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ALLES EINE FRAGE DER HALTUNG
In der Welt der Fitness und der Medizin ist die Körperhaltung heute eines der am häufigsten missverstandenen Themen. Es gibt so viele Mythen rund um die Körperhaltung, mit denen man nur seine Zeit und Energie vergeudet und die einen ausgesprochen frustriert zurücklassen. Angesichts all der Fehlinformationen ist es wichtig, die Mechanismen der Körperhaltung zu verstehen. Dieses Verständnis verhilft uns zu einem besseren Aussehen, mehr Wohlbefinden und einer gesteigerten Leistungsfähigkeit.
Wenn es im Zusammenhang mit Fitness ein Prinzip gibt, das man unbedingt verstanden haben sollte, dann ist es das sogenannte SAID-Prinzip (Specific Adaption to Imposed Demand, zu Deutsch spezifische Anpassung an auferlegte Anforderungen), dem alle Reaktionen unseres Körpers folgen. Das SAID-Prinzip zeigt uns, dass der Körper sich entsprechend anpasst, wenn er mit bestimmten Reizen beziehungsweise Stimuli konfrontiert ist, sodass die Homöostase nicht gestört wird. Homöostase bedeutet vereinfach gesagt, dass der Körper alles tut, um das Gleichgewicht zwischen den äußeren Anforderungen und seinen Funktionen und Strukturen aufrechtzuerhalten. Wenn Sie beispielsweise Krafttraining mit schweren Gewichten absolvieren, reagiert Ihr Körper auf diese auferlegten Anforderungen mit einer spezifischen Anpassung, indem er die Knochendichte erhöht, das Bindegewebe intakt hält, mehr Muskelmasse aufbaut und neurologische Anpassungen vornimmt, um mehr Kraft zu entwickeln. Unsere Körperhaltung lässt sich als ein ähnlicher Prozess verstehen: Auch hier reagiert der Körper laufend auf die Anforderungen, die Sie ihm auferlegen.
Lange wurde die Körperhaltung als etwas Statisches begriffen: Die korrekte Ausrichtung verschiedener knöcherner Orientierungspunkte übereinander wurde als »gute« Haltung betrachtet. Diese knöchernen Orientierungspunkte reichen von den Sprunggelenken bis hoch zum Kopf. Die lineare Anordnung dieser Orientierungspunkte galt als die optimale Ausrichtung. Folgende knöcherne Orientierungspunkte stehen dabei im Fokus:
• Etwas vor dem Außenknöchel gelegener Punkt
• Etwas vor der Knieachse gelegener Punkt
• Etwas hinter der Hüftachse gelegener Punkt (der große Rollhügel am oberen Ende des Oberschenkelknochens dient als Orientierungspunkt)
• Lendenwirbelkörper
• Halbierungslinie durch das Glenohumeralgelenk (also das Schultergelenk, in dem das obere Ende des Oberarmknochens und das Schulterblatt sich treffen)
• Die meisten Halswirbelkörper
• Am Schädel der Punkt etwas hinter dem Scheitel der Kranznaht (in der Nähe der Protuberantia occipitalis externa, also der Knochenvorwölbung an der Außenseite des Hinterhauptbeins)
Diese Auffassung von der Körperhaltung als statisches System hat sich jedoch in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund zusätzlicher Forschungsanstrengungen gewandelt. Unsere Körperhaltung ist ein sehr komplexes Zusammenspiel zwischen dem neurologischen und dem muskulären System unseres Körpers. Beide ermöglichen es uns gemeinsam, bestimmte Haltungen einzunehmen. Einige Faktoren, die daran beteiligt sind, dieses Zusammenspiel zu gestalten, sind Gewohnheiten, neurologische Reflexe, Anpassungsreaktionen des Körpers und die Zeit.1 Lassen Sie uns diesen Zusammenhang anhand einiger Beispiele etwas verständlicher machen.
• Gewohnheiten: Was mit Gewohnheiten gemeint ist, ist leicht nachzuvollziehen. Wir schlafen oft auf die gleiche Art und Weise, putzen uns nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen die Zähne und duschen zu bestimmten Zeiten. Es gibt zahllose weitere Beispiele für einen solchen typischen Tagesablauf. Gewohnheiten im Hinblick auf die Körperhaltung und -ausrichtung können tief in unserem Körper verwurzelt sein: Kinder, die von ihren Eltern oft gesagt bekamen, sie sollen gerade sitzen oder stehen, werden diese Angewohnheit, die ihnen in jungen Jahren nahegelegt wurde, sehr wahrscheinlich beibehalten. Wer eine militärische Ausbildung absolviert hat und häufig strammstehen musste, wird diese Gewohnheit vermutlich ebenfalls beibehalten. Andererseits wird jemand, der viel Zeit im Sitzen verbringt oder einen Schreibtischjob hat, eher dazu neigen, im Oberkörper mit gebeugtem Hals nach vorn zu sacken.
