2 Fallstudie Teekampagne
Ein brauchbares unternehmerisches Konzept lässt sich nicht über Nacht entwickeln. Bei der Teekampagne dauerte es Jahre. Zu Beginn meiner Überlegungen stand keineswegs fest, dass es um Tee gehen würde oder um Handel. Ich hatte keine festgefügten Vorstellungen, wie »mein« Unternehmen aussehen würde. Am Anfang stand nur der Wunsch, universitäre Lehre und unternehmerische Praxis zu verbinden.1
Es war, als ob man ein Puzzle zusammensetzt – aber eines, dessen Ergebnis zu Beginn noch keiner kennt und dessen Einzelstücke erst noch ausgedacht werden müssen.
2.1 Die Entstehungsgeschichte der Idee
Auf Reisen in Entwicklungsländer war mir aufgefallen, dass Produkte wie Kaffee, Bananen, Zucker, Tee bei uns ungefähr zehnmal mehr kosten als dort. Was macht die Produkte bei uns derart teuer? Und warum war gerade Tee in Deutschland exorbitant teuer, selbst im Vergleich zu anderen europäischen Ländern? Lag es an den Frachtkosten, der Versicherung oder etwa den hohen Gewinnspannen der Kaufleute?
Nach eingehender Recherche stellte sich heraus: Teuer machen den Tee nicht etwa diese Kosten, sondern die zahlreichen Stufen des Zwischenhandels und die handelsüblichen Kleinpackungen. Also den Zwischenhandel umgehen und kostengünstigere größere Packungen anbieten? Das schien mir sinnvoll. Aber warum tat das niemand?
Sehen wir uns an, wie Tee bei uns üblicherweise gehandelt wird: Was macht ein gutes Teegeschäft aus? Es hat eine gute Lage, sachkundiges und freundliches Verkaufspersonal, angenehmes Ambiente, vor allem aber ein breites Sortiment an Teesorten. Ein guter Teeladen führt etwa 150 Sorten allein an Schwarztee, dazu kommen noch Grüntees und sehr viele aromatisierte Tees, wie Kirsch- oder Maracujatee.
So kommt der Einzelhändler rasch auf mehrere Hundert Teesorten. Wenn eine davon ausverkauft ist, wird er den Großhändler anrufen und nachbestellen. Bei einer Bestellung von drei bis fünf Kilo, wie der Einzelhändler sie normalerweise vornimmt, kommt er am Großhändler nicht vorbei, dazu ist die Bestellung zu klein. Der wiederum kauft beim Importeur, und dieser vom Exporteur. Auf der Importeurs- und Exporteursstufe geht es um viel größere Mengen, um Paletten bzw. ganze Container-Ladungen.
Es ist also leicht dahingesagt, man solle den Zwischenhandel umgehen. Denn ein herkömmliches Geschäft kann noch nicht einmal die Großhandelsstufe umgehen. Es macht ökonomisch keinen Sinn. Wer viele Sorten anbieten will, muss für jede Sorte Lager halten. Wenn ein Händler direkt im Erzeugerland einkaufen will, muss er mindestens zwei Tonnen – das ergaben meine Recherchen – pro Sorte einkaufen, damit die Transportkosten und der bürokratische Aufwand sich rechnen. Damit bekäme der Händler selbst bei nur 100 Sorten ein Problem: Sein kleiner Laden müsste riesige Lager betreiben und sie auch finanzieren.
Teehandel
(konventionelle Variante)
✓ Teegeschäft, gute Lage
✓ große Sortimentsbreite (oft mehrere Hundert Sorten Tee)
✓ Kleinpackungen
✓ mehrere Zwischenhandelsstufen notwendig (Einzelhandel, Großhandel, Importeur, Exporteur)
Resultat:
✓ große Auswahl
✓ hohe fixe und variable Kosten
✓ daher notwendigerweise hohe Preise
2.2 Der ökonomischen Vernunft folgen?
Trotzdem: Die Idee bleibt verlockend. Könnte man den Zwischenhandel ausschalten, würde dies die Einkaufskosten drastisch senken. Doch daraus folgt: Die Menge der Teesorten muss, wenn man ökonomisch vernünftig handeln will, eingeschränkt werden – und zwar deutlich.
Also die Sortimentsbreite einschränken? Machen da die Teekäufer mit? Die Kunden wollen schließlich nicht immer den gleichen Tee trinken. Kann die Auswahl wirklich beschränkt werden? Ein breites Sortiment ist doch etwas Positives. Die Innovation im Teehandel bestand ja lange darin, sich immer neue, aromatisierte Teesorten auszudenken und auf den Markt zu bringen. Wer also bei der hergebrachten Weise bleiben will, Tee zu handeln, kommt hier nicht weiter.
