Für Michael Röhm ist sein »Heidkrug« an Sonntagen normalerweise Sperrgebiet. Fünf Tage in der Woche steht der Koch am Herd des eigenen Restaurants. Die Schichten beginnen morgens um neun und enden nachts noch lange nicht, wenn der letzte Dessertteller abgeräumt ist. Der Sonntag ist der Tag der Woche, den er mit seinen Kindern verbringen kann. Der Tag, an dem er ein Leben führen kann. Der Tag, der nicht nach Gar- und Bratzeiten getaktet ist. Es muss also einen wichtigen Grund geben, wenn er an einem Sonntagmorgen um neun mit einem fröhlichen »Moin« die Tür des Backsteinbaus in der ansonsten menschenleeren Altstadt von Lüneburg aufsperrt.
Es ist vor allem die Neugier, der er seinen freien Tag opfert. Röhm will herausfinden, ob Gerichte, mit denen Schiffsköche ihre Mannschaften glücklich machen, auch an Land funktionieren. Dabei liegen nicht nur Tausende von Kilometern zwischen dem »Heidkrug« und den Containerschiffen, auf denen Röhms Brüder im Geiste arbeiten. Es sind auch Welten.
Sie sind so unterschiedlich wie Hand- und Faustball. Das Spielfeld hat ähnliche Ausmaße, das Spielgerät dieselbe Form. Doch das Spiel läuft nach komplett unterschiedlichen Regeln.
Röhm betritt den Raum mit der niedrigen Decke, dem dunklen Holzboden, den nackten Ziegelwänden und den dreizehn Tischen, an deren Korbstühlen noch acht Stunden vorher die letzten Gäste saßen. Sie aßen »Jakobsmuscheln mit vier Aromen«, »Wachtelkotelett mit Pfifferlingen und Sellerieschnitzel« oder »Schokoladenfondant mit süßer Erde und Yuzueis«. Mit solchen Gerichten hält Röhm seit 1994 einen Michelin-Stern. Doch der ist Auszeichnung und Verpflichtung zugleich. Seine Gäste wollen nicht nur das Essen des Chefs genießen. Sie wollen ihn auch sehen.
Deshalb hat er noch keine einzige Schicht verpasst, seit er den »Heidkrug« im Jahr 2000 eröffnete. Als seine drei Kinder zur Welt kamen, begrüßte er abends die Gäste. Auf den Hochzeiten seiner besten Freunde konnte er erst mitfeiern, nachdem er nachts den Laden zugesperrt hatte. Selbst als er sich bei einem Treppensturz zwei Rippen gebrochen hatte, stand er am Herd. »Kranksein gibt’s nicht«, sagt er. »Niemand kann hier meinen Job übernehmen. Die Leute wollen, dass der Chef persönlich an ihren Tisch kommt. Der Koch stirbt am Herd.« Röhm teilt damit das Schicksal der Männer, die an Bord von Containerschiffen fürs Essen verantwortlich sind: Auch von ihnen wird verlangt, dass sie Tag für Tag in der Kombüse stehen. Ganz egal, wie es ihnen gerade geht. Es ist nicht die einzige Parallele.
Der Siebenundvierzigjährige betritt die Küche und schlüpft in die Kochjacke mit dem Totenkopf und dem St.-Pauli-Schriftzug auf dem rechten Ärmel. Er ist in der Welt der Edelgastronomie angekommen. Doch ein Rest der Rauheit, wie sie auch vielen Seemännern zu eigen ist, steckt immer noch in dem Mann, in dessen Stimme so viel Kraft liegt, dass er damit auch als Frontmann einer Punk-Band durchgehen würde. Selbst seine Haare müsste er kaum mehr wachsen lassen. Die schwarzen Locken trägt er so, dass er sie sich bequem hinter die Ohren stecken kann.
Mit einigen Handgriffen versetzt er die Küche in den Arbeitsmodus. Reiht akkurat wie ein Chirurg vor der Operation die Messer auf. Heizt die Öfen vor. Doch der wichtigste Schritt: Er schaltet den Fernseher auf dem Kühlschrank ein und zappt zum Bezahlsender Sky. Dort läuft die Wiederholung der Bundesligaspiele vom Vortag. Dabei kennt er alle Ergebnisse. Er hat die Partien ja schon am Samstag gesehen. Doch in seiner Küche läuft grundsätzlich alles an Fußball, was es im Fernsehen zu sehen gibt. 1. Bundesliga, 2. Bundesliga, Champions League. Sein einziges Hobby, sagt er. Ein anderes könnte er bei seinem Job nicht pflegen. Es ist deshalb kein Zufall, dass auch sein Motto an den Fußball angelehnt ist: »Die Wahrheit liegt auf dem Teller.« Diesen Satz hat er ganz oben auf die Website des »Heidkrug« geschrieben.
Ein Schweinekotelett kann ihm genauso viel Freude bereiten wie ein Wachtelkotelett – solange es gut gemacht ist. »Es gibt nur zwei Küchen«, sagt er, als er die »Kombüsengold«-Rezepte an die Wand klebt. »Eine gute und eine schlechte.« In welche der beiden Kategorien die 32 Rezepte der Schiffsköche gehören, das will er in den folgenden Stunden erkochen und erkosten. Und das nicht allein. Für die Mittagszeit hat er Freunde eingeladen, die er an den Streifzügen durch die Welt der Schiffsküchen teilhaben lassen möchte.
Michael, wie sahen die Vorbereitungen auf diesen Tag aus?
