Grundthemen der positiven Psychotherapie
Eigene Erfahrungen sind teuer – fremde Erfahrungen sind kostbar.
Das Geheimnis des Marionettenspiels
Im Zelt eines Marionettenspielers stand dicht gedrängt eine Menschenmenge, die lauthals lachend dem Spiel der Marionetten folgte. Ganz hinten stand ein Vater mit seinem Sohn. Während der Vater auf den Zehenspitzen stehend die Szene gerade noch sehen konnte, reichte der Sohn mit seinem Kopf nur bis zur Hüftschärpe der Umstehenden. Er reckte sich den Hals aus und weinte schließlich, bis ihn der Vater auf die Schultern nahm. War das ein Vergnügen! Hoch oben über alle Turbane hinweg sah nun der Junge das lustige Spiel der Puppen. Er weinte nicht mehr, sondern jauchzte, hüpfte auf den Schultern des Vaters, als wäre er ein Reiter und der Vater das Pferd. Begeistert trommelte er mit seinen Fäusten auf den Kopf des Vaters, trampelte mit seinen Füßen gegen dessen Brust und vergaß völlig, dass er auf seinem Vater saß. Plötzlich merkte er eine Hand auf seiner Schulter. Erschreckt drehte er sich um und sah einen weißbärtigen, gütig blickenden Derwisch. „Mein Sohn“, sprach dieser, „du amüsierst dich sehr gut, du siehst das Marionettentheater besser als viele andere im Zelt. Doch denke daran, wenn dein Vater sich nicht die Mühe gemacht hätte, dich auf seine Schultern zu laden, stündest du noch unten, im Schatten der anderen. Vergiss also nicht, auf wessen Schultern du sitzt. Du solltest dich freuen und glücklich sein. Du solltest aber auch die anderen, auf deren Schultern du glücklich bist, nicht vergessen.“
Die Entwicklung der Positiven Psychotherapie
Eine wichtige Motivation für meinen Ansatz mag gewesen sein, dass ich mich in einer transkulturellen Situation befinde. Als Perser (Iraner) lebe ich seit 1954 in Europa. In dieser Situation wurde ich darauf aufmerksam, dass viele Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Einstellungen in den verschiedenen Kulturkreisen häufig unterschiedlich bewertet werden. Höflichkeit im Iran beispielsweise stellt sich anders dar als in Deutschland. Dies bedeutet nicht, dass der Deutsche oder der Iraner deswegen unhöflicher wäre, sondern lediglich, dass beide Kulturkreise eigene Vorstellungen von Höflichkeit haben. In ähnlicher Weise besteht auch für die anderen gängigen psychosozialen Normen eine kulturabhängig Relativität.
In Deutschland gilt das Motto: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Der Höflichkeitsrest, den man früher zurückgehen ließ, als unpassend, unzeitgemäß. Als höflich wird es hier von vielen angesehen, wenn man der Hausfrau, womöglich der Küche, stillschweigend dadurch ein Kompliment macht, dass man nichts zurücklassen möchte.
Eine deutsche Frau, die im Iran zu Besuch war, wurde krank. Sie litt unter Verdauungsstörungen und klagte: „Ich kann kein Essen mehr sehen. Seit einer Woche bin ich hier. Fast jeden Tag war ich bei einer anderen Familie zu Gast. Meine Gastgeber waren sehr lieb und verwöhnten mich, wo sie nur konnten. Nur das mit dem Essen habe ich nicht verkraftet. Wenn ich meinen Teller leer gegessen hatte – das Essen schmeckte immer ausgezeichnet –, wurde sofort wieder nachgelegt. Um nicht unhöflich zu sein, habe ich auch das noch gegessen. Aber dann wurde wieder nachgelegt. Dies ging solange, bis mir fast schlecht wurde und ich aus reiner Selbsterhaltung keine Rücksicht mehr auf meine Gastgeber nehmen konnte und das Essen einfach stehen ließ. Ich hatte dabei aber ein schlechtes Gewissen, weil die Leute so nett und freundlich waren. Ich wollte nicht unhöflich sein.“
Die Besucherin hätte kein schlechtes Gewissen zu haben brauchen, denn im Iran ist es beste Sitte, einen Teil des Essens als Zeichen dafür, dass man satt ist, stehen zu lassen.
Solche Erlebnisse lenkten meine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung psychosozialer Normen für die Entstehung zwischenmenschlicher und innerseelischer Konflikte. Dabei fand ich sowohl bei orientalischen als auch bei europäischen und amerikanischen Patienten im Zusammenhang mit den bestehenden Symptomen Konflikte, die auf eine Reihe immer wiederkehrender Verhaltensweisen zurückgehen. Ich versuchte daher, diese Verhaltensnormen zu sichten und einen Überblick über derartige Phänomene zu erhalten. Eng zusammengehörende Begriffe wurden zusammengefasst und schließlich ein Inventar erstellt, mit dessen Hilfe sich die inhaltlichen Komponenten der zentralen Konfliktbereiche beschreiben lassen. Was sich auf dem erzieherischen und psychotherapeutischen Sektor als Konfliktpotential und Entwicklungsdimension darstellte, fand sich im Bereich der Moral und der Religion im normativen Sinn als Tugend wieder.