Dennoch: Mich ließ der Gedanke, dass man Tee wesentlich preiswerter anbieten könnte, wenn man sich auf wenige Sorten beschränkte, nicht mehr los. Ja, so sagt einem der schlichte Menschenverstand, am wirtschaftlichsten wäre es sogar, sich radikal auf nur eine einzige Teesorte zu beschränken. Dann wäre die Einkaufsmenge groß genug, man könnte direkt im Herkunftsland einkaufen, und die Größe des Lagers hielte sich gerade noch in Grenzen.
Sind Verbraucher dazu zu bewegen, auf die vielen Sorten Tee zu verzichten und nur eine einzige zu wählen und sie ein Jahr lang zu trinken? Sicher nicht. »So etwas kann sich nur ein Professor ausdenken«, hörte ich oft. Für einen Moment sah es so aus, als würde die Idee daran scheitern. Wenn die Kunden gewohnt sind, aus vielen Sorten auswählen zu können, warum sollten sie sich dann radikal einschränken? Eine längere Denkpause entstand.
Aber eines ließ mir keine Ruhe: Tee könnte wirklich sehr viel preiswerter werden. Außerdem: Wenn der Einkaufspreis des Tees – da im Vergleich zu allen anderen Kosten niedrig – nur eine untergeordnete Rolle spielt, dann brauche ich am Preis des Tees nicht zu sparen. Dann kann ich einen teuren, sogar einen sehr teuren Tee einkaufen. Ja – warum eigentlich nicht den besten Tee der Welt kaufen?
Es gibt so einen Tee – da sind sich die Experten einig –, er wächst an den Südhängen des Himalaja und trägt den Namen des Distrikts: Darjeeling. Dies erfuhr ich in der Bibliothek der Freien Universität; denn ich war selbst keineswegs Teekenner, nicht einmal Teetrinker. Wenn man also so einen hervorragenden Tee haben kann, und das besonders preiswert, vielleicht lässt dies die Kunden auf die Auswahl verzichten? Als Weintrinker legte ich mir den Gedanken so zurecht: Wenn ich einen Rothschild Lafite zum Preis von einfachem Landwein kaufen kann, trinke ich doch nur noch den Rothschild.
Die Beschränkung auf Darjeeling hat noch einen anderen Vorteil. Woran soll ein Kunde denn erkennen, dass mein Tee wirklich viel preiswerter ist? Schließlich behauptet jeder Händler, dass seine Ware beste Qualität und preisgünstig sei. Der Vergleich muss möglich sein, und der Maßstab, an dem gemessen wird, bekannt. Darjeeling aber ist eine bekannte Teesorte und im Handel sehr teuer. Damit konnte die Qualitätsstufe verdeutlicht und der Preisvergleich hergestellt werden.
2.3 »Keine Ahnung von der Praxis«
Der zweite große Kostenfaktor liegt in den Kleinpackungen. Der Verbraucher will natürlich frische Ware, also scheinen Kleinpackungen ein Muss. Oder doch nicht? Wie steht es um die Haltbarkeit des Tees? Sie ist wichtig, wenn Verbraucher auf Kleinpackungen verzichten sollen. Behielte Tee sein Aroma auch nur ein einziges Jahr, würde es reichen, wenn die Kunden einen Jahresvorrat einkauften. Dann könnte man Großpackungen anbieten und erheblich an Verpackungsmaterial und -aufwand sparen.
Nach den gesetzlichen Bestimmungen hat Tee eine Haltbarkeit von drei Jahren. Warum wird Tee also nicht längst in Großpackungen angeboten? Marketingexperten erklärten mir, ich verstünde eben nichts von der Praxis: Die durchschnittliche Haushaltsgröße hätte abgenommen, der Kunde sei kleine Abpackungen gewohnt und wünsche 100 Gramm als Standard. Es gäbe sogar Tendenzen, dass die 50-Gramm-Packungen, ja sogar 25-Gramm-Teedöschen immer häufiger erfolgreich angeboten würden.
Ich war immer Kaffeetrinker gewesen und mag selbst heute noch nicht auf meinen Morgenkaffee verzichten. Irgendwann fiel mir auf, dass ich eine Kaffeetüte von 500 Gramm in der Hand hielt. Wie das? Wieso wird gemahlener Kaffee, der weit schneller sein Aroma verliert als Tee, als Standard in 500-Gramm-Packungen angeboten, während Tee in 100-Gramm-Packungen verkauft wird? Das ergibt doch keinen Sinn. Der Standard der 100-Gramm-Packungen entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bloße Konvention. Wenn man gemahlenen Kaffee 500-Grammweise verkauft, dann kann Tee doch mindestens auch in solcher Verpackungsgröße angeboten werden.
Das unternehmerische Risiko der Teekampagne lag anfangs vor allem in der Frage: Sind die Käufer davon zu überzeugen, nur eine einzige Sorte Tee und die nur in Großpackungen zu kaufen, wenn dies mit einem erheblichen Preisvorteil belohnt wird? Ich war mir sicher, dass es gelingen würde, die Kunden von einer Ökonomie der Einfachheit und Vernunft zu überzeugen. Damit stand ich am Anfