II. Konstantinopel als Reichszentrum – die räumliche Entwicklung im politischen Kontext
1. Der lange Weg zur mittelalterlichen Stadt: Byzantion
«Das Meer formt eine Girlande um die Stadt». Mit diesen Worten charakterisierte der Historiker Prokop im 6. Jahrhundert n. Chr. treffend die Lage der Stadt, die zwischen dem Marmarameer und dem elf Kilometer langen Goldenen Horn, das schon die antik-griechischen Quellen so bezeichnen (Keras, Chrysokeras), in Form eines Dreieckes (wie zeitgenössische Autoren immer wieder feststellen) angelegt war. Hügel, deren Höhe selten 50 m überschreitet, und Senken – wie der Flußlauf des Lykos sogar ein richtiggehendes Tal – bestimmen das Stadtbild. Die Vorstellung von genau sieben Hügeln, die erst seit dem 10. Jahrhundert in byzantinischen Quellen auftaucht und gut in den Rahmen der Imitation des alten Roms zu passen scheint, gehört topographisch gesehen in das Reich der Phantasie, auch wenn kaum eine moderne Darstellung verzichtet, als unumstößliche Tatsache ausdrücklich darauf hinzuweisen. Das Gelände fiel zu den Seeseiten hin rasch und teilweise recht steil ab und zwang besonders hier, aber auch vielfach an anderen Stellen, zu einer Hang- und Terrassenbauweise.
Das Klima, das die Lebensformen der Bewohner prägte, war auch in der Antike und im Mittelalter gemäßigt kontinental, bestimmt von der Landmasse Kleinasiens und des Balkans einerseits und dem Schwarzen Meer andererseits. Wenn die heutigen Mittelwerte im Januar zwischen 2,7° und 8° Celsius erreichen, und im Juli der untere Mittelwert 18° ist, so dürfen wir mit ähnlichen Zahlen auch für Antike und Mittelalter rechnen, obgleich die Forschung zunehmend Klimaschwankungen nachweisen kann. Wenn man bedenkt, daß die Stadt fast wie Neapel am 41. Breitengrad liegt, im Winter aber regelmäßig Schnee fällt und heute – aber auch im Mittelalter (wo die Quellen darüber berichten) – Eisschollen aus dem Schwarzen Meer herangeführt werden, die im 10. Jahrhundert sogar die Seemauern beschädigten, so wird der Unterschied zur mediterranen Welt noch deutlicher. Gemeinsam mit vielen Ländern des Mittelmeerraumes ist Konstantinopel – gelegen an der geologischen Berührungszone zwischen anatolischer Platte und italisch-balkanischer Platte – die hohe Erdbebenhäufigkeit, die die Bau- und Siedlungsgeschichte in Mittelalter und Neuzeit bestimmt. So wurde Konstantinopel zwischen dem 4. Jahrhundert und dem 15. Jahrhundert von rund 50 in Quellen erwähnten Erdbeben heimgesucht, doch lag ihre tatsächliche Zahl weitaus höher.
2. Besiedlung und städtische Anlagen vor Konstantin dem Großen
Der Großraum der späteren Stadt weist schon in neolithischer Zeit am Ende des 3. und zu Beginn des 2. Jahrtausends Besiedlungsspuren auf. Auf asiatischer Seite, im heutigen Kadiköy, gab es bereits vor 700 v. Chr. eine phönizische Handelsniederlassung, der um 660 v. Chr. an der heutigen Serailspitze eine Konkurrenzniederlassung von Händlern aus Megara – unweit vom Isthmos von Korinth gelegen – folgte, die nach dem legendären Gründer Byzas (kein griechischer, sondern ein thrakischer Name) Byzantion genannt wurde. Möglicherweise wurde eine thrakische Siedlung von Griechen (die auch an vielen anderen Stellen, vor allem aber am Schwarzen Meer Kolonien gründeten) unterwandert, und die «Erinnerung» an den fremdstämmigen Gründer spiegelt sich in der gräzisierten Namensform wider. Die Ansiedlung besaß eine befestigte Akropolis (im Bereich des heutigen Topkapi Sarayi) und eine Reihe von Tempeln, die bei Xenophon, Cassios Dio und byzantinischen Historikern erwähnt werden. Von besonderer Bedeutung waren schon damals die Häfen am Goldenen Horn.
