II. Jesus von Nazareth
Was wissen wir von Jesus? Er stammt aus Galiläa und trat zum ersten Mal als Anhänger Johannes des Täufers in die Öffentlichkeit. Seine Taufe ist historisch. Denn die damit verbundene Selbstanklage als Sünder war für die Christen ein Anstoß, da sie schon bald von Jesu Sündlosigkeit überzeugt waren (Hebr 4,15). Jesus teilte die Überzeugung des Täufers, das Weltende sei nahe, nur Umkehr könne vor dem Gericht retten (Mk 1,15), aber er unterschied sich vom Täufer durch Gleichgültigkeit gegenüber rituellen Akten: Er taufte nicht. Der Täufer sah die Axt schon an die Wurzeln der Bäume gelegt (Lk 3,9). Es blieb bei ihm keine Zeit, um die Umkehr durch Taten zu beweisen; die Taufe trat als symbolische Ersatzhandlung an deren Stelle. Jesus aber hat erlebt, dass diese Naherwartung nicht in Erfüllung ging. Der Täufer wurde inhaftiert. Die Zeit ging weiter. Wahrscheinlich hat Jesus die weitergehende Zeit als Gnade gedeutet. Denn die schlichte Tatsache, dass die Sonne aufgeht, ist für ihn ein Zeichen der Güte Gottes (Mt 5,45). Gott gibt dem Menschen Zeit zur Umkehr (Lk 13,6–9).
Seine Verkündigung können wir in Grundzügen rekonstruieren. Uns sind viele potentiell unabhängige Ströme von Jesusüberlieferungen erhalten: das MkEv, die Logienquelle (Q), das Sondergut bei Mt und Lk, dazu das Johannes- und Thomasevangelium. Jedes einzelne Traditionsstück in ihnen konnte für sich tradiert werden, ehe es in einem Evangelium niedergeschrieben wurde. Was in all diesen Traditionen an Formen, Motiven und Worten immer wiederkehrt, kann historisch sein. Dazu alles, was urchristlichen Tendenzen zu seiner Verehrung widersprach. Die so gewonnenen Ergebnisse können wir mit Hilfe von zwei Kriterien überprüfen: Nach dem Kriterium der Wirkungsplausibilität ist echt, was sich als Auswirkung des historischen Jesus besser erklären lässt als durch andere Faktoren, nach dem Kriterium der Kontextplausibilität, was sich als individuelle Erscheinung in die damalige jüdische Geschichte einordnen lässt. Folgende Aussagen über Jesus sind danach möglich:
Jesus erwartete das nahe Ende der Welt. Er predigte die «Königsherrschaft Gottes». Damit vertrat er einen konsequenten Monotheismus: Gott wird sich gegen alle bösen Mächte, die Dämonen in der Welt und die Sünde im Menschen, durchsetzen. Juden verstanden, was Jesus meinte. Nirgendwo erklärte er, was «Königsherrschaft Gottes» bedeutet. Aber er setzte eigene Akzente: (1) Wo sonst von der «Königsherrschaft» Gottes die Rede ist, ist Gott immer auch «König». Für Jesus aber ist er der «Vater» (Lk 11,2). (2) Die Königsherrschaft ist in anderen jüdischen Texten zukünftig, beginnt aber bei Jesus schon in der Gegenwart (Lk 11,20). (3) Sie bedeutet meist Befreiung von Fremdherrschaft, bei Jesus aber werden gerade die Fremden in sie hineinströmen (Lk 13,29). Sie ist also kein Triumph über die Feinde Israels, sondern Hoffnung für die Verlorenen in Israel, für Fremde und Ausländer!
Jesus betont die Gnade Gottes mehr als der Täufer. Das Gericht fehlt jedoch nicht. Nicht alle werden in das Reich Gottes kommen: «Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen» (Mk 10,15). Das Heil begann für Jesus in Heilungen. Schon zu seinen Lebzeiten erzählte man mit vielen Übertreibungen von seinen Wundern. Sie haben einen historischen Kern. Denn nicht allen Charismatikern wurden damals Wunder angedichtet, weder dem Lehrer der Gerechtigkeit noch dem Täufer. Diese für Jesus charakteristischen Wunder verbreiteten die Gewissheit: Jetzt ist das Heil im Anbruch.
In seiner Verkündigung benutzte Jesus die Formen von Prophetie und Weisheit. Selbst wenn wir unsicher sind, ob er dies oder jenes Wort so und nicht anders gesprochen hat, wissen wir über seine Formensprache gut Bescheid. Jesus sprach in Seligpreisungen und Weherufen. Er hat Ich-Worte geprägt, in denen er von seiner Sendung mit der Wendung: «Ich bin gekommen …» sprach (z.B. Lk 12,49f.51). Auch Josephus konnte bei seinem Auftreten von sich als Prophet so sprechen (Jos bell 3,400). Ich-Worte sind auch die Antithesen der Bergpredigt. Bei den ersten beiden geht die antithetische Form auf Jesus zurück, die anderen wurden nach deren Modell gebildet. Jesus stellt in ihnen sein «Ich aber sage euch» Mose gegenüber, um das Motiv zum verbotenen Handeln im Inneren frei zu legen (Mt 5,21f. 5,27f). Er sagt nicht: Du sollst nicht zürnen! Oder: Du sollst nicht sexuell begehren! Er stellt nur fest: Wer zürnt, ist schuldig. Wer eine andere (Ehe-)Frau begehrt, hat die Ehe gebrochen. Das zielt auch auf Erkenntnis eigener Unvollkommenheit.
