1 Die fünf Bausteine der Liebe
Die eigenen Liebesgefühle auch im Alltag immer wieder zu reaktivieren, sie direkt an den Partner heranzutragen, mit ihm darüber in lebendigen Austausch zu gehen, das lässt die Liebe auch in Krisen stark bleiben. Fortgeschrittene Liebende, die über die Flitterwochen-Gefühle hinaus aktiv lieben, d. h. Höhen und Tiefen bewusst, intensiv und auch selbstkritisch gestalten, begreifen ihre Partnerschaft als Entwicklungsgemeinschaft und Herausforderung zur Persönlichkeitsentfaltung. Sie werden auf diese Weise Entwicklungshelfer der besonderen Art füreinander.
Dazu braucht es neben tiefem gegenseitigem Einfühlungsvermögen auch Wissen um die fünf „Bausteine der Liebe“. Für die Liebe wird nämlich nicht nur das Herz, sondern auch der Kopf gebraucht, Klugheit, Vernunft und breitgefächertes Begreifen um die Gesetzmäßigkeiten und Regeln der Liebesdynamik. Intuitives Fühlen und stürmische Impulse, erotischer Frühling und dramatische Szenen einer Ehe reichen nicht aus.
Wer auf die Liebe bauen will, muss die Baustoffe und die Bausteine kennen, ebenso das nötige Handwerkszeug. Wir als Architekten an unseren Häusern der Liebe brauchen dafür sehr spezifische Baupläne. Im Vergleich zum Hausbau ist der Aufbau einer Liebesbeziehung allerdings weitaus dynamischer und impulsiver beziehungsweise weniger statisch. Sich immer wieder neu zu verlieben in den „alten“ Partner und noch tiefere Gefühle zu entwickeln, sie oder ihn mit immer neuen Augen zu entdecken – trotz Zeitnot! –, das ist die erotische Kunst. Liebesgefühle wieder und wieder aufzubauen, statt in Gewohnheit und Alltag zu erstarren, ist der sichere Weg dahin.
Aktives Lieben
Kein Weg führt daran vorbei: Das wichtigste Eigenkapital zum Aufbau starker Liebe liegt darin, nicht einfach nur Zeit, sondern intensive Zeit einzusetzen. Ohne Zeit stirbt jede Liebe. Aktiv oder gar proaktiv lieben, heißt aber noch mehr, nämlich das dynamische Entfalten und Gestalten von Liebesglück bewusst, konsequent und zeitgerecht in die eigenen Hände zu nehmen. Reaktive Gestaltung (Viktor Frankl 1946) dagegen, also abwartende, sich anpassende oder gar passive Liebesgestaltung in Abhängigkeit von der jeweiligen Stimmungslage, bringt auf Dauer hohe Verluste an Liebeszeit und Liebeserfüllung. Das kostbare Zeitbudget, das uns heute zur Verfügung steht, gerecht und vor allem im Sinn intensiver Liebe aufzuteilen zwischen Paarzeit, Familienleben, beruflicher Anforderung und persönlicher Neigung, wird immer wieder neu zu einer Herkulesaufgabe.
Oft genug endet das Ringen um diese wichtige Intimzeit mit dem Partner aber auch als Sisyphusarbeit. Viele Paare verzweifeln daran. Worte reichen nicht aus, den resultierenden Frust zu schildern. Einige brechen aus in hilflose Zornattacken, andere in ebenso hilfloses Schluchzen. Viele beginnen dann, den Partner als Gegner zu identifizieren, obwohl sehr viel Druck eigentlich von außen auf das Paar einwirkt. Wir alle müssen letztlich lernen, zusammen mit dem Partner nicht nur an uns selbst zu arbeiten, sondern uns gemeinsam als Paar gegen die von außen diktierte Zeitnot zu wehren.
Nicht mehr der Sturm der Gefühle und der prickelnde Rausch der Sinne wie am Anfang der Beziehung steuern jetzt den Alltag des fortgeschrittenen Paars. Wir überlassen uns nicht mehr den heftigen Gefühlen und vertrauen nicht mehr naiv darauf, glücklich gemacht zu werden. Wir kennen die Risiken der Liebe und haben ihre Schmerzen und traurigen Seiten am eigenen Leib erfahren. Wir haben uns in vielen Streitgesprächen gewappnet gegen Verletzungen, gegen Unrecht und Enttäuschung. Die Routine des Alltags hat Einzug gehalten bis ins gemeinsame Bett und hat uns meist die Höhen und Tiefen der stürmischen Leidenschaft genommen.
Doch genau hier und jetzt beginnt das „Aktive Lieben“! Wir beginnen miteinander ein neues Liebesleben. Das gezielte Bündeln der Zeit richtet sich bewusst auf intensive Begegnung und Berührung – auf „wesentliche Zeit“. Auch im Konflikt miteinander wird Zeitverlust durch destruktiven Streit vermieden und stattdessen konstruktiver Streit mit einer funktionierenden Streitkultur geführt. Dieser Umgang miteinander muss natürlich konsequent erarbeitet werden. Starten Sie mit dem Partner dazu möglichst noch heute einen Test, nämlich einen Selbstversuch. Experimentieren Sie miteinander und probieren Sie sich aus. Es muss nicht gleich gelingen. Auf das Probieren kommt es an.
