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Die historische Entwicklung der Koordinationschemie: von einer Anzahl obskurer Einzelergebnisse zu einer interdisziplinären Wissenschaft
Einen Abriß der Geschichte der Koordinationschemie zu geben wird dadurch erschwert, daß es im eigentlichen Sinne keinen definierten Anfang gibt; ein äußerst frustrierender Umstand für jeden Historiker! Die Herstellung einzelner Substanzen, deren charakteristischer Inhaltsstoff eine Koordinationsverbindung ist, ist uns bereits aus dem Altertum überliefert. Koordinationsverbindungen in Form von Farblacken wie Alizarin oder auch in Naturstoffextrakten (Hämderivate aus Tierblut) wurden bereits in frühester Zeit verwendet und sind seit Herodot (450 v. Chr.) auch dokumentiert.
Seit Beginn der Neuzeit gab es die ersten wissenschaftlich belegten Substanzen, die jedoch erst sehr viel später als Komplexverbindungen charakterisiert wurden; erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Beschäftigung mit solchen Verbindungen Gegenstand chemischer Forschung. Als eigenständige Disziplin etablierte sich die Koordinationschemie im ausgehenden 19. Jahrhundert durch das Werk Alfred Werners, das zum grundlegenden Paradigma dieser Wissenschaft in unserem Jahrhundert wurde. Es soll daher hier zunächst versucht werden, die neuzeitliche Geschichte der Koordinationschemie bis zu den Arbeiten Werners anhand einzelner, für die frühe wissenschaftliche Entwicklung relevanter Verbindungen nachzuzeichnen.
2.1 Die Entwicklung der Koordinationschemie in der Zeit vor der Konstitutionstheorie Alfred Werners: die wichtigsten Komplexverbindungen
Der erste wissenschaftlich dokumentierte Beleg für die Bildung einer Koordinationsverbindung (1597) ist die Beschreibung des Tetramminkupfer(II)-Komplexes [Cu(NH3)4]2+ durch den Hallenser Arzt und Alchimisten Andreas Libavius.2 Dieser beobachtete bei Einwirkung einer Lösung aus Ca(OH)2 und NH4Cl auf Bronze (Kupfer-Zinn-Legierung) eine Blaufärbung, isolierte das dabei entstehende Produkt aber nicht in Substanz.
Im Falle von „Berliner Blau“, Fe4[Fe(CN)6]3 wurde eine Komplexverbindung erstmals isoliert und als Farbpigment eingesetzt (Diesbach und Dippel 1704)3. Ihre Herstellung wurde zwanzig Jahre lang geheim gehalten und erst 1724 von John Woodward (basierend auf der Vorschrift Diesbachs) in den Philosophical Transactions of the Royal Society of London (1724/25, 33, 15) veröffentlicht.4 Die Darstellung erforderte ein Gemisch aus Kaliumhydrogentartrat, Kaliumnitrat und Holzkohle, ferner getrocknetes und fein pulverisiertes Rinderblut, calciniertes Eisen(II)sulfat, Kaliumalaun und Salzsäure, wobei die eigentliche Präparation äußerst aufwendig war. Eine genauere Untersuchung der Vorschrift Diesbachs zeigte bald, daß die Verwendung von Kaliumalaun unnätig war, nicht jedoch die eines Eisensalzes, das somit schon recht früh als wesentlicher Bestandteil der farbgebenden Komponente erkannt wurde.
Während der Zeit der Französischen Revolution (1798) berichtet ein gewisser „Citoyen Tassaert“ über die Entstehung einer braunen Lösung bei der Reaktion von Cobaltnitrat oder -chlorid mit einem Überschuß an wäßrigem Ammoniak. Diese Beobachtung konnte er zwar nicht erklären, wollte sie aber im weiteren genauer studieren.5 Wie man heutzutage weiß, handelte es sich um den Hexammincobalt(III)-Komplex [Co(NH3)6]3+, und Tassaert wird daher von einigen Historikern als Entdecker dieser Substanzklasse angesehen. Die von ihm angekündigten weiteren Untersuchungen wurden jedoch nie veröffentlicht. Auch gibt es keine dokumentierten Angaben zu seiner Person, die damit zu den rätselhaften Figuren der Chemiegeschichte zählt.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in rascher Abfolge eine ganze Reihe von Komplexverbindungen synthetisiert und erstmals eine gezielte präparative Methodik etabliert. Die Komplexe wurden meist nach ihren Entdeckern benannt; einige bedeutende Beispiele sind in chronologischer Folge ihrer Entdeckung in Schema 2.1 aufgeführt.
Mit Sophus Mads Jørgensen betrat 1878 der wohl produktivste präparative Komplexchemiker des 19. Jahrhunderts die Bühne der Wissenschaft.6 In den folgenden drei Jahrzehnten synthetisierte er systematisch eine Vielzahl von Komplexverbindungen, führte u. a. den Chelatliganden Ethylendiamin in die Koordinationschemie ein und schuf damit die Grundlage für die Koordinationstheorie Alfred Werners. Beide Wissenschaftler waren lange Zeit Widersacher in konzeptionellen Fragen und entfachten einen wissenschaftlichen Wettstreit, der sich als äußerst fruchtbar erweisen sollte.
