Eine zentrale Frage, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden soll, ist, unter welchen Gesichtspunkten Buñuels Werk am Geeignetsten zu betrachten ist und welche Aspekte seine Arbeit entscheidend beeinflusst haben.
Es ist die These der Autorin, dass nach Beschäftigung mit Buñuels Filmsprache schnell deutlich wird, dass der Surrealismus die Hauptkonstante in seinem Werk ist, aus der seine Filmsprache und seine Themenwahl entsteht.
Es mag aus heutiger Sicht durchaus diffizil sein, die Gesamtheit der Ideen des Surrealismus in ihrer Komplexität und Ambivalenz zu verstehen. Es ist jedoch sinnvoll, die Bewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu betrachten, an dem viele Spanier trotz erklärter Neutralität teilnehmen[4] und in der sich ein mentaler und intellektueller Umsturz, nicht nur innerhalb der desillusionierten Intellektuellenkreise, vollzieht. Ein Auflehnen gegen die Gesellschaft und die Kirche stellt einen Weg dar, die posttraumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Da der Surrealismus prinzipiell auf den Erkenntnissen von Traumbildern beruht, gibt er letztendlich jedem die Möglichkeit, sich damit zu identifizieren.
Die Bewegung hat sich zu Beginn der Zwanziger Jahre aus dem Dadaismus heraus entwickelt, doch erst André Breton prägt den Terminus mit seiner Definition aus dem Jahre 1924:
Surrealismus ist die reine psychische Selbstbewegung, durch welche man es unternimmt, mündlich, schriftlich oder auf irgendeine andere Weise das wirkliche Funktionieren der Vorstellung auszudrücken. Ein Diktat des Denkens unter Ausschaltung jeglicher von der Vernunft ausgearbeiteter Kontrolle, außerhalb jeglicher ästhetischer oder moralischer Bedenken.
Enzykl. Philos. : Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Realität gewisser bisher vernachlässigter Formen der Assoziation, an die Allmacht des Traumes, an das uninteressierte Spiel der Vorstellungen. Er sucht endgültig alle anderen Mechanismen aufzuheben und sich an ihre Stelle zu setzen in der Lösung der Grundprobleme des Lebens.[5]
Das Prinzip des Unlogischen, des Irrationalen und Zufälligen wird besonders von der französischen Avantgarde genutzt, um tief in den Bereich des Unterbewussten vorzudringen. Sie glauben nicht mehr an die sichtbare Wirklichkeit und suchen eine allumfassenden Realität, eine „Überwirklichkeit“, aus der sich auch der spätere Name Surrealismus, von französisch „sur“, dt. „über“ ableiten lässt.
Ähnlich dem Expressionismus bleibt nun auch der Surrealismus nicht ausschließlich auf die Bildende Kunst beschränkt, sondern ist eine kulturübergreifende Bewegung, die sich von der Literatur, über die Fotografie und schließlich auch auf den Film ausbreitet. Er verbindet eine internationale Gruppe von Künstlern und Intellektuellen in Paris, zu der schließlich auch Buñuel stößt.[6]
Wichtige Impulse liefern den Surrealisten die von Sigmund Freud entwickelten Theorien der Psychoanalyse. Freuds Untersuchungen zur Traumdeutung bezeugen, dass der größte Teil unserer geistigen Identität im Unterbewussten zu finden ist, und dass das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen nicht unbedingt von bewussten Kräften geprägt ist.
Dieses anfangs noch weitgehend unerforschte Gebiet der Wissenschaft versuchen nun auch diverse Künstler zu ergründen. Die Vorstellung, dass es neben der sichtbaren Welt auch noch eine andere, unterbewusste Welt der verdrängten Erfahrungen und Erlebnissen gab, fasziniert die Künstlergruppe.
Resultierend daraus, wollten sie nun der Surrealität auf unterschiedliche Weise Ausdruck verleihen. Das Ziel ist es immer, die Außenwelt mit der Innenwelt zu vergleichen, beziehungsweise die erste mit der zweiten zu ersetzen. Sie machen sich die Erkenntnis zueigen, dass vor allem in der Welt der Träume das Unterbewusste des Menschen zutage tritt. Dazu die Zentralfigur André Breton in seinem „Ersten Manifest des Surrealismus“ (1924): „Ich glaube an die zukünftige Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Wirklichkeit, der Surrealität.“[7] So gibt der Hauptdenker der Bewegung den Rahmen für eine weitere Entwicklung des Surrealismus vor. Ausgangsebene für die allgemeine künstlerische Produktion wurden somit Träume, Visionen, Wahnvorstellungen, spontane Assoziationen und Halluzinationen, prinzipiell alles, was das Unterbewusstsein eines Menschen definiert.[8]
Im intellektuellen Umfeld der Studentenresidenz in Madrid kommt nun auch Buñuel mit den führenden Surrealisten der Zeit in Kontakt, die sein Denken entscheidend beeinflussen. Die Söhne aus meist gutbürgerlichen Verhältnissen verbindet besonders ein Schlagwort des Surrealismus, die Devise „épater le bourgeois“ (épater, frz.: imponieren, verblüffen), der auch Buñuel bis in sein Spätwerk treu blieb. Die Aufdeckung der Unmoral der Gesellschaft stand innerhalb der Gruppe thematisch im Vordergrund.
