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Zechenkinder

25 Geschichten über das schwarze Herz des Ruhrgebiets

AutorDavid Schraven
VerlagAnkerherz Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783940138552
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Nicht mehr lange, dann wird der Bergbau im Ruhrgebiet Geschichte sein. In ZECHENKINDER erzählen 25 Kumpel von der schwarzen Seele des 'Potts'. Über Kameradschaft, von Maloche unter Tage, über den Willen zu überleben und den Fluch der Staublunge. Über eine Arbeiterwelt, in der das Wort 'Arschloch' keine Beleidigung sein muss und ein gemeinsames Bier verdient sein will. Ungeschliffen, kraftvoll, ungekünstelt - eben Menschen aus dem Ruhrgebiet. Die Aufrichtigkeit der Kumpel bleibt Inspiration für Generationen, die den Bergbau nicht mehr erleben werden. David Schraven, Leiter des Ressorts Recherche der WAZ-Mediengruppe, der den Bergleuten seine Stimme lieh, weiß, wovon er spricht: Er wohnt im Schatten der Zeche Prosper Haniel in Bottrop. Fotograf Uwe Weber aus Duisburg ist Gewinner des renommierten World Press Photo Awards.

David Schraven, geboren 1970, gründete 1987 seinen ersten Verlag und arbeitete als Journalist für die Welt, die taz und die Süddeutsche Zeitung. Er leitet das Ressort Recherche der WAZ-Mediengruppe in Essen. Schraven lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Sichtweite der Zeche Prosper Daniel in Bottrop, seiner Geburtsstadt. Uwe Weber, geboren 1960, begann seine Laufbahn als Freelancer für Musikmagazine. Er porträtierte viele bekannte Musiker, darunter auch Courtney Love. Seit 2001 arbeitet er als freier Fotograf in Düsseldorf. Seine Fotos erscheinen in internationalen Zeitungen und Magazinen wie Spiegel, Stern, Max, The Sunday Times und Merian.

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Leseprobe

11 WORKUTA BLUES

Im hohen Norden von Russland gibt es nicht viel. Aber ein großes Bergwerk, auf dem Klaudius Kollassa seinen russischen Kollegen zeigte, wie ein Hobel funktioniert. Ein Abenteuer mit Kälte, einsamen Weiten und der Herzlichkeit russischer Kumpel.

In Workuta am Eismeer, tief in Sibirien, wird es kalt. Sehr kalt. Wir haben schon Temperaturen von minus vierzig Grad und weniger gemessen. Selbst unter Tage, in achthundert Meter Tiefe, waren es nur sechzehn Grad. Die blasen warme Luft in die Schächte, sonst würde gar nichts gehen. Ich war vor Ort, um den Russen neue Technik zu bringen und zu zeigen, wie wir in Bottrop arbeiten.

Natürlich sind die Verhältnisse in Workuta ganz andere als im Ruhrgebiet. Die Stadt und die Pütts liegen am Polarkreis. Im Winter kalt wie in der Tiefkühltruhe, im Sommer Mücken und Schlamm. Immer schlecht. Workuta war früher ein Lager des Gulag-Systems: Deutsche Kriegsgefangene und Menschen, die aus verschiedenen Gründen von den Kommunisten verschleppt worden waren, mussten Tag und Nacht die Schachtanlage bauen und Kohle scheppen, bis sie verreckten. Heute arbeiten die Leute dort freiwillig. In der großen Schachtanlage sind über zweitausend Mann beschäftigt.

Ich war als Bottroper Bergmann dort, um die Kumpel vor Ort auf einer Hobelmaschine zu schulen. Das ist eine große Anlage unter Tage, die schnell viel Kohle machen kann. Die Russen hatten den Hobel in Deutschland gekauft, doch deren Bergmänner hatten noch nie in ihrem Leben gehobelt. Das sollte ich denen beibringen. Ich selbst bin in Polen geboren und erst spät mit meinen Eltern nach Deutschland ausgewandert. Ich kann Russisch recht gut verstehen. Das Sprechen fällt mir allerdings schwer. Aber in der Regel komme ich mit ein paar Brocken klar.