Schema 2.1. Einige nach ihren Entdeckern benannte Koordinationsverbindungen (Die Pt-Komplexe von Peyrone und Reiset sind ein frühes Beispiel für Konfigurationsisomere; siehe Teil II).
Bisher ist fast ausschließlich auf einzelne Entdeckungen in der Frühzeit der Komplexchemie eingegangen worden, und der hinter den Forschungsleistungen stehende jeweilige konzeptionelle Ansatz wurde bewußt außer acht gelassen. Das liegt vor allem daran, daß es bis zu den Arbeiten Werners zwar der organischen Chemie entlehnte theoretische Vorstellungen zur Strukturchemie von Komplexen gab, aber eine umfassende, in unserem heutigen Sinne widerspruchsfreie Konstitutionstheorie fehlte. Der Entwicklung hin zu Werners Theorie und ihren wesentlichen Grundannahmen ist deshalb im folgenden ein eigener Abschnitt gewidmet.
2.2 Alfred Werners Koordinationstheorie: „Eine geniale Frechheit“7
2.2.1 Die Entwicklung der Konstitutionstheorie von Metallkomplexen im 19. Jahrhundert
„..........Wir sind ausgegangen von den Metallammoniaksalzen und sind hiermit zu denselben zurückgekehrt. Ihre eingehende Betrachtung und ihre Beziehungen zu anderen Verbindungen haben uns zur Erkenntnis eines neuen, den Atomen innewohnenden Zahlenbegriffes geführt. Derselbe ist vielleicht berufen als Grundlage für die Lehre von der Konstitution der anorganischen Verbindungen zu dienen, wie die Valenzlehre die Basis der Konstitutionslehre der Kohlenstoffverbindungen gebildet hat.....“ (A. Werner, Z. Anorg. Chem. 1893, 3, 267).
Soweit das Resumé der Arbeit des 26jährigen Privatdozenten Alfred Werner am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, die im Dezember 1892 unter dem Titel „Beiträge zur Konstitution anorganischer Verbindungen“ bei der erst kurz zuvor gegründeten Zeitschrift für Anorganische Chemie eingereicht wurde. Diese Zeilen entstanden vermutlich in den späten Nachmittagstunden eines Tages im Spätherbst desselben Jahres, nachdem der Autor nach eigenem Bekunden gegen zwei Uhr in der Nacht jäh aus dem Schlaf gerissen wurde und die Lösung eines ihn bereits seit einiger Zeit beschäftigenden Problems vor Augen hatte. Er stand sofort auf und schrieb ununterbrochen, „sich mit starkem Kaffee gewaltsam wachhaltend“ bis gegen fünf Uhr am folgenden Nachmittag seine Gedanken in einem Aufsatz nieder, der zu einem epochalen Beitrag in der modernen Chemie werden sollte, vor allem aber die anorganische Chemie aus dem Schatten der alles dominierenden organischen Chemie herausführte.
Worum handelte es sich bei dem Problem, das Werner gleichsam in einem Geniestreich löste?
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts befand sich die anorganische Strukturchemie in einer tiefen Krise. Das Konzept der „Valenz“ oder „Atomizität“, das je nach Zusammenhang in unserem heutigen Sprachgebrauch mit „Bindigkeit“, „Wertigkeit“ (oder mitunter auch „Oxidationszahl“)8 gleichgesetzt wird, hatte sich als äußerst fruchtbar bei der Erklärung und strukturellen Kategorisierung der Kohlenstoffverbindungen in der organischen Chemie erwiesen. Von Kekulé 1858 erstmals eingeführt,9 bildete der Valenzbegriff die Grundlage der von van’t Hoff und Le Bel10 entwickelten Theorie des vierbindigen („-wertigen“!) Kohlenstoffs. Für Kekulé war die Valenz eine Eigenschaft der Atome und somit eine fundamentale Konstante jedes Elements, eine Vorstellung, die selbst bei einfachen Verbindungen zu verwirrenden Anschauungen in bezug auf ihren chemischen Aufbau führte. Nahm man beispielsweise für Phosphor die konstante Valenz III an (worunter in unserer heutigen Sprache sowohl die Bindigkeit als auch implizit die Oxidationszahl zu verstehen ist), so gab es bereits Schwierigkeiten bei der chemischen Formulierung einer Verbindung wie Phosphorpentachlorid. Ähnlich problematisch war die Formulierung der Hydrate und auch Ammoniakaddukte von Übergangsmetallsalzen. Kekulé führte für derartige Verbindungen den Begriff „Molekülverbindungen“ ein und ersetzte damit „einen unklaren Begriff durch ein schönes Wort“ (A. Werner 1893). Als Schreibweise schlug er die auch heute noch mitunter verwendeten „Punktformeln“ vor, z. B.
Phosphorpentachlorid PCl5 = PCl3·Cl2 |
Kupfer(II)-sulfat–Pentahydrat =... |