Aus den psychotherapeutisch relevanten Verhaltens- und Einstellungsnormen entwickelte sich das Differenzierungsanalytische Inventar (DAI) als relativ umfassendes Kategoriensystem. Die darin enthaltenen Verhaltensnormen nannte ich Aktualfähigkeiten, ein Begriff, den ich deshalb für notwendig halte, weil diese Normen als Fähigkeiten in der Entwicklung des Menschen vorgegeben sind; sie sind Entwicklungsdimensionen, deren Ausprägung durch günstige oder hemmende Umwelteinflüsse gefördert oder unterdrückt wird. Aktualfähigkeiten deshalb, weil sie im täglichen Leben auf die verschiedenste Weise fortwährend aktuell angesprochen werden. Mir stellten sich im Zusammenhang mit den psychosozialen Normen folgende Fragen:
Wodurch kommt es zu Konflikten? Wie lassen sich diese Konflikte angemessen beschreiben? Was steht hinter den Symptomen der psychischen und psychosomatischen Störungen und den Einschränkungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen, und wie können diese Störungen angemessen behandelt werden?
Was heißt „Positive Psychotherapie?“
Der Begriff „positiv“ wird üblicherweise als moralische Kategorie verwendet. Allerdings, was „positiv“ als Werturteil auch immer sein mag, es hängt von dem Bezugssystem ab, das erst den Maßstab für gut und böse liefert.
Die Positive Psychotherapie hinterfragt gerade diese Bezugssysteme. „Positiv“ bedeutet hier etwas Weiteres. Es meint entsprechend seinem ursprünglichen Wortsinn (lat.: positum) das Tatsächliche, das Vorgegebene. Tatsächlich und vorgegeben sind nicht notwendigerweise die Konflikte und Störungen, sondern auch die Fähigkeiten, die jeder Mensch mit sich bringt. Das heißt nicht, alles mit einem positiven Vorzeichen zu versehen. Die Positive Psychotherapie versucht, zwischen dem kritischen Verhalten und den Fähigkeiten zu differenzieren. Erst dieses Vorgehen erlaubt es, konfliktarme oder stabile Verhaltensanteile von dem Symptom zu trennen. Es bereitet den Patienten und seine Umgebung darauf vor, besser mit bestehenden Problemen umzugehen.
Allen unseren körperlichen, seelischen und sozialen Funktionen liegt die Fähigkeit zur Differenzierung zugrunde. Der therapeutische Eingriff, gleichgültig, welche Methoden im Einzelnen angewandt werden, ist letztlich der Versuch, dem Betroffenen eine verfeinerte, situationsangemessene Unterscheidung zu ermöglichen. Sie gestattet es ihm, sich den Anforderungen einer Situation im Rahmen seiner Zielvorstellung angemessen zu verhalten.
Nach traditioneller Auffassung steht zwischen Therapeut und Patient die Krankheit:
Therapeut | Krankheiten – Symptome | Patient |
Traditionelles Vorgehen
Sobald wir uns nicht mehr mit der Krankheit beschäftigen, sondern auch die regenerativen Fähigkeiten der Patienten berücksichtigen, erhält die Beziehung zwischen Therapeut und Patient eine neue Qualität:
Therapeut | Fähigkeit Krankheiten – Symptome | Patient |
Positives Vorgehen bedeutet, uns und andere Menschen so zu akzeptieren, wie wir/sie gegenwärtig sind. Wir müssen in uns und in ihnen aber auch sehen, was wir bzw. sie werden können. Und so geht es zunächst darum, die Menschen in ihren Störungen und Krankheiten anzunehmen, um dann mit den noch unbekannten, verborgenen und durch die Krankheit verschütteten Fähigkeiten in Kontakt zu kommen.
Die sozialen Beziehungen geraten im Laufe der körperlich-seelischen Reifung immer mehr in den Vordergrund. Entsprechend nimmt auch die psychische und psychosoziale Differenzierung ihren hervorragenden Platz ein. Im psychosozialen Bereich sind im Wesentlichen zwei grundsätzliche Differenzierungsmöglichkeiten zu unterscheiden: die emotionale Differenzierung und die Differenzierung des Wahrnehmens, Wissens und der Leistungsfähigkeit. Das Kind lernt, was angenehm und unangenehm ist, und lernt damit, auch die Eigenschaften und Kennzeichen seiner Umwelt zu unterscheiden:
Wenn ein kleines Kind zum Beispiel lernt, was ein Tisch ist, muss es verschiedene Eigenschaften seiner Umwelt unterscheiden. Eine Hilfe bietet ihm alles, was es wiedererkennen kann. So treffen Eigenschaften in bestimmter Weise immer wieder zusammen. Alles, was vier Beine und darüber eine Platte hat, wird als Tisch erkannt – mögen diese Gegenstände in der Puppenstube stehen oder in der Küche. Hat ein Kind in dieser Weise differenziert und wieder integriert, kann es Tische, die es zuvor noch nie gesehen hat, von allem anderen unterscheiden, was nicht Tisch ist. Diese Unterscheidung gelingt schließlich auch dann, wenn diese „Nicht-Tisch-Gegenstände“ Eigenschaften des Tisches aufweisen wie zum Beispiel ein Stuhl. Dieses Vorgehen reduziert...