Selbstversuch: Wesentliche Zeit
Beginnen Sie zunächst (jeder für sich) mit einer schriftlichen Bestandsaufnahme, die gemeinsame Höhepunkte und Tiefpunkte der letzten vier Wochen aufreiht und abwägt. Beide führen Sie sich bewusst den unersetzlichen Wert Ihrer Beziehung vor Augen. Lesen Sie sich gegenseitig Ihre Bestandsaufnahmen vor und besprechen diese. Trauen Sie sich bei diesem Versuch, den destruktiven Umgang miteinander zu erkennen und zu benennen. Bekennen Sie dann dem Partner gegenüber eigene Fehler, statt seine Fehler auszuschlachten. Sie üben so gleichzeitig, den Partner bewusst zu würdigen, statt ihn durch herabsetzende Kritik zu demütigen.
Trigger, die beim Partner Sofortkrisen auslösen, werden benannt und nach und nach gestoppt. Trigger sind Reizwörter und Feststellungen, die Alarmglocken schrillen lassen und sofortige Gegenwehr auslösen. Nicht kränkende Anklage, sondern um Verständnis bittende Klage ist jetzt wichtig. So zum Beispiel „Ich bin so angewiesen auf deine Zuverlässigkeit hier in der Familie. Ohne sie gerate ich in Gefühle von Alleingelassensein. Ich brauche dich als Stütze für meine Geborgenheit.“
Diese Bestandsaufnahme dauert etwa vier Wochen. Dazu gehören pro Woche zwei Termine zu je einer Stunde – mit gegenseitigem Vorlesen und Besprechen sowie einer gemeinsamen Abschlussbewertung. Grundlage dieses Procederes ist gegenseitiges Wohlwollen. In dieser Bestandsaufnahme geht es um vorbeugende Auseinandersetzung – in Friedenszeiten. Es wird Rückfälle geben, aber Übung macht den Meister.
Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom Wissen um die Verantwortung für das gemeinsame Glück. Dazu gehört besonders das Wissen um die eigenen Altlasten und seelischen Verletzungen, die jeder von uns mitbringt in die Beziehung. Diese werden in der Regel unbewusst, oft sogar unbemerkt von beiden Partnern dem anderen zusätzlich zu seinen eigenen aufgelastet. Ohne aktive Bestandsaufnahme bleiben sie auch weiterhin unbewusst und setzen die innerseelische Zerstörung der Liebe fort. Diese bildet zusammen mit der Zeitnot als externe Zerstörungskraft die Hauptursache aller Partnerkrisen.
Aktives Lieben ist gekennzeichnet vom allmählichen Erwachsenwerden und Beendigen der „kindlichen Streitrituale“. Ziel ist, diese in der Kindheit verwurzelten inneren Kränkungsmuster, die zur unbewussten Sabotage am Liebesglück führen, sowie die aufgezwungenen äußeren Stress-Muster mit dem Partner genau zu identifizieren. Gemeinsam mit und durch den Partner lassen sich die inneren kindlichen Verletzungen durch Trost und gefühlvolle Nachnährung heilen. So wird gegenseitiges Verzeihen und Um-Verzeihung-Bitten für die im Liebesalltag zugefügten Kränkungen möglich. Dann kann auch der Kampf gegen die übermächtige Zeitnot gewonnen werden.
Liebe ist mehr als nur ein Gefühl. Liebe ist vor allem Herausforderung. Soll sie auf Dauer gelingen, fordert sie uns mit Körper, Geist und vor allem mit der Seele. Nichts und niemand auf der Welt fordert uns so vielseitig und umfassend wie der eigene Partner. Lieben heißt, immer wieder für Momente mit jeder Faser unseres Körpers, mit allen Hirnzellen und der ganzen Tiefe unserer seelischen Empfindungen für den anderen präsent zu sein. Kein anderes menschliches Phänomen wirkt so dynamisch wie die Liebe. Fortgesetzte Paar- und Selbstentwicklung stehen deshalb gleichberechtigt nebeneinander, bedingen einander sogar.
Für manchen mag das zu viel verlangt erscheinen, ist es aber nicht wirklich, da „das eigentliche Ziel der Liebe das Werden des Paares ist und nicht die narzisstische Befriedigung der Individuen, aus denen es besteht“, so der berühmte französische Philosoph Alain Badiou (2011). Er nennt das einen „minimalen Kommunismus“ und setzt damit bewusst einen Kontrapunkt gegen den Mainstream von Egomanie und narzisstischer Selbstoptimierung. Das Rigorose an dieser Aussage entspricht nicht ganz unserer Auffassung in der Paarsynthese, setzt aber einen wichtigen Akzent. Liebe meint innere Teilhabe ohne Besitzanspruch – mit voller Verantwortung füreinander, doch ohne Rechtsanspruch. Paarsynthese verkörpert sich im Zusammenwirken der Gegensätze von männlich und weiblich, von zart und hart, von stark und schwach, von Hingabe und Abgrenzung – von Ich und Du.
Können wir als Paar unsere Widersprüche und Gegensätzlichkeiten im Dialog miteinander austragen, erfahren wir Heilung unserer selbst. Damit wird Liebe zum schützenden Raum. Die oft unversöhnlichen Gegenpole von Schwächen und Stärken in dir und in mir werden nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern ausgesöhnt durch Verstehen, Anvertrauen und Verzeihen. Das können wir auch proaktives Lieben nennen.
Zusammen gestalten wir daraus einen Prozess des Werdens von Selbstfindung und Paarfindung. Von dem Lernen aus deinen und meinen Fehlern, kombiniert mit dem Wachsen und Reifen deiner und meiner Stärken, ernten wir gemeinsam vom Reichtum der Liebe. Das altgriechische „Werde, der du bist“ erweitert sich zum „Werden, wer wir sind“.
Die drei Grundfragen der Philosophie: „Woher kommen wir?,...