1. Das Ende der Aufklärung: Der verwirrte Mensch
Reflektiert man die heutige Management- und Führungsliteratur6 bzw. Aufsätze, Publikationen und Vorträge zum Thema der Gestaltung von Organisationen, Betrieben und Strukturen in der modernen Welt, so fallen immer wieder Begriffe wie Globalisierung, Dynamisierung und steigende Komplexität. Es stellt sich die Frage, an welcher Stelle der philosophischen und perzeptorischen Entwicklung im Sinne der Wahrnehmung von Wirklichkeit sich derartige Diskussion derzeit befindet und welche Ableitungen daraus für die Handlungen von Institutionen, Unternehmen und Führungskräften, aber auch von Politikern und Verantwortungsträgern im öffentlichen Leben abgeleitet werden können.
Historische Rückgriffe auf die Ursprünge und Traditionen der immer noch vorrangig in vielen wissenschaftlichen und pragmatischen Modellen und Theorien abgebildeten Denk- und Handlungslogik der heutigen Diskussionen um den Fortschritt führen in der Regel in einer direkten Linie zu den Ansätzen und Vorstellungen der Aufklärung. Zentrales Momentum der Aufklärung und der sich daraus entspinnenden Entwicklung der modernen Welt – inklusive der Industrialisierung, der Technisierung und in Teilen auch der Globalisierung – ist die Vorstellung des Fortschrittgedankens auf Basis der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten sowohl in technologischer, aber auch in philosophisch-soziologischer Hinsicht. Aufklärung bedeutet zunächst und vor allem anderen die Vorstellung davon, dass es dem Menschen gelingen kann, durch eigene Erkenntnis Strukturen zu entwickeln, die das Leben in der grundsätzlichen Betrachtung „verbessern“ und damit in einen „höheren“ Entwicklungszustand bringen können. Begleitet beispielsweise durch die teleologischen Grundüberzeugungen der Evolutionstheorie7 und der vielfach vertretenen Logik der Geschichtsentwicklung im Sinne epochaler Veränderungen und Umbrüche, die immer wieder zu Verbesserungen oder zumindest einer Optimierung geführt haben8, ergibt sich hier eine Denktradition, die davon ausgeht, dass menschliches bewusstes Denken, Reflektieren und Handeln zu einem Wissensvorrat führt, der es ermöglicht, Lebensumstände wenn nicht zu erzeugen, so aber doch relevant zu beeinflussen, so dass sich hieraus ein sinnhaftes und besseres Lebensumfeld ergibt. Technik, Wissen und Philosophie sind Instrumente, die dazu beitragen können, die Welt in ihrer Gesamtausgestaltung durch den Verstehens- und Wissensprozess beherrschbar(er) zu machen und in eine abhängige Variable der menschlichen Kompetenz zu überführen.
Die Frage, an welchem Punkt eine solche Entwicklung ein potentielles Ende finden kann bzw. ob eine solche Entwicklung infinit in der Progression vorstellbar ist und wie eine solche Entwicklung aussehen kann, ist angesichts der sich in vergangenen Jahrzehnten abzeichnenden eruptiven Veränderungen der modernen bzw. eher postmodernen Welt als kritisch zu sehen und ist auch in der Diskussion so gewürdigt worden.9 Die Aufklärung, wenngleich sie auch keine wirklich philosophische Grundrichtung repräsentiert, ist in ihrer Begrifflichkeit und Denkbewegung aber immer auch verhaftet geblieben in der klassischen griechischabendländischen Philosophie10 und den mit ihr verbundenen Modellen und Figuren. Dies impliziert auch, dass in der Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit transiente Strukturen möglicherweise vordiskursiv als gesetzt angenommen wurden und werden und sich damit die aus der griechischen Philosophie bekannten Ideen der Metaphysik und des Sichentwickelns bzw. Sichabarbeitens der Welt an vorhandenen Ideal- und Zielzuständen ableiten. Dies erklärt den pädagogischen Grundgedanken der Aufklärung im Sinne einer permanenten Verbesserung hin auf ein ideell vorgestelltes bestes Bild der möglichen Welt. Dem liegt zumindest implizit immer auch die Vorstellung zu Grunde, dass es diese beste Welt und für Einzelprobleme dementsprechend abgeleitet auch die einzelne beste Lösung gibt, für die es sich lohnt, einen hohen Einsatz zu erbringen, um eine möglicherweise auch nur marginale Verbesserung in Richtung eines Optimums zu erreichen. Letztlich entspricht dies der Monadenlehre von Leibniz, der davon ausgeht, dass der Einzelne als Monade („Einheit“) sich seiner eigenen teleologischen Bestimmung gemäß auf sein Wesen hin zu entwickeln hat.11
Es ergibt sich somit notwendigerweise eine Perspektive für das Verständnis von Geschichte und Entwicklung, die eine kausalstrukturierte und in sich stimmige Entwicklung über verschiedene Epochen hinterlegt und ausgehend von den Möglichkeiten des Menschen das Potential sieht, die Welt zu einem Besseren und zu einer zumindest asymptotisch voranschreitenden Näherung zum angenommenen Optimum zu bringen. Wird ein Optimum als vorhanden angenommen und anerkannt, bedeutet dies immer auch, dass es Ideen, Vorschläge und Wege in der Entwicklung gibt, die von diesem Optimum abweichen und damit als nicht so wertvoll zu betrachten sind wie die, die auf das Optimum hinweisen. Dies führt zu einer Logik von „richtigen“ oder „falschen“ Entwicklungen. Der aufklärerischen Gesamtsicht auf die Dinge ist mithin auch immer eine Wertung im Sinne des Abgleichens und des Abweichens vom gedachten Optimum inhärent. Aus einer solchen Wertung heraus resultiert dann in Verbindung mit der angenommenen Kausalität der Entwicklung und Verbesserung ein strukturell sehr stringentes Ursache-Wirkungs-Verständnis, das sich einerseits in dem ingenieurmäßigen Denken des Ursache-Wirkungs-Prinzips auf monokausale Weise und andererseits auch in den moralisch-philosophischen Diskussionen nach dem richtigen Leben wiederfindet.
