Phnom Penh
April 1975
Phnom Penh City erwacht früh, um die kühle Morgenbrise zu nutzen, bevor die Sonne durch den Dunst bricht und die Hitze in das Land einfällt. Schon um sechs Uhr morgens rempeln sich die Menschen auf den staubigen engen Seitenstraßen von Phnom Penh an. Kellnerinnen und Kellner in schwarzweißen Uniformen stoßen die Schwingtüren kleiner Restaurants auf, und der Geruch von Nudelsuppe begrüßt die schon wartenden Kunden. Auf den Bürgersteigen schieben Straßenverkäufer vollbeladene Karren mit dampfenden Knödeln, Teriyaki-Spießen aus geräuchertem Rindfleisch und gerösteten Erdnüssen vor sich her, bereit für den anbrechenden Geschäftstag. Kinder in bunten T-Shirts und Shorts schießen barfuß Bälle den Bürgersteig hinunter, ohne sich um den Protest der Imbissverkäufer zu kümmern. Die breiten Boulevards hallen wider vom Gedröhn der Motorräder, von den quietschenden Fahrrädern und den wenigen Kleinwagen der etwas Wohlhabenderen. Mittags, wenn es auf vierzig Grad zugeht, wird es auf den Straßen wieder still. Die Leute sind auf der Flucht vor der Hitze nach Hause geeilt, wo sie etwas essen, kalt duschen und einen Mittagsschlaf halten, bevor sie um zwei Uhr zur Arbeit zurückkehren.
Meine Familie lebt in einer Wohnung im dritten Stock im Zentrum von Phnom Penh, deswegen bin ich an Verkehr und Lärm gewöhnt. Auf unseren Straßen gibt es keine Ampeln; Polizisten stehen auf Metallkästen mitten auf den Kreuzungen und regeln den Verkehr. Trotzdem scheint die Stadt zu jeder Tageszeit aus einem einzigen großen Verkehrsstau zu bestehen. Wenn ich mit Mama unterwegs bin, nehmen wir am liebsten ein Cyclo, weil man damit auch durch den dichtesten Verkehr kommt. Ein Cyclo ist eine Art großer Rollstuhl, der vorne an ein Fahrrad montiert wurde. Man lässt sich einfach auf den Sitz fallen und gibt dem Fahrer das Geld. Obwohl wir zwei Autos und einen Lieferwagen besitzen, fährt Mama oft auf dem Cyclo zum Markt mit mir, weil wir so schneller ankommen. Ich hopse lachend auf ihrem Schoß auf und ab, während der Fahrer durch die verstopften Straßen der Stadt strampelt.
Aber heute Morgen stecke ich in diesem großen Stuhl in einem Nudelimbiss fest. Viel lieber würde ich mit meinen Freundinnen Himmel und Hölle spielen. Große Stühle reizen mich, auf ihnen herumzuspringen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn meine Füße in der Luft hängen und runterbaumeln. Mama hat mir schon zweimal verboten, mich auf den Stuhl zu stellen. Schließlich gebe ich mich damit zufrieden, mit den Beinen unter dem Tisch zu schlenkern.
Mama und Papa nehmen uns morgens, bevor Papa zur Arbeit geht, oft mit ins Nudelrestaurant. Immer ist das Restaurant voll. Löffel klappern gegen den Boden großer Schüsseln, heißer Tee und Suppe werden geschlürft, und der Geruch von Knoblauch, frischem Koriander, Ingwer und Rinderbrühe lässt meinen Magen knurren. Uns gegenüber sitzt ein Mann, der sich Nudeln mit Stäbchen in den Mund schaufelt. Neben ihm tunkt ein Mädchen ein Stück Huhn in ein Schälchen mit Hoisin-Sauce, während ihre Mutter sich die Zähne mit einem Zahnstocher reinigt. Für Kambodschaner und Chinesen ist Nudelsuppe ein traditionelles Frühstück. Das essen wir normalerweise, nur manchmal, zu besonderen Gelegenheiten, bekommen wir französisches Brot und geeisten Kaffee.
