rattigan ein ungewöhnlich gutes Jahr: In seinem Stück »Man and Boy« (eine aktuelle Geschichte über den Zusammenbruch eines Bankiers) spielte Frank Langella am Broadway die Hauptrolle – es war die erste Inszenierung in New York seit den 1960er Jahren. Außerdem gab es eine Verfilmung von »The Deep Blue Sea«, in der Rachel Weisz die Frau eines Richters spielt, die mit einem Piloten durchbrennt. Die Premiere war Ende November 2011 im Vereinigten Königreich, und im Dezember lief der Film in den USA an. Es war Rattigans 100. Geburtstag (er starb 1977), deshalb kam es zu jener Art von Neubewertung, die Hundertjahrfeiern häufig mit sich bringen. Lange Zeit konnten – in den Augen von Kritikern, wenn auch nicht des Publikums des Londoner West Ends – seine kunstvollen Geschichten von den verdrängten Qualen der privilegierten Klassen es nicht mit dem Realismus der Arbeiterklasse eines John Osborne und der anderen zornigen jungen Dramatiker aufnehmen. Aber wir haben gelernt, uns auf neue Weise mit ihnen zu befassen.
Ich habe mir ein anderes Stück von Rattigan noch einmal angeschaut, »The Browning Version«, uraufgeführt im Jahr 1948. Es handelt von Andrew Crocker-Harris, einem Lehrer in den Vierzigern an einer englischen Privatschule – ein altmodischer Zuchtmeister, der wegen eines schweren Herzleidens in den vorzeitigen Ruhestand gehen muss. Das andere Unglück Crocks (bei den Kindern heißt er nur »the Crock«) besteht darin, dass er mit einer wirklich boshaften Frau namens Millie verheiratet ist, die ihre Zeit aufteilt zwischen einer On-off-Affäre mit dem Naturwissenschaftslehrer und dem Austüfteln immer neuer Varianten von häuslichem Sadismus, um ihren Ehemann zugrunde zu richten.
Der Titel des Werks versetzt uns jedoch zurück in die klassische Antike. Crock unterrichtet, wie Sie es wohl schon erahnt haben, Griechisch und Latein (was sonst könnte er mit einem Namen wie Crocker-Harris unterrichten?), und »Browning Version«, der Titel des Stücks, bezieht sich auf Robert Brownings berühmte Übersetzung von Aischylos’ Drama »Agamemnon« aus dem Jahr 1877. Verfasst in den 450er Jahren v. Chr., erzählt das griechische Original von der tragischen Rückkehr König Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg und seiner anschließenden Ermordung durch seine Frau Klytaimnestra und deren Liebhaber, den sie sich während Agamemnons Abwesenheit genommen hatte.
Dieser Klassiker ist in gewisser Weise der eigentliche Star in Rattigans Drama. John Taplow, ein Schüler, der Griechisch-Nachhilfestunden bei ihm genommen und den griesgrämigen alten Schulmeister immer mehr in sein Herz geschlossen hat, schenkt Crock das Buch zu dessen Pensionierung. Die Geschenkübergabe ist die Schlüsselszene der Handlung, fast der Moment der Erlösung. Zum ersten Mal lässt Crocker-Harris seine Maske fallen: Als er die »Browning Version« aufschlägt, bricht er in Tränen aus. Warum? Zunächst einmal, weil er der Tatsache ins Gesicht sehen muss, dass er, so wie Agamemnon, von einer ehebrecherischen Frau vernichtet wird (es handelt sich nicht eben um ein feministisches Stück). Aber er weint auch über das, was der junge Taplow auf das Titelblatt geschrieben hat. Es ist eine – sorgfältig auf Griechisch wiedergegebene – Zeile aus dem Stück, die Crock für sich so übersetzt: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn.« Er wertet dies als Kommentar zu seinem eigenen Berufsleben: Er hat alles daran gesetzt, kein sanfter Lehrmeister zu sein, und Gott hat nicht gnädig auf ihn geschaut.
Rattigan begnügt sich hier nicht damit, die gequälte Psyche der britischen oberen Mittelschicht zu analysieren (und es ist auch nicht nur eine weitere »Schulgeschichte«, jene schrullige Marotte einiger britischer Autoren). Als jemand, der selbst eine solide klassische Ausbildung genossen hat, befasst er sich auch mit zentralen Fragen der klassischen Altertumswissenschaft, der klassischen Tradition und unserer modernen Beschäftigung mit ihr. Inwieweit kann die antike Welt uns helfen, unsere eigene zu verstehen? Welche Grenzen sollten wir unserer Neuinterpretation und Wiederaneignung setzen? Als Aischylos schrieb: »Gott schaut aus der Ferne gnädig auf einen sanften Herrn«, dachte er gewiss nicht an einen Lehrer, sondern an einen militärischen Eroberer. Tatsächlich war der Satz – und auch darauf kam es, wie ich vermute, Rattigan an – einer der letzten, den Agamemnon zu Klytaimnestra sprach, bevor sie ihn ins Haus führte, um ihn umzubringen.