Politisch stand die Stadt zunächst unter persischer Souveränität und gelangte dann in den Einflußbereich der makedonischen Könige. 146 v. Chr. stellte sich Byzantion unter den Schutz Roms. Es blieb vom Grundriß her immer eine hellenistisch geprägte Stadt, wenngleich die Hügellage das von Hippodamos von Milet entwickelte rechteckige Straßensystem nicht erlaubte. Die große Mittelstraße (in byzantinischer Zeit Mese genannt) auf dem Höhenrücken hat sicher bereits in frühester Zeit bestanden; über sie führten die Wegeverbindungen in den Westen und den thrakischen Norden. Da Konstantinopel diese alte Achse im Stadtgrundriß beizubehalten scheint und verschiedene öffentliche Bauten (etwa Teile der späteren Hippodromanlage) wenn auch mit Veränderungen weiterverwendet werden, sind Rückschlüsse auf das Wegenetz des alten Byzantion möglich. Im Westen schloß eine Mauer die Stadt ab, und zwar dort, wo etwa in der Höhe des späteren Konstantinsforums die Mittelstraße durch ein Tor die Stadt verließ. Die Fläche dieser römischen Stadt betrug nicht mehr als etwa 0,7 qkm. Im Verlauf der Thronstreitigkeiten zwischen Piscennius Niger (193–194 n. Chr.) und Septimius Severus (193–211 n. Chr.) wurde die Stadt von letzterem seit 193 belagert und mußte sich 195 ergeben. Die Mauern wurden geschleift, zahlreiche Bauten niedergerissen, und Byzantion wurde das Stadtrecht entzogen. Im Besitz der unbestrittenen Kaiserherrschaft erweiterte Septimius Severus später die Stadtfläche nach Süden zum Marmarameer hin auf nun insgesamt einen Quadratkilometer; Bauten wurden renoviert und auch neu errichtet, doch werden wir über diese Sachverhalte oft durch recht widersprüchliche schriftliche Quellen informiert. Vielleicht war die Rolle des Septimius Severus überhaupt weit weniger bedeutend, als spätere Texte glauben machen wollen, und vermutlich gehen auch viele Maßnahmen auf Licinius (308–324 n. Chr.) zurück. Den Hippodrom und die anschließende große Thermenanlage (die im vergangenen Jahrhundert wieder ausgegrabenen Zeuxippos-Thermen) hat Septimius sicher nicht vollendet, ja vielleicht nicht einmal begonnen, und eine eigene Stadtmauer, die immer wieder bei modernen Autoren als severianische auftaucht, ist eine Legende; im besten Fall hat er die alte römische Mauer teilweise wiederhergestellt.
Die wirtschaftlich und politisch geschwächte Stadt litt im 3. Jahrhundert unter den Angriffen der Goten und zu Beginn des 4. Jahrhunderts unter den Thronstreitigkeiten zwischen Maximinus und Licinius (312) sowie zwischen Konstantin und Licinius, der 324 in Chrysopolis (Skutari, Üsküdar) – Byzantion gegenüber an der kleinasiatischen Seite gelegen – gefangen und Konstantin ausgeliefert wurde.
Seit seiner Gründung als megarische Kolonie bestand Byzantion bis zu diesem Zeitpunkt ziemlich genau 1000 Jahre – also etwas weniger als die 1100 Jahre seiner spätantiken und mittelalterlichen Geschichte, die auf den folgenden Seiten darzustellen sind. Abgesehen von Teilen des Hippodroms und den Zeuxippos-Thermen sowie von den Keramik- und Münzfunden sind keine Zeugnisse aus dieser frühen Zeit erhalten geblieben, und wir wissen nichts über das Leben der Bewohner während jener Epoche. Byzantion war auch in römischer Zeit eine Stadt in den Randzonen der Ökumene. Aber spätere Autoren vergaßen nie den alten Namen und verwendeten ihn immer wieder – besonders in der hochrhetorischen Literatur – für die Stadt ihrer eigenen Gegenwart. Somit haben sie selbst dazu beigetragen, daß die gelehrte Forschung der Neuzeit (seit Hieronymus Wolff, 1516–1580) Stadt und Reich in gleicher Weise als Byzanz bezeichnet.
3. Konstantinopel: Aufstieg und Niedergang einer Megalopolis
Die zweite Stadt des römischen Reiches. Die Gründung einer neuen Stadt an Stelle eines vielfach zerstörten oder verfallenen Byzantion war eine Entscheidung des Kaisers Konstantin (306–337 n. Chr.). Die Wahl des Ortes für eine solche Neugründung war zunächst wohl nicht unumstritten, und so stoßen wir immer wieder in den Quellen auf denkbare Alternativen: neben Sardica (Sofia) und Thessalonike nicht zuletzt Ilion/Troja – welch letzterem aber (als Heimat des mythischen Urahnen aller Römer, Aeneas) eher eine ideologische als eine realpolitische Bedeutung zukam. Konstantin, der im Osten (Naissos/Niš) geboren war, hat, obwohl im fernen England (York) aufgewachsen, seine Heimat nicht vergessen. Spätestens seit der Auseinandersetzung mit Licinius kannte er die topographischen Vorteile von Byzantion, mit der keine andere Stadt der Region konkurrieren konnte: Wer sie besaß, hielt den Schlüssel zur Balkanhalbinsel (wie wir diese Region heute nennen) und zu Kleinasien in Händen. Man mag einwenden, daß diese geographische Position schon seit 1000 Jahren unverändert gegeben war, aber sie hatte jetzt eine besondere politische Relevanz erhalten: Die Wirren um die Kaiserherrschaft im 3. Jahrhundert und der Einbruch germanischer Völker ins römische Reich machten den Zeitgenossen eindringlich bewußt, daß das Weltreich allein von seinem Zentrum (Rom) aus nicht mehr zu regieren war. Die großen Städte des Ostens (Alexandreia, Antiocheia) lagen indes zu weit vom Westen entfernt und waren rasch nur zu Schiff erreichbar. Wenn die östlichen Regionen des Reiches (zunächst noch ganz im geographischen Sinne, der erst am Ende des...