Ein Gutteil der aktuellen Verunsicherung und Irritation in der Debatte um die Frage des Fortschritts in der Welt kommt zu ganz wesentlichen Teilen daher, dass die oben beschriebenen metaphysischen Grundfesten der hier kurz skizzierten abendländischen Denktradition auf Grund der Lebenserfahrungen in einer modernen/postmodernen Lebenswirklichkeit deutlich in Frage gestellt werden. Das klassisch-metaphysische Verständnis des Lebens als fortschreitender Prozess der Erkenntnis idealtypisch gesetzter Zusammenhänge und als eine in sich auch auf der idealbiographischen Ebene zu sehende teleologische Idee, die auf Erkenntnisfortschritt im Sinne von Annäherung an ein Gesamtverständnis der Welt zielt – wird durch die aktuellen Lebens- und Wirklichkeitserfahrungen der steigenden Dynamisierung und Komplexität in einem erheblichen Maße gestört12.
Die unstrittigen Vorteile eines metaphysisch orientierten Denkansatzes sind in der Orientierungsfunktionalität von moralischen Werten und der damit einhergehenden Sinnhaftigkeit von Leben und Existenz zu sehen. Der dieser Denkbewegung innewohnende ethische Aufforderungscharakter des „man sollte“13 ist immer noch zentraler Bestandteil der meisten aktuellen Diskussionen mit ethischen bzw. moralischen Implikationen. Die Annahme von sozusagen „richtigen“ und die Abbildung von entsprechend „falschen“ Ansätzen führen nach wie vor zu strukturellen, ideologisch motivierten Diskussionen und findet in nahezu allen Lebensbereichen Widerhall. Durch die normative Kraft der tatsächlichen Lebenswirklichkeiten wird diese Struktur allerdings zunehmend in Frage gestellt. Hier mag die aktuelle Diskussion der Kirchen zum Thema der Homosexualität14 als Beispiel dienen, aber auch die Diskussionen über die Frage der Sinnhaftigkeit und der Richtigkeit des Verständnisses davon, dass Wachstum einerseits eine notwendige Voraussetzung für ökonomischen Erfolg eines Makrosystems15, aber auch der darin agierenden Mikrosysteme darstellt und gleichzeitig als Grundlage für ein überhaupt lebenswertes Leben in einem modernen ökologischen und ökonomischen Gesamtsystem gilt.
Exkurs: „Overshoot and kill“ aus der Systembiologie
Das Phänomen des selbstbegrenzenden Wachstums innerhalb der Natur ist aus der Systembiologie bekannt. Unter dem Phänomen „overshoot and kill“ kann man den regelmäßig wiederkehrend zu beobachtenden Verlauf von übermäßigen Wachstum und sich anschließender schubartiger Verkleinerung bzw. Verringerung von Populationen zusammenfassen. Das unbegrenzte Wachstum geht zu Lasten des Gesamtökosystems, innerhalb dessen es stattfindet, und wirkt deshalb in der Folge kontraproduktiv. Dies trifft auch dann zu, wenn das wachsende Phänomen (siehe untenstehendes Beispiel) an sich für das Gesamtsystem als vorteilhaft anzusehen ist. Grundsätzlich kann hieraus abgeleitet werden, dass unbegrenztes Wachstum in komplexen Systemen zwar nicht notwendigerweise linear zu schweren Systemstörungen im Sinne eines „overshoot and kill“ führen muss, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit aber eine Dysbalance des Gesamtsystems bzw. eine Störung des Kontextsystems zu erwarten ist.
Die „Fish and Wildlife Administration“ der Vereinigten Staaten setzte Anfang des 20. Jahrhunderts Rentiere auf den Aleuten aus, die dabei helfen sollten, die Proteinversorgung der Bevölkerung auf den Inseln...