Anders gesagt: Was können wir tun, um die antike Welt zu verstehen? Wie interpretieren wir sie? Der junge Taplow hat keine sehr hohe Meinung von Brownings Aischylos-Übersetzung, und sie ist – nach unserem Geschmack – auch wirklich in einer grässlichen poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts verfasst (»Who conquers mildly, God, from afar, benignantly regardeth« – Brownings Übersetzung der Schlüsselzeile ist kaum dazu angetan, dass man sich auf den Rest des Stückes stürzt). Doch als Taplow sich im Unterricht für Aischylos’ Griechisch begeistert und eine erstaunlich geistreiche, aber leicht ungenaue Übersetzung von einer der blutrünstigsten Stellen vorlegt, wird er von Crock zurechtgewiesen: »Sie sollen das Griechische analysieren« – das heißt, den Text wortwörtlich übersetzen –, »nicht mit Aischylos zusammenarbeiten.«
Wenn man überzeugt ist, dass die klassische Tradition etwas ist, womit man sich beschäftigen und auseinandersetzen muss und das nicht nur reproduziert und nachgeplappert werden sollte, steht man auf der Seite derer, die mit Aischylos zusammenarbeiten. Hier kann ich nicht umhin, an die auf eklatante Weise modernen Übersetzungen von Teilen aus Homers »Ilias« zu erinnern, die der im Dezember 2011 verstorbene englische Dichter Christopher Logue verfasst hat – »Kings«, »War Music« und andere –, »die beste Übersetzung Homers seit der von [Alexander] Pope«, wie Garry Wills sie einmal bezeichnete. Das war, glaube ich, ein sowohl aufrichtiger als auch leicht ironischer Kommentar. Denn der Witz ist, dass Logue, der wichtigste Mitarbeiter Homers, kein Wort Griechisch konnte.
Viele der von Rattigan gestellten Fragen liegen auch den Thesen zugrunde, die ich hier vorbringen möchte. Ich versuche nicht, jeden davon zu überzeugen, dass die klassische Literatur, Kultur oder Kunst es verdienen, ernst genommen zu werden. Damit dürfte man in den meisten Fällen offene Türen einrennen. Stattdessen möchte ich darauf hinweisen, dass die Sprache der klassischen Autoren und der klassischen Literatur eine Kultursprache und damit noch immer eine essentielle und unauslöschliche Ausprägung der »westlichen Kultur« darstellt, die in Rattigans Drama ebenso Eingang gefunden hat wie in die Dichtung von Ted Hughes oder die Romane von Margaret Atwood oder Donna Tarrt. »Die geheime Geschichte« hätte jedenfalls nicht an einer Fakultät für Geographie angesiedelt werden können. Doch ich möchte auch etwas genauer auf den Umstand eingehen, dass wir heute so sehr auf den Niedergang der humanistischen Bildung fixiert sind. Auch hier liefern Rattigans »Browning Version« und seine Nachfolger eine interessante Perspektive.
Das Stück ist bei unter Geldknappheit leidenden Theatern und TV-Gesellschaften bis heute beliebt, teils aus dem einfachen Grund, dass Rattigan als Schauplatz für das gesamte Geschehen Crocker-Harris’ Wohnzimmer wählte, was die Inszenierung äußerst kostengünstig macht. Doch es gibt auch zwei Verfilmungen von »The Browning Version«, die sich aus Crocker-Harris’ Wohnung herauswagten, um das filmische Potential der englischen Privatschule von ihren malerischen holzgetäfelten Klassenräumen bis hin zum Grün ihrer hügeligen Cricket-Felder ganz auszuschöpfen. Rattigan höchstpersönlich verfasste das Drehbuch zum ersten Film, in dem Michael Redgrave 1951 die Hauptrolle spielte. Der Autor nutzte das Format des Films, um sich ausführlich über Erziehungsphilosophie zu verbreiten und den naturwissenschaftlichen Unterricht (für den Millies Liebhaber steht) dem klassischen Sprachenunterricht (repräsentiert durch Crock) gegenüberzustellen. Außerdem wies er Crocks Nachfolger als Latein- und Griechischlehrer, Mr Gilbert, eine größere Rolle zu – womit er klarstellte, dass er sich vom sturen Pauken lateinischer und griechischer Grammatik distanzierte und sich dem zuwandte, was wir heute einen »schülerzentrierten« Ansatz nennen.
1994 kam es, diesmal mit Albert Finney als Hauptdarsteller, zu einer modernisierten Neuverfilmung: Millie wurde in Laura umbenannt, und ihr Naturwissenschaftslehrer und Liebhaber war nun ein ausgesprochen adretter Amerikaner. In mancherlei Hinsicht ähnelte diese Version noch immer der alten Geschichte: Finney zog seine Klasse in Bann, wenn er den Schülern einige Zeilen aus Aischylos vorlas, und über das Geschenk der »Browning Version« weinte er sogar noch ergreifender, als Redgrave es getan hatte. Aber das Ganze nimmt eine markante Wendung, indem ein neues Narrativ eingeführt wird: das eines Niedergangs. Crocks Nachfolger nämlich gibt in dieser Fassung den Latein- und Griechisch-Unterricht vollständig auf. »Meine Aufgabe ist es«, sagt er im Film, »eine neue Sprachenabteilung zu organisieren: moderne...