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Kollektive Achtsamkeit organisieren

Strategien und Werkzeuge für eine proaktive Risikokultur

AutorAnnette Gebauer
VerlagSchäffer-Poeschel Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl367 Seiten
ISBN9783791040455
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Das Buch liefert einen innovativen Management-Ansatz für Organisationen, für die Hochzuverlässigkeit und ein proaktives Risikomanagement essenziell sind. Zu solchen High-Reliability Organizations (HRO) gehören z. B. Chemieunternehmen, Krankenhäuser und Banken. Als Workbook für die Beratungspraxis beantwortet es grundlegende Fragen wie: - In welchen Kontexten ist der bewusste Umgang mit Sicherheit und Risiko unumgänglich? - Welche Methoden haben sich beim Umgang mit dem Unerwarteten bewährt? - Wie werden sie angewendet? - Wie kann eine Kultur der organisationalen Achtsamkeit entwickelt werden?Geliefert werden Konzepte und Instrumente für den Aufbau zuverlässiger, krisenfester und resilienter Organisationen. Inklusive Fallbeispielen zu verschiedenen Veränderungskonzepten und einem Geleitwort von Kathleen Sutcliffe.

Annette Gebauer Dr. Annette Gebauer ist systemische Organisationsberaterin und Inhaberin der Beratung Interventions for Corporate Learning (ICL) mit Sitz in Berlin. Ihre Arbeit fußt auf dem von Karl E. Weick und Kathleen Sutcliffe begründeten Management-Ansatz des High Reliability Organizing (HRO), den sie für die praktische Umsetzung in Management und Beratung konkretisiert hat. Gebauer unterstützt zahlreiche internationale Unternehmen in Veränderungsprozessen zur nachhaltigen Kulturentwicklung sowie zur Steigerung der organisationalen Lern- und Leistungsfähigkeit.

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Leseprobe

1   Einführung: Warum kollektive Achtsamkeit?


Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt uns die Frage, wie zuverlässigkeitsorientierte Organisationen angemessene Formen für den Umgang mit Risiken und hoher Komplexität entwickeln können: Unternehmen der chemischen oder der Schwerindustrie, Krankenhäuser, Banken, Automobilhersteller, Dienstleister oder Pharmakonzerne. Wenn diese Unternehmen sich an uns wenden, stellen sie sich meistens folgenden Fragen: Wir tun so viel für Sicherheit, Qualität oder für das Risikomanagement – teilweise tun wir sogar zu viel und trotzdem passieren noch immer unerwartete und unerwünschte Vorfälle, die wir uns in Zukunft aber nicht mehr leisten können. Tun wir überhaupt die richtigen Dinge? Und wie tun wir die Dinge, die wir tun?

Viele dieser Unternehmen erwägen einen grundlegenden Musterwechsel im Umgang mit Risiken, denn das Prinzip „mehr Systeme und mehr Vorgaben“ funktioniert für sie nicht mehr. Sie erleben, wie ihr bisheriges Muster, Unsicherheit ausschließlich durch Kontrolle und immer weiter ausufernde Vorgaben zu bearbeiten, an eine Grenze stößt.

Dieses Buch widmet sich der Frage, wie alternative, angemessenere Formen des Organisierens für die Bewältigung von Risiken und Komplexität aussehen und wie sie in der Praxis nachhaltig umgesetzt werden können. Wir stützen uns dabei auf die Erkenntnisse besonders zuverlässiger Organisationen, die es geschafft haben, ihre Leistungsfähigkeit durch das gezielte Organisieren ihrer kollektiven Achtsamkeit zu steigern.

Steigende Anforderungen an die Bearbeitung von Komplexität und Risiken

So unterschiedlich die Anforderungen der genannten Unternehmen sind – sie alle stehen vor der Herausforderung, ein steigendes Ausmaß an Risiken, Komplexität und Dynamik bewältigen zu müssen, sei es durch den zunehmenden Einsatz hoch spezialisierter Technologien, der digitalen Transformation oder aufgrund fortschreitender Globalisierung. Neue Risiken entstehen zudem durch einen reflexiven Umgang mit Gefahren: Risikoerwartungen führen zu unerwarteten Verhaltensveränderungen, die neue Risiken und Ungewissheiten produzieren.

