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E-Book

Luthers Bibel

Geschichte einer feindlichen Übernahme

AutorKarl-Heinz Göttert
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783104903163
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Kein Buch wurde häufiger übersetzt als die Bibel; sie existiert in 2817 Sprachen. Karl-Heinz Göttert erzählt in seinem unglaublich spannenden Buch ?Luthers Bibel. Geschichte einer feindlichen Übernahme? nun die Geschichte dieser Übersetzungen. Von den Fragen nach den hebräischen und griechischen »Originalen« über die Septuaginta und die Vulgata zeigt er, wie die Bibelübersetzungen die Sprachen prägten, die Kultur beeinflussten und mit welchen Strategien die Übersetzer ihre Theologie durchzusetzen versuchten - bis zur Jahrtausendübersetzung Luthers, die den Prozess der christlichen Vereinnahmung der heiligen Schriften der Juden auf den Gipfel treibt. Nebenbei zeigt sich, wie die Übersetzung der Bibel unsere Vorstellungen von Kritik und Aufklärung, Treue und Fälschung, Rationalität und dem, was Sprache leisten kann, entscheidend geprägt hat.

Karl-Heinz Göttert, geboren 1943, studierte Geschichte und Deutsch an der Universität zu Köln, promovierte und habilitierte sich dort und lehrte ebenfalls dort bis zu seiner Emeritierung als Professor für Ältere Deutsche Literatur. Im S.Fischer Verlag ist zuletzt ?Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung? (2013) erschienen sowie ?Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik? (2015).

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Leseprobe

Vorbemerkungen


Athen und Jerusalem


Die westliche Kultur, so kann man immer wieder lesen, steht auf zwei Säulen: Athen und Jerusalem. Man weiß, wie dies gemeint ist: Es gibt nicht nur Homer und Platon, es gibt auch Abraham und Paulus, nicht nur die Ilias und das Höhlengleichnis, sondern auch das Alte und das Neue Testament. Wohl wahr. Aber man könnte dabei leicht etwas übersehen, eine scheinbare Nebensächlichkeit, deren wahres Gewicht Thema dieses Buches ist. Es ist das Problem der Übersetzung. Weder Athen noch Jerusalem sind zu uns in originaler Gestalt gekommen. In beiden Fällen liegt Aneignung vor, sprachliche Aneignung. Das aber bedeutet: Interpretation. Was gerade die Geschichte vom Turmbau zu Babel eher verdeckt, ist die Tatsache, dass die vielen Sprachen einen Vorteil boten, den Vorteil der intellektuellen Herausforderung. Denn ohne den auf Übersetzung beruhenden Transfer wäre vielleicht sehr viel weniger aus Europa geworden. Was aber erst recht übersehen werden könnte: Gerade hinsichtlich der Übersetzung besteht zwischen Athen und Jerusalem ein fundamentaler Unterschied.

Dabei hat Jerusalem Athen etwas voraus, auch wenn es auf den ersten Blick wie ein Handicap erscheint. Denn Jerusalem bedeutet letztlich ein einziges Buch, die Bibel. Was ist dies gegen die Bücherflut aus Athen? Nur löste dieses eine Buch etwas aus, was es in der Kulturgeschichte zuvor noch nicht gegeben hat. Verschiedenste Völker mit ihren verschiedensten Sprachen stützten bzw. stürzten sich auf dieses Buch, machten die Übersetzung zum Kampfplatz immer neuer Deutungen. Während sich die Römer die griechische Kultur teils direkt auf Griechisch aneigneten und Übersetzungen eher als Einstieg für Anfänger betrachteten, begann das Ringen um die Bibel als Ringen um die Übersetzung. Und dies sogleich mit einem veritablen Paradox. Die Ersten, die die hebräische Bibel übersetzten, waren die Eigentümer selbst. Noch harmlos die aramäische Fassung, die dem Hebräischen eng verwandt ist. Das hellenisierte Judentum der letzten beiden Jahrhunderte v. Chr. aber konnte weder Hebräisch noch Aramäisch und stellte stattdessen eine griechische Version her. Das noch größere Paradox besteht dann darin, dass die ältesten erhaltenen Ausgaben der hebräischen Bibel nicht das Original bieten, sondern dessen Übersetzung. So gesehen sind die Kopien tatsächlich älter als das Original.