Die Bewegung stützt sich hinsichtlich dessen auf die Wirkung des Skandals. Laut Buñuel war es die Hauptwaffe im Kampf gegen die ihnen verhasste Gesellschaft:
Er (der Skandal, Anmerkung der Autorin) erschien ihnen lange Zeit als das wirksamste Mittel, um die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den verdummenden Zugriff der Religion, den plumpen kolonialistischen Militarismus zu entlarven und die geheimen, widerwärtigen Triebfedern des zu stürzenden Systems aufzudecken […]. Das eigentliche Ziel des Surrealismus war nicht, eine literarische Bewegung ins Leben zu rufen, auch keine neue Malerei, nicht einmal eine neue Philosophie, sondern die Gesellschaft hochgehen zu lassen, das Leben zu ändern.[9]
In engem Zusammenhang mit den triebunterdrückenden Mechanismen der Gesellschaft ist der Aspekt der amour fou zu betrachten, welcher die Surrealisten tiefgründig beeinflusst hat und mit diesem Titel André Breton selbst ein Buch herausgegeben hat.[10] Auch Buñuel zeigt sich fasziniert von dieser laut ihrer eigenen Definition absoluten Liebe, die außerhalb der Regeln der Vernunft existiert und den gesellschaftlichen Normen widerspricht und damit im Gegensatz zu einer „vernünftigen“ Liebe steht.[11] Schon in seinem ersten Film Ein andalusischer Hund bedient er sich diesem Prinzip und es folgen weitere, in denen dieses Muster im Vordergrund steht, wie zum Beispiel L´age d´or. Es sollen im Verlauf seiner Karriere weitere Filme mit diesem Sujet verwirklicht werden. Er und besonders sein letztes Werk Dieses obskure Objekt der Begierde seien an dieser Stelle zu nennen.
Ähnlich diesem Konzept der amour fou ist die Vorgehensweise der Überraschung und somit der gesamte surrealistische Grundsatz der juxtaposition, der Gegenüberstellung unvereinbarer Dinge, sowie der „image-choc“, der unvorhersehbare bildliche Schock für das Auge zu sehen: „Chance must work for a surprise solution. This is a key principle for the Surrealists, and the surprise finding might be of a person or an object […]”.[12] Das Prinzip des Zufalls ist bedeutend für das surrealistische Weltverständis und besonders Buñuels spätere Filme weisen einige durch Zufall geprägte „Überraschungseffekte” auf. Der Gegensatz von Zufall und Voherbestimmung und das Zusammenfügen dieser Gegensätze bietet den Surrealisten eine Vielzahl an artistischen Möglichkeiten und erweist sich zudem als wichtiges Mittel zur Befreiung von religiösen Unterdrückungsmechanismen. Denn wer die Existenz Gottes negiert, unterwirft sein eigenes Dasein zwangsläufig dem Zufallsprinzip. „Der Zufall ist der große Meister aller Dinge, so Buñuel“[13] Die Surrealisten glauben an nichts außer an die Macht des Zufalls und die des Unterbewusstseins.
Dieser Nihilismus hängt demnach mit dem Religions- und Glaubensverständnis der Mitglieder der Bewegung zusammen. Die Gruppe ist entschieden anti-klerikal eingestellt, die Zeitschrift „La Révolution surrealiste“ gibt sich zumindest bewusst anti-religiös.[14] Dieser Aspekt scheint Buñuel in besonderem Maße anzusprechen, dessen Atheismus paradoxerweise auf seiner Erziehung bei den Jesuiten beruht.[15] Im Interview mit Max Aub sagt er zum Thema Glauben (und bezieht sich hier auf eine später filmisch verwirklichte Vision):
Da ist ein Mann, der in einer Zeitung liest und auf dem Bett sitzt. Er senkt die Zeitung, blickt in die Kamera und sagt: Mein Hass gegenüber der Wissenschaft und mein Horror vor der Technologie bringen mich vielleicht noch zu jenem absurden Glauben an Gott (aus: Das Gespenst der Freiheit) Dann geht der Film weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und genau das ist meine Meinung. Das ist auch noch heute eine vollkommen surrealistische Haltung. An Gott zu glauben ist absurd […].[16]
Es findet sich gleichsam in vielen Filmen Buñuels das Thema Religion in kritischer Weise behandelt und es soll im Laufe seines filmischen Schaffens zu einer seiner...