Wir sind von Deutschland nach Moskau geflogen und von da aus mit dem Zug weiter nach Workuta gefahren. Die Fahrt dauerte 46 Stunden. Wir hätten auch fliegen können. Aber die russischen Kumpel hatten gesagt: „Wenn du lange leben willst, dann fahr lieber mit dem Zug.“ Ich hab den Kumpeln vertraut. Wenn die das sagen, wird es schon stimmen. Der Zug war nicht gerade ein Intercity-Express. Der bummelte, mit Kohle beheizt, gemütlich nach Norden. Wir hatten ein eigenes Abteil, Fenster aufmachen ging nicht. Es war so heiß, dass wir nicht schlafen konnten. Wie in einer Sauna. Ich bin zur Zugbegleiterin gegangen und habe gesagt: „Hören Sie mal, was ist denn das, das kann man ja gar nicht aushalten!“ Kälter wurde es trotzdem nicht.

Die Gegend, durch die man fährt, ist beeindruckend. Zuerst kleine Städtchen, dann schöne kleine Dörfchen, die aussehen wie Kulissen aus dem 18. Jahrhundert. Dann kommen Wälder: jede Menge große Bäume, dicke Bäume, dann dünne Bäume, runde Bäume, viele Bäume. Dann werden die Bäume klein, dann lichter, dann sind sie weg. Dann liegt nur noch Schnee. Schnee.

Im Abteil ist Rauchen verboten, aber auf den Plattformen, wo die Waggons zusammengekuppelt sind, kann man sich hinstellen. Da stand ich hin und wieder auf einer Stahlplatte über den Kupplungen und habe eine geraucht. Rechts und links nichts als Schnee. So weit das Auge reicht: Schnee. Kein Baum, kein Strauch, nur Schnee. Dann läuft plötzlich ein Mann mit einem Jagdgewehr durch das Nichts. Der Zug fährt vorbei, ich rauche, und hinter dem Mann mit dem Jagdgewehr wieder nichts: nur Schnee. Ich weiß nicht woher der gekommen ist, wohin der gegangen ist.

Die haben damals die Gulag-Lager nicht mal bewacht, weil die Russen wussten, dass niemand abhauen kann. Im Winter sowieso nicht. Und im Sommer sind da nur Sümpfe. Auf eigene Faust von Workuta wegzukommen, ist schon mit dem Zug ein Abenteuer. Als wir ankamen, habe ich mich gewundert. Das Stadtbild hat mich ein wenig an jenes Polen erinnert, das ich als Zehnjähriger verlassen konnte: die gleiche Armut, die gleiche Trostlosigkeit – im Winter zwar nicht ganz so kalt, aber genauso unerbittlich. In der Luft lag ein düsterer Schwefelgeruch, überall tauchten dichte, stinkende Wolken auf. Wie in einer Endzeit-Verfilmung. Die Straßen waren unglaublich. Ein Kollege sagte zu mir: „Sei froh, dass du nicht im Sommer hier bist.“ Überall Schlaglöcher, die man nur deshalb nicht sah, weil sie mit Eis vollgepackt waren, dazu hauen sie dicke Asche auf die Straßen. Die Russen sind mit ihren Autos drübergebrettert. Spikes haben sie in der Linie gehalten. Wenn du da in eine Kurve kommst, ruckelt das ordentlich. Aber egal, rechts lenken, links lenken, dann geht das schon irgendwie. Dafür ist jede Frontscheibe im Auto kaputt. Jede. Ursache sind nicht nur die fliegenden Steine, sondern vor allem die extremen Temperaturunterschiede am Polarkreis. Die Einwohner da kennen nur zwei Temperaturen: arschkalt oder sauheiß. Selbst die Autos haben eine Zusatzheizung, die voll aufgedreht wird. Egal, wo man einsteigt oder reingeht, schlägt einem Hitze wie eine Faust entgegen. Wie im Zug.

Wir sind dann zur Zeche gefahren. Überall auf dem Weg lagen dampfende Halden, aus denen Schwefelwolken aufstiegen. Eine stinkende Nebelwand.

Die Russen haben hoch im Norden eine veraltete Kohlewäsche. Die trennt die Kohle nicht richtig vom Gestein. Ich schätze, die Russen kippen mindestens vierzig Prozent Kohle zusammen mit dem tauben Gestein auf ihre Halden. Irgendwann entzündet sich die Kohle in den Halden. Und wenn so eine Halde einmal angefangen hat zu brennen, dann brennt sie. Rund um Workuta gibt es riesige Flächen mit brennenden Halden. Über den Zechen und über der Stadt liegt dichter Nebel und ein beißender Schwefelgeruch. Ich kann nicht sagen, wie groß das Gelände ist, das mehr oder weniger in Flammen steht. Wenn die Sonne für wenige Stunden am Tag aufgeht, hast du in Workuta kaum etwas davon. Du siehst die Sonne im Nebel sowieso nicht. Da muss man sich dran gewöhnen.