In einer anderen Sentenz bringt Jesus seine Skepsis gegenüber der Unterscheidung von «rein und unrein» zum Ausdruck: Nichts, was von außen in den Menschen kommt, macht unrein, sondern nur, was aus ihm herauskommt (Mk 7,15). Ähnlich relativiert er den Sabbat: «Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat» (Mk 2,27). Rituelle Forderungen sind für ihn weniger wichtig als ethische, die er im Doppelgebot der Liebe zusammenfasste (Mk 12,28–34). Aber er lehnte Rituelles nicht grundsätzlich ab.
Ferner formulierte er provokative Mahnungen: Einem Schlag auf die Wange soll man mit demonstrativer Wehrlosigkeit begegnen (Lk 6,29), um durch «paradoxe Intervention» den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Normalerweise sind Menschen loyal gegenüber Verwandten und aggressiv gegen Fremde. Hier ist es umgekehrt: Jesus nimmt den Hass der allernächsten Familienglieder in Kauf (Lk 14,26), die Liebe aber will er ausweiten auf Fremde, Feinde und Außenseiter (Lk 10,30–35; 6,27; 7,36–50).
Die Ausweitung der Liebe ist in der Güte Gottes begründet: Wie Gott seine Sonne über Böse und Gute aufgehen lässt, sollen Menschen über dem Gegensatz von Freund und Feind stehen – und ihre Feinde lieben (Mt 5,43ff.). Dieses Gottesverständnis hat er in Gleichnissen seinen Hörern nahe gebracht, sei es, dass er typische Prozesse (wie die selbst wachsende Saat: Mk 4,26–29) für Gott und Mensch transparent machte, sei es, dass er außergewöhnliche Vorkommnisse als Bild für das Ungewöhnliche der Gnade Gottes erzählte – den gleichen Lohn bei verschiedener Arbeitszeit (Mt 20,1–16) oder die Bevorzugung des verlotterten Sohnes (Lk 15,11–32). Wer sich bei gleichem Lohn benachteiligt fühlt, soll anderen nicht grollen (Mt 20,15). Wem Gott eine Schuld erlassen hat, soll anderen die Schulden erlassen (Mt 18,23–35).
Jesus verbreitete seine Botschaft wie die alten Propheten auch in gleichnishaften Handlungen. Er ernannte zwölf Männer aus dem Volk zur zukünftigen Regierung Israels (Mt 19,28 par) als Protest gegen die gegenwärtigen Machthaber. Er feierte Gastmähler mit «Zöllnern und Sündern», um Gottes Suche nach den Verlorenen zu inszenieren (Mk 2,15ff). Er zog auf einem Esel in Jerusalem ein als «Gegendemonstration» zum Einmarsch römischer Kohorten zu den großen Festen (Mk 11,1–11). Er entzog mit einer symbolischen «Tempelreinigung» dem Tempel seine Legitimation (Mk 11,15–18). Der Einzug in Jerusalem führte zum Konflikt mit der politischen, die Tempelreinigung zum Konflikt mit der religiösen Macht. Jesus hat wegen dieser Konflikte mit der Möglichkeit seines gewaltsamen Todes gerechnet, aber bis zuletzt gehofft, dass «dieser Kelch» an ihm vorübergehen werde (Mk 14,35f). Er feierte ein letztes Mahl in der Erwartung, es mit seinen Jüngern im bald hereinbrechenden Reich Gottes erneut feiern zu können (Mk 14,25).
Jesus wurde durch ein Zusammenwirken von jüdischer Aristokratie und römischer Provinzverwaltung zu Tode gebracht – vergleichbar ist ein anderer Prophet, der ebenfalls das Ende des Tempels und Jerusalems prophezeite. Den inhaftierte die Aristokratie und lieferte ihn dem Statthalter Albinus (ca. 62 n.Chr.) aus, der ihn für verrückt hielt und freiließ (Jos bell 6,300ff). Auch Pilatus hätte diese Möglichkeit gehabt. Tacitus hält ihn mit Recht für verantwortlich für Jesu Tod (Tac ann. 15,44,3). Die Christen machten dagegen zu einseitig jüdische Instanzen verantwortlich, obwohl diese nicht das Recht hatten, die Todesstrafe zu verhängen (Joh 18,31). Nach einer Inschrift am Kreuz (Mk 15,26) wurde Jesus als «König der Juden» hingerichtet. Zwar hat sich Jesus kaum als messianischer König verstanden, der das Land von den Fremden befreien werde, aber er hat sich vor Pilatus nicht von der an ihn herangetragenen Messiaserwartung distanziert. Denn nirgendwo werden die ersten Christen damit in Verlegenheit gebracht, ihr Meister habe am Ende seines Lebens selbst nicht mehr an seine Sendung geglaubt.
Als was aber hat er sich verstanden? Er war überzeugt, mehr zu sein als der letzte Prophet vor dem Gottesreich. Schon Johannes der Täufer war «mehr als ein Prophet» (Lk 7,26). Jesus kündigte nicht nur das Reich an, er brachte es in seiner Person. Petrus wollte ihn deswegen als Messias proklamieren (Mk 8,27–30). Wahrscheinlich hat sich Jesus gegenüber solchen populären Messiaserwartungen spröde verhalten. Denn es ging ihm nicht um «sein Reich»,...