Wir haben im Vorfeld unglaublich viel geschnitten und gehobelt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Knoblauch und so viele Zwiebeln auf einmal verarbeitet. Gerichte, bei denen Fleisch geschmort werden muss, haben wir mit den entsprechenden Zutaten vorgeschmort, weil das keinen Qualitätsunterschied bedeutet. Pastagerichte wie Spaghetti vongole haben wir nur vorbereitet, indem wir die Muscheln vom Sand befreit haben.
Was ist dir beim Studium der Rezepte aufgefallen?
Viele Gerichte sind nach demselben Muster aufgebaut: viel Fleisch, viele Zwiebeln und Knoblauch, viele Tomaten. Alles Zutaten, die lange haltbar sind. Das geht auf einem Schiff auch nicht anders. Man kann ja nicht mal eben in den Supermarkt gehen, um frische Lebensmittel einzukaufen. Ein paar Gerichte sind dabei, bei denen ich sage: Alle Achtung, die muss man aushalten können. Bei Lamm Biryani, Rezept 15, steht zum Beispiel: 20 Gramm Chili-Pulver. Dazu fünf Chilis. Ich esse selbst gern scharf, doch das ist für uns eindeutig zu hart. Aber wir reden hier auch über andere Kulturen. Leute, die das zu sich nehmen, sind das so gewohnt. Ein paar witzige Rezepte sind auch dabei.
Zum Beispiel?
Etwa die Shrimps in süßsaurer Sauce. Da heißt es: Die Shrimps rösten, eine Flasche Ketchup drauf und dann anbraten lassen, bis der karamellisiert. Da würde ich den Koch gern fragen, wie dieses Rezept entstanden ist.
Welches sind die exotischsten Zutaten?
Das sind die Blüten der Bananenknospen im Kare-kare, einer Art philippinischem Eintopf. Hatte ich vorher noch nicht in der Hand. Wenn man die probiert, wird der Mundinnenraum taub. Für dieses Gericht mussten wir auch einen Pansen verarbeiten, also Kuhmagen. Als wir den hier vorgekocht haben, roch es vier Stunden wie im Kuhstall. Für die Filipinos ist Kare Kare ein Alltagsgericht. Für europäische Geschmacksnerven ist es, sagen wir, eher gewöhnungsbedürftig.
Welche Gerüche waren während der Vorbereitungen die angenehmeren?
Gern hatte ich die in der Nase, die mich an meine Urlaube in Thailand erinnert haben. Mit den Fisch- und Oystersaucen roch es hier gelegentlich wie in den Straßenküchen in Asien. Aber selbst diese Wokgerichte haben einen für Asien untypisch hohen Fettanteil. Schon beim Durchlesen konnte man insgesamt sehen: An Bord solcher Schiffe wird sehr gehaltvoll gekocht. Das ist keine Überraschung. Die Männer arbeiten hart und brauchen Kraft.
Der Raum, in den Röhm eintauchen wird, in diesen Kosmos der Kombüsenmeister, ist wahrscheinlich kleiner als der Arbeitsplatz vieler Schiffsköche. In den vierzehn Jahren, die es den »Heidkrug« schon gibt, hat sich Röhm darin immer weiter ausgedehnt und ihn an seine Bedürfnisse angepasst. Nur der Raum selbst ist nicht mitgewachsen.
Auf einer Seite der Herd mit den acht Gasflammen, darüber ein Regal mit unzähligen verrußten Pfannen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kühlschrank mit dem Fernseher. Es läuft gerade Schalke 04 gegen Bayer Leverkusen. »Ging 2:2 aus«, sagt Röhm. »Ausgleich kurz vor Schluss.« In der Mitte des Raumes die Zeile mit dem Konvektomat, einem professionellen Heißluftofen, und dem Holdomat, dem Warmhaltegerät. Im hinteren Teil die Theke für die Patisserie und die kalte Küche sowie der Spülbereich.
Gern würde Röhm die Geometrie der Küche verändern, um die Laufwege zu optimieren, wie man es in der Fußballersprache ausdrücken würde. Doch Umbauten sind verboten. Wegen des Denkmalschutzes. Das Gebäude, in dem einst ein Brauer die Lüneburger bekocht und mit Bier versorgt hat, wurde zum ersten Mal 1450 urkundlich erwähnt.
Wenn die fünfköpfige Mannschaft vollständig anwesend ist, die an einem normalen Abend dreihundert Kreationen nach draußen schickt, muss deshalb jeder genau wissen, was der andere tut. Andernfalls würden ständig Teller, Töpfe und Pfannen auf den Boden krachen. Aber wenn das Team funktioniert, kommt es auch auf so engem Raum zurecht. Im »Heidkrug« ist das offensichtlich der Fall. »Ich habe schon in mehreren Restaurants gearbeitet«, erzählt Davina Dähn, die für die Patisserie zuständig ist und ihrem Chef an diesem Tag assistiert. »Ich kenne keine Küche, in der ein so gutes Klima herrscht wie in dieser.«
Man merkt das auch an diesem Tag. Jeder zweite von Röhms Sätzen endet mit einem lauten Lachen. Er erteilt keine Befehle, sondern formuliert Bitten. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran, dass er von anderen dieselbe Leidenschaft und Professionalität erwartet, die er selbst vorlebt. Röhm legt Wert auf einen freundlichen Ton. Doch am Herd hört die Freundschaft schon mal auf.
Er reißt den ersten Zettel von der Wand, Rezept Nummer 20, Spinatcremesuppe, und trägt die Zutaten vor: gehackter Spinat, Hühnerbrühe, Milch, Sahne, Gewürze. Er kocht den frischen...