Und dies ist nur der Anfang eines kulturgeschichtlichen Sonderwegs ohnegleichen. Als die Christen die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel als Altes Testament übernahmen und ihm das Neue als Fortsetzung zur Seite stellten, verwarfen die Juden ihre eigene Übersetzung. Teils kehrten sie zum Hebräischen zurück, teils fertigten sie neue Übersetzungen ins Griechische an, die die Eigenständigkeit sichern sollten. Es gab auf jeden Fall nun zwei Versionen der Bibel, die um die Gültigkeit stritten, um Richtigkeit oder Wahrheit der Übersetzung.

Und der nächste Paukenschlag folgte alsbald. Mit dem Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion geht die nächste Übersetzung einher, ins Lateinische. In ihr aber vollzieht sich endgültig die Aneignung der hebräischen Bibel als eine Übernahme im Rahmen der christlichen Gesamtbibel – mit durchaus feindlichen Zügen. Wenn die Autoren des Neuen Testaments davon sprachen, dass Abraham, Moses, die Propheten immer nur Christus verkündet hätten, las sich dies in der lateinischen Gesamtbibel als eine zusammenhängende Erlösungsgeschichte, die überhaupt nur so Sinn mache. In dieser Form aber bildete das lateinische Alte und Neue Testament den Ausgangspunkt für all die weiteren Übersetzungen, in denen sich die christlichen Völker Europas die Gesamtbibel aneigneten. Und wie schon die erste Übersetzung in die erste Krise führte, so führten die weiteren Übersetzungen in weitere Krisen. Die Reformation, die Europa eine seiner tiefsten Spaltungen überhaupt bescherte, ging einher mit einer Übersetzung der Bibel – diesmal ausgerechnet beim Rückgang auf die Urtexte.

Wie auch immer man die Einzelheiten beurteilt: Man kann auf jeden Fall von der Übersetzung als einem Motor der kulturellen Entwicklung in Europa sprechen. Europäische Kultur entsteht wesentlich im Vorgang der sprachlichen Aneignung. Dies zeigt sich schon an rein technischen Aspekten. Alle modernen Philologien bedienen sich bis zum heutigen Tage einer Form von Textkritik, die bei der Aneignung der Bibel entwickelt wurde. Von keinem anderen Buch existieren in dieser Fülle Zeugnisse, die es abzugleichen galt – der Umfang der Lesarten soll beim Neuen Testament den Umfang des Textes insgesamt übertreffen. Schon der Begriff des Originals ist undenkbar ohne die Erfahrung der Bibel, bei der ja tatsächlich nach Bekundung der Überlieferer ein einziger Mund am Anfang steht: Gott selbst mit einem Wort, das keinem Menschen zu ändern freiwillig eingefallen wäre. Dass Texte wie die homerische Ilias oder Vergils Aeneis »heilig« wurden, haben sie der Bibel zu verdanken. Denn in der Antike trugen Sänger Texte vor und wandelten sie dabei ab. Noch im Mittelalter ist der Begriff des Originals, wie die moderne Wissenschaft neuerdings mit Mühe wieder zur Geltung brachte, sinnlos. Die Suche nach dem Original beruht eben auf falscher Übertragung von den Verhältnissen der Bibel her. Man kann es aber auch anders ausdrücken: Wesentliche Vorstellungen von Kritik und Aufklärung, von Treue und Fälschung wurzeln in den Erfahrungen der Bibelübersetzung. Sollte man da nicht weitergehen und sagen, dass der moderne Begriff der Rationalität überhaupt etwas mit den Erfahrungen der Übersetzung zu tun hat – mit denen der Bibelübersetzung?