• Neurologische Reflexe: Haben Sie schon mal beobachtet, wie jemand im Auto oder im Flugzeug einschläft? Sitzt die Person aufrecht auf einem Stuhl und gleitet dann allmählich in den Schlaf, beginnt der Körper zu schwanken. Meist neigt sich der Körper zu der einen oder anderen Seite und sackt dann in sich zusammen. Zwischendurch richtet sich der Schlafende möglicherweise aus unerklärlichen Gründen ruckartig auf, ohne dabei aufzuwachen. Das ist ein neurologischer Reflex, den der Körper ganz von allein auslöst; ein Reflex also, der keiner bewussten Anstrengung bedarf und der den Körper aufrecht hält.
• Körperanpassungen: Im Hinblick auf die Aufrechterhaltung physiologischer Prozesse reguliert sich der Körper mit dem Ziel, wieder die richtige Balance zu finden, fortwährend selbst. Ähnlich wie Atome oder jede andere Art von hoch- oder höherenergetischen Objekten bewegt sich der Körper insbesondere bevorzugt auf einem möglichst niedrigen Energieniveau: Der Mensch liebt es, sich zu entspannen. Im niedrigstmöglichen Energiezustand des Körpers – beim Essen, Entspannen, wenn wir liegen und schlafen – dominiert der Parasympathikus: Beim Sitzen fordert eine nach vorn gebeugte Haltung dem Körper den geringsten Energieeinsatz ab. Sind die Muskeln des Körpers inaktiv, sinken wir zusammen oder krümmen unseren Rücken, während die Knochen und Bänder unser Gewicht halten. Dieses Streben nach einem geringen Energieaufwand ist einer der wesentlichen Faktoren dafür, dass wir beim Sitzen dazu neigen, in uns zusammenzusacken.
• Zeit: Die Zeit ist ein wichtiger Faktor im Zusammenspiel zwischen unseren Gewohnheiten und den Anpassungsreaktionen unseres Körpers. Wenn Sie regelmäßig vor dem Computer sitzen oder sich beim Lernen nach vorn über Ihr Buch beugen, versucht der Körper – vor allem hinsichtlich der Haltung – den Aufwand, den er erbringen muss, zu minimieren. Daher spannt er nun bestimmte Muskeln an, während er andere entspannt, um sich dieser Haltung anzupassen. Der Zeitfaktor gemahnt Sie daran, dass nicht nur Ihr Training Ihre Körperhaltung beeinflusst, sondern dass alles andere, was Sie im Laufe des Tages tun, ebenfalls eine Rolle spielt. Studenten und Büroangestellte, die über lange Zeiträume am Schreibtisch sitzen, müssen für ihre Haltung ein stärkeres Bewusstsein entwickeln als andere Menschen, deren Alltag stärker von körperlicher Aktivität geprägt ist.
Wie Sie sehen, bestehen zahlreiche Wechselwirkungen zwischen Angewohnheiten, neurologischen Reflexen und Anpassungsreaktionen, die die Körperhaltung jedes einzelnen Menschen beeinflussen.
Da wir neurologische Reflexe in der Regel nicht bewusst steuern können, konzentrieren wir uns im Folgenden auf die Herausbildung positiver Gewohnheiten, um eventuell bestehende Probleme zu korrigieren. Achtsamkeit hilft uns dabei, möglichen Problemen in Bezug auf körperliche Anpassungsreaktionen entgegenzuwirken. Die Entwicklung förderlicher Gewohnheiten und Achtsamkeit sind ausschlaggebend, um Nutzen aus einer guten Körperhaltung und -ausrichtung zu ziehen.
Falls Sie eine schlechte Körperhaltung haben und Ihren Körper in eine Haltung bewegen, die allgemein als gute Haltung betrachtet wird, werden Sie sich zunächst unbehaglich fühlen. Das liegt daran, dass Ihr Körper sich der schlechten Haltung angepasst hat und sie als normal empfindet, obwohl sie das in Wirklichkeit nicht ist. Ihre Standardhaltung wird Ihnen zur Gewohnheit, so wie wir uns auch das Rauchen, übermäßiges Essen, Zahnpflege ohne Zahnseide oder jede andere alltägliche Handlung angewöhnen können. Es ist ausgesprochen schwierig, schlechte Gewohnheiten loszuwerden, vor allem, wenn schon einige Zeit vergangen ist und Ihr Körper sich ihnen angepasst hat.
In den folgenden Kapiteln dieses Buchs werden wir tiefer in die Materie einsteigen und uns mit der Geschichte der Haltungskorrektur befassen, mit Schmerzen, Muskelverspannungen und der Bedeutung der Körperhaltung für verschiedenste Aspekte unseres Lebens – und natürlich damit, wie Sie Schritt für Schritt zu einer besseren Körperhaltung gelangen können.
ZUSAMMENFASSUNG DES KAPITELS
• Ihre derzeitige Haltung ist auf die Anpassungsreaktionen zurückzuführen, die Ihr Körper aufgrund der ihm täglich auferlegten Anforderungen vorgenommen hat. Wenn Ihr Körper...