Nicht alle Kollegen, die auf solche Auslandseinsätze geschickt werden, halten das aus. Ich kenne Kumpel, die sind nach wenigen Tagen direkt wieder nach Hause gefahren. Denen war alles zu viel: Das war zu fern der Heimat, zu anders, zu fremd. Ich blieb vier Wochen in Warkuta, auf der Anlage Severnaja. Auf der Zeche stehen Sicherheitsleute direkt am Schacht. Die Wachmänner passen auf, dass dort niemand besoffen anfährt. Sie passen am Tor auf, damit niemand was klaut, sie passen überall auf.

Als wir einfuhren, bin ich in den ersten zwei Tagen angeschaut worden wie ein Außerirdischer. Da hat sich wenig Kontakt ergeben. Wenn man neu ist, ist das normal – und wer sich dann normal verhält, wird schnell akzeptiert. Mir macht die Fremde nichts aus. Ich habe direkt nach der Schule, mit zarten siebzehn Jahren, auf Prosper in Bottrop angefangen. Das war 1981, da war ich erst drei Jahre in Deutschland. Heute bin ich Strebmeister, also die rechte Hand vom Reviersteiger. Mein älterer Bruder war auch schon in Polen unter Tage, mein jüngerer Bruder ist nach Australien ausgewandert. Ich habe zwei Kinder und schon eine Enkelin. Normalerweise wäre ich bereits in Rente. Aber noch werde ich gebraucht. Später werde ich in Kurzarbeit gehen und mir dann was auf 400-Euro-Basis suchen. Zu Hause sitzen? Will ich nicht.

In Workuta hatte ich unter Tage eine Dolmetscherin dabei, aber was nutzt mir jemand, der sich zwar sehr viel Mühe gibt, aber die Fachbegriffe nicht kennt? Die Frau, eigentlich noch ein Mädchen, die sie aus einer Schule genommen hatten, konnte zum Beispiel „Bodenmeißel“ nicht übersetzen. Sie musste das umständlich umschreiben. Da haben die Kollegen natürlich was ganz anderes verstanden. Ich musste die ganze Zeit auf dieses Mädchen aufpassen. Die war zum ersten Mal unter Tage. Andauernd habe ich mich gefragt: Wo krabbelt die denn jetzt hin? Hoffentlich kommt die nicht unter die Kufen! Schließlich hatte ich die Nase voll. Ich habe zu ihr gesagt: „Mädchen, du bleibst oben beim Steuerstand. Wenn was Wichtiges ist, ruf ich dich über die Grubentelefone an.“

Ich bin dann mit meinen paar Brocken Russisch selbst zurechtgekommen. Drei Viertel verstehe ich, den Rest kann man mit Füßen und Händen erklären. Große Missverständnisse sind ausgeblieben. Immer noch besser, als auf ein Mädchen im Streb achtzugeben. Die Sicherheitsbedingungen in der russischen Zeche erinnern an unsere in den 1970er-Jahren. Die Flöze haben eine Mächtigkeit von vielleicht 90 Zentimetern. Abgebaut wurde mit veralteten Walzensystemen. Mit unserem Hobel lief das schon besser. Damit konnten die Kollegen schöne saubere Kohle abbauen – ohne diese Unmengen an Gestein, die draußen auf die Halden gekippt werden.

Aber die Hobel sind ja nicht alles. Um ehrlich zu sein, fehlt denen in Workuta die Infrastruktur für unsere hocheffizienten Maschinen. Ich will das mal so vergleichen: Die haben sich einen Porsche gekauft, aber nur einen Feldweg zum Ausfahren. Unsere Anlage passte gar nicht richtig in die Strecken. Allein die Motoren: viel zu groß. Ich habe mich echt gewundert: Wie haben die das in den Berg gekriegt? Einzige Erklärung ist, dass sie die schweren Klamotten in Einzelteilen reingefahren haben. Abenteuerlich. Ich vermute, die haben das mit alten Haspeln stückweise in den Berg geschleppt und dann vor Ort zusammengebastelt. Das kriegt auch nicht jeder hin. Hut ab.

Mit den Kollegen habe ich mich sehr gut verstanden. Als die mitgekriegt haben, dass ich ein bisschen Russisch spreche, fingen die gleich an zu quasseln. Das Essen war richtig was für mich. Kochen können die Kollegen. Zu-nächst kriegt jeder Bergmann in Workuta ein Schachtbrot. Also ein paar dicke Scheiben Brot und fettige Wurst, manchmal auch Kuchen. Deftig und gut. Kameradschaft...

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