Und es geht noch weiter. Schon die Gründlichkeit dieser Aneigung, die reine Quantität, ist beispiellos, sprengt jede Vorstellungskraft. Kein Buch der Welt wurde über einen derart langen Zeitraum öfter abgeschrieben, gedruckt, verbreitet, kommentiert. Die Ilias verkümmert dagegen trotz alexandrinischer Gelehrsamkeit zur Randnotiz, alle griechischen Philosophen zusammen erscheinen im Vergleich mit ihr als bloße Spezialistentruppe. Bei Griechen und Römern gibt es im Übrigen Wellenbewegungen, griechische Texte verschwanden für Jahrhunderte und wurden dann neu entdeckt, über Umwege wie etwa über die arabischen Übersetzungen des Aristoteles. Die Bibel dagegen war immer präsent. Kein Jahrhundert, wohl kein Jahr der Weltgeschichte ohne neue Bibelpräsentation. Und es war nicht mit der Übersetzung in eine neue Sprache getan. Mit jeder neuen Generation verband sich die Forderung nach einer neuen Übersetzung, die Übersetzung der Bibel kam bislang niemals zum Erliegen. Was ein Buch leisten kann, hat dieses Buch ausgeschöpft. Die Überbietung ist kein Buch, sondern allenfalls eine Bibliothek, wobei ironischerweise der Begriff der Bibliothek an den der Bibel anknüpft, ja zuerst die Sammlung von Bibelhandschriften bezeichnete.

Schließlich gibt es Großleistungen unserer Kultur, die in besonderem Maße auf der Aneignung der Bibel beruhen. An Kalligraphie und Design etwa kann es der Okzident mit dem Orient, sei es in den arabischen Ländern oder im fernen China, nur auf dem Gebiet der Bibel aufnehmen. Die Jahrtausenderfindung des Buchdrucks durch Gutenberg hatte ihr erstes großes Objekt in der Herausgabe der lateinischen Bibel. Die bedeutendsten Nachfolger Gutenbergs, John Baskerville im England des 18. Jahrhunderts zum Beispiel, legten mit einem Bibeldruck ihr Meisterstück vor. Und Kunst- sowie Musikgeschichte? Ohne die Bibel undenkbar, wie jeder Besuch in einem Museum, jedes Programm einer Konzertsaison belegen kann. Eine Leistung aber, die gerade in diesem Buch im Vordergrund steht, überbietet alle anderen: Immer wieder ist die Bibelübersetzung mit einem Schub hinsichtlich der Sprachentwicklung verbunden. Wiederum in England, das seit der normannischen Eroberung zweisprachig war und mit dem Französischen der Oberschicht das Englische zu ersticken drohte, war es die englische Bibel von John Wyclif, die zur mächtigen Initialzündung eines englischsprachigen Erneuerungsprozesses wurde. Bei uns gilt mit Recht die Luther’sche Bibelübersetzung als eine entscheidende Beförderung sprachlicher Einheit.

Was Sprache leisten kann, wie Sprache gefordert und gefördert wird, belegt jahrhundertelang kein Text besser als die Bibel. Fügen wir noch hinzu, dass kein Text in derartigem Maße eine Welt von Bildern zur Verfügung stellte, die über alle Sprachen hinweg die Völker Europas eint. Der »Auszug aus Ägypten« steht noch hinter den modernen Befreiungsbewegungen, der »Bund mit Gott« prägt ein politisches Denken neben und gegen das aristotelische zoon politikon, den auf sich selbst gestellten Bürger. Jeder kennt das »Gelobte Land«, die »Sehnsucht nach Erlösung«, den »Abfall vom Glauben«, die Erwartung von »Strafe und Belohnung«. Selbst Redewendungen wie der »Dorn im Auge« sind ebenso Gemeingut wie das »Licht unterm Scheffel«, das »Erstarren zur Salzsäule«, der »Stachel im Fleisch« – das »Löcken wider den Stachel« übrigens ohne Wissen, was Löcken eigentlich bedeutet (nämlich »springen«: dazu später mehr). Der am meisten übersetzte Text ist mit seinen Bildern auch noch der allen am meisten gemeinsame, als wolle die Bibel ihre eigene Geschichte von Babel zum Besten halten.

Es spricht jedenfalls alles dafür, den anfangs zitierten Slogan ernst zu nehmen: Athen und Jerusalem sind die beiden Säulen unserer westlichen Kultur. Athen mit seiner Bücherflut verdanken wir Aufklärung, Demokratie, Freiheit. Aus Jerusalem mit diesem einen Buch stammen Interpretation, Sinn,...

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