Zeitgleich steigen die Erwartungen der Außenwelt an die Zuverlässigkeit dieser Organisationen. Kunden, Patienten, Mitarbeiter, Regulierungsbehörden und die mediale Öffentlichkeit beobachten sie kritisch und verlangen von ihnen Berechenbarkeit und Transparenz. Krankenhäuser stehen zum Beispiel zunehmend in der Pflicht, Auskunft über Patientensicherheit und Behandlungsqualität zu geben und müssen sich mit den Leistungskennzahlen anderer Häuser vergleichen. Banken müssen die Auflagen der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) der Finanzaufsichtsbehörde erfüllen, ebenso wird ihr Umgang mit operationellen Risiken kontrolliert. Produzierende Unternehmen sind verpflichtet, über ihre Performance in der Arbeits- und Umweltsicherheit oder im Risikomanagement zu berichten und werden danach bewertet. Weil sie in einem riskanten Umfeld tätig sind, dürfen sich diese Unternehmen nur eine minimale Anzahl an unerwarteten, unerwünschten Ereignissen leisten.

Sicherheit als Trend

Nicht das Thema Risiko, sondern das Thema Sicherheit hat Hochkonjunktur. Das Institut für Zukunftsstudien wertet Sicherheit bereits als neuen Megatrend (vgl. Seitz, 2015). Anders als der Begriff Risiko ist der Wunsch nach mehr Sicherheit mit der Vorstellung verbunden, dass es einen bereits erreichten „sicheren“ Zustand zu erhalten und zu schützen gilt. In Zeiten erlebter Unsicherheit ist es offenbar naheliegender, den Schutz der Sicherheit zu fordern, statt sich mit selbst produzierten Risiken auseinanderzusetzen. Der Ruf nach mehr Sicherheit führt allerdings häufig zu einer sich selbstverstärkenden Spirale: Die Sensibilität für erlebte Unsicherheit steigt und damit wiederum der Anspruch an Sicherheit.

Sinnvoller wäre es, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass wir mit jeder unternehmerischen Entscheidung zwangsläufig Risiken produzieren und dass die Aufgabe darin besteht, für diese Risiken angemessene Bewältigungsformen zu entwickeln. Wir behandeln Sicherheit deshalb nicht als eine Frage von Security oder geeigneten Schutzmaßnahmen, wie es auch das Institut für Zukunftsstudien sieht. Es geht darum, wie Organisationen die notwendige Resilienz oder gar Antifragilität (vgl. Taleb, 2012) entwickeln, um mit unerwarteten Veränderungen, Brüchen und Krisen umgehen zu können.

Alte Bewältigungsmuster reichen nicht mehr aus

Geht es um die Bearbeitung von Sicherheits- bzw. Risikofragen, verfolgen viele Unternehmen immer noch vor allem kontrollorientierte Strategien. All diesen Bemühungen ist der Versuch gemein, das „Problem der Komplexität“ durch Regulierung und Technisierung zu lösen. Das Unbeherrschbare soll beherrschbar, das Unerwartbare erwartbar gemacht werden.

Mit diesem Vorgehen haben viele Unternehmen einiges erreicht. Sie haben zum Beispiel umfangreiche Systeme für das Risiko-, das Sicherheits- oder das Qualitätsmanagement eingeführt und haben sich zertifizieren lassen. Konzerne schulen ihre Mitarbeiter vorschriftsmäßig und führen regelmäßig Initiativen zu ihrer zusätzlichen Motivierung durch. Diese Sicherheitsstrategien haben in den ersten Jahren zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Kennzahlen geführt. Doch mittlerweile klagen viele Unternehmen, sie kämen über ein bestimmtes Niveau in der Risikobewältigung nicht hinaus, während die Komplexität ihrer Sicherheitsherausforderungen sowie der Anspruch an Sicherheit steige.

Es lässt sich beobachten, dass in besonders sicherheitsorientierten Unternehmen die formalen Systeme aus Vorschriften, Regeln, Checklisten und Prozessvorgaben, Ampelsystemen, Dokumentationspflichten, Statistiken oder Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein Eigenleben entwickeln und als wenig effektiv und extrem zeitaufwendig erlebt werden. Banken und Chemieunternehmen gehören zum Beispiel zu den am stärksten regulierten Branchen. Neue Vorgaben für das Risikomanagement in Krankenhäusern lassen vermuten, dass diese Systemlogik nun auch auf das Gesundheitswesen übertragen wird. Kontrollorientierte Strategien im Umgang mit Komplexität, Risiko und Unsicherheit führen dazu, dass Mitarbeiter nur noch Systembefriedigung betreiben. Damit wird ihre Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problemen und Risiken abgelenkt. Die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen sinkt. Mitarbeiter sichern sich lieber in alle Richtungen ab, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Entwicklung einer Sicherheits- bzw. Risikokultur als Lösung?

Weil die Erfolge etablierter Managementsysteme für den Arbeits- und Umweltschutz, das Risikomanagement oder die Qualitätssicherung ausbleiben, sehen viele Entscheider die Lösung in einer neuen Kultur. Hinter der Forderung steckt häufig der Wunsch nach einem „ganzheitlichen Ansatz“. Dieser soll sich zum Beispiel in den Unternehmenswerten, im Verhalten und den Einstellungen der Führungskräfte und Mitarbeiter sowie der Zusammenarbeit in der Organisation niederschlagen. So definiert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht in ihren Mindestanforderungen an das Risikomanagement für Banken (MaRisk) einen unternehmensweiten Ansatz zum Risikomanagement (ERM) sowie die Entwicklung der Risikokultur. In einem Rundschreiben fordert der Exekutivdirektor der Bankenaufsicht Röseler die Unternehmensführung aller Banken auf, die Entwicklung dieser Risikokultur aktiv voranzutreiben (vgl. Rundschreiben der Bafin vom 18.02.2016). Auch Krankenhäuser, Chemie- und Industrieunternehmen suchen verstärkt nach Wegen, ihre Sicherheits- bzw. Risikokultur weiterzuentwickeln. Ebenso hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallversicherung (DGUV) jüngst eine zehnjährige Kampagne zur Entwicklung der Präventionskultur für Sicherheit und Gesundheit ins Leben gerufen, die nun von den Berufsgenossenschaften umgesetzt werden soll (DGUV, 2016).

Organisieren kollektiver Achtsamkeit

Wenn man Führungskräfte oder Experten fragt, wie die geforderte neue Sicherheits- oder Risikokultur aussehen soll, gehen die Meinungen schnell auseinander. Ein erster wichtiger Schritt in der Kulturentwicklung ist deshalb, mit der Unternehmensführung ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln und die damit verbundenen, meist impliziten Steuerungs- und Interventionsvorstellungen zu reflektieren: Wie stellen wir uns zuverlässiges Organisieren vor? Wie entsteht „Sicherheit“ bzw. wie sieht aus unserer Sicht eine angemessene Bearbeitung von Risiken und Unsicherheit aus? Was sind aus unserer Sicht erfolgsversprechende Hebel, um Zuverlässigkeit gezielt zu beeinflussen?

Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Bearbeitung dieser Frage liefern die Forschungsergebnisse über sogenannte high reliability organizations, also Organisationen wie Feuerwehren oder Flugzeugträgermannschaften der US Navy, die durch eine überraschend hohe Zuverlässigkeit aufgefallen sind – trotz der hohen Risiken und Unberechenbarkeiten, mit denen sie es zu tun haben.

Bereits 2003 veröffentlichten Weick und Sutcliffe das Buch Managing the Unexpected, das bei Führungskräften und Beratern in den USA und Europa auf große Aufmerksamkeit stieß – vor allem nach aktuellen Krisen (vgl. Weick u. Sutcliffe, 2003). Eine grundlegende Erkenntnis dieses Buches und der vorausgegangenen Forschung ist, dass Zuverlässigkeit, Sicherheit und hohe Leistungsfähigkeit unter Bedingungen von Unsicherheit, Komplexität und hohem Risiko weder allein durch ein wohlgestaltetes System aus Regeln und Prozessen noch durch das Kontrollieren und Beseitigen von Störfaktoren und Fehlern erreicht werden kann. Zuverlässigkeit entsteht den Forschungserkenntnissen zufolge...

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