»Sitz still«, sagt Mama und beugt sich runter, um meine Beine mitten im Schwung anzuhalten, wobei ich aus Versehen gegen ihre Hand trete. Mama sieht mich streng an und gibt mir einen leichten Klaps aufs Bein.
»Kannst du denn nie stillsitzen? Mit deinen fünf Jahren bist du das anstrengendste Kind. Warum kannst du dich nicht wie deine Schwestern benehmen? Wie soll aus dir denn jemals eine richtige junge Dame werden?« Mama seufzt. Natürlich kenne ich das alles schon auswendig.
Es muss schwer für sie sein, eine Tochter zu haben, die sich nicht wie ein Mädchen benimmt. Sie ist so schön und hat eine Tochter wie mich. Ihre Freundinnen bewundern Mama wegen ihrer Größe, ihrer schlanken Figur und ihrer porzellanweißen Haut. Ich habe sie schon oft über Mamas schönes Gesicht sprechen hören, wenn sie glaubten, dass sie sie nicht hören kann. Weil ich ein Kind bin, haben sie keine Hemmungen, alles in meiner Gegenwart auszusprechen. Sie glauben, dass ich sie nicht verstehe. Sie beachten mich gar nicht und kommentieren den schönen Schwung ihrer Brauen, ihre mandelförmigen Augen, ihre lange, schlanke westliche Nase und ihr ovales Gesicht. Bei einer Größe von einem Meter achtundsechzig ist Mama eine Amazone unter kambodschanischen Frauen. Mama sagt, sie sei so groß, weil sie rein chinesischer Herkunft sei. Sie sagt, eines Tages werde ich wegen meiner chinesischen Gene auch groß sein. Ich hoffe es, denn jetzt reiche ich gerade an Mamas Hüften.
»Prinzessin Monineath von Kambodscha, ja, das ist eine Dame«, fahrt Mama fort. »Man erzählt sich, sie gehe so leise, dass man sie nicht hören kann, wenn sie sich einem nähert. Sie lächelt, ohne ihre Zähne zu zeigen. Wenn sie mit Männern spricht, sieht sie ihnen nie direkt in die Augen. Was für eine anmutige Dame!« Mama sieht mich an und schüttelt den Kopf.
»Hmm …«, gebe ich zur Antwort. Laut trinke ich noch etwas aus der kleinen Coca-Cola-Flasche.
Mama sagt, ich stampfe herum wie eine Kuh, die vor Durst stirbt. Sie hat schon oft versucht, mir beizubringen, wie eine junge Dame schreiten sollte. Zuerst muss man den Hacken aufsetzen, dann auf dem Ballen abrollen, während sich die Zehen schmerzhaft krümmen. Schließlich soll man sich mit den Zehen weich vom Boden abstoßen. Das Ganze hat anmutig, natürlich und leise zu geschehen. Ich finde das zu kompliziert und schmerzhaft. Außerdem trampele ich gerne herum.
»Diese Situationen, in die sie dauernd gerät! Vor ein paar Tagen ist sie …«, sagt Mama gerade zu Papa. Sie wird von der Kellnerin unterbrochen, die unsere Suppen bringt.
»Phnom-Penh-Nudeln mit Hühnchen und ein Glas heißes Wasser«, sagt die Kellnerin und stellt die dampfende Schüssel durchsichtiger Kartoffelnudeln in klarer Brühe vor Mama hin. »Und zweimal scharfe Schanghai-Nudeln mit Rinderkutteln.« Bevor sie geht, stellt die Kellnerin noch eine Platte mit frischen Sojabohnensprossen, Limonenspalten, kleingeschnittenen Frühlingszwiebeln, ganzen roten Chilies und Minze auf unseren Tisch.
Während ich das alles in die Suppe gebe, taucht Mama meinen Löffel und die Stäbchen in das heiße Wasser. Dann wischt sie das Besteck ab und gibt es mir zurück. »In diesen Restaurants ist es nicht sehr sauber, aber das heiße Wasser tötet die Keime.« Sie reinigt auch Papas und ihr eigenes Besteck. Mama probiert ihre klare Hühnerbrühe, während ich zwei ganze rote Chilies in meine Suppe fallen lasse. Papa sieht mir wohlwollend zu. Mit dem Löffel zerdrücke ich die Chilies am Schüsselrand, und dann schmeckt meine Suppe so, wie ich sie gerne esse. Langsam schlürfe ich die Brühe, und meine Zunge fangt sofort an zu brennen. Meine Nase läuft.
Vor einiger Zeit hat Papa mir erklärt, dass Menschen in heißen Ländern scharfgewürztes Essen zu sich nehmen sollten, weil sie dadurch mehr Wasser trinken. Und je mehr Wasser wir trinken, desto mehr schwitzen wir. Schwitzen schwemmt die Schlacken raus. Ich verstehe das nicht, aber weil ich es so gerne habe, wenn er mich anlächelt, nehme ich noch mal von den Chilies. Dabei werfe ich den Salzstreuer um, der laut wie ein Baumstamm auf den Boden donnert.
»Pass doch auf!«, fährt Mama mich an.
»Sie hat es nicht extra gemacht«, sagt Papa zu ihr und lächelt mich an.
Mama sieht Papa stirnrunzelnd an und sagt: »Ermutige sie bloß nicht. Hast du die Geschichte mit dem Hahnenkampf schon vergessen? Da hat sie auch gesagt, sie hätte es nicht absichtlich gemacht, und jetzt sieh dir nur mal ihr Gesicht an.«
Ich kann einfach nicht glauben, dass Mama sich immer noch darüber ärgert. Es ist schon so lange her, als wir meinen Onkel und meine Tante auf dem Land besucht haben und ich mit dem Nachbarskind gespielt habe. Irgendwann haben wir uns jeder ein Huhn geschnappt und ließen sie mit den Hühnern der anderen Kinder kämpfen. Mama hätte gar nichts gemerkt, wenn ich nicht eine Schramme abgekriegt hätte, die man immer noch sieht.
»Aber es ist doch ein gutes Zeichen, dass sie sich in solche Situationen nicht nur reinbringt, sondern auch wieder rauskommt. Sie ist einfach schlau.« Papa verteidigt mich immer gegenüber allen. Er sagt oft, dass viele Leute kluge Kinder nicht erkennen können und dass all diese heiklen Sachen, die ich mache, in Wirklichkeit für meine Kraft und Intelligenz sprechen. Ob Papa nun recht hat oder nicht, ich glaube ihm jedenfalls. Ich glaube alles, was Papa sagt.
Wenn Mama für ihre Schönheit gerühmt wird, so ist es bei Papa sein gutes Herz. Bei einer Größe von einem Meter fünfundsechzig wiegt er etwa siebzig Kilogramm. Seine untersetzte Figur hebt sich von Mamas langer, schlanker Statur ab. Papa erinnert mich an einen großen weichen Teddybären, den man gerne in den Arm nimmt. Papa ist zum Teil Kambodschaner und zum Teil Chinese, er hat schwarzes, lockiges Haar, eine breite Nase, volle Lippen und ein rundes Gesicht. Seine warmen Augen sind braun wie die Erde und rund wie der Vollmond. Am meisten liebe ich an Papa seine Art, nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen zu lächeln.
Die Geschichte, wie meine Eltern sich kennengelernt und geheiratet haben, kann ich mir immer wieder anhören. In der Zeit, als Papa Mönch war, überquerte er eines Tages einen Fluss, an dem Mama Wasser schöpfte. Papa musste nur einen Blick auf Mama werfen, schon hatte es ihn erwischt. Mama sah, wie freundlich, stark und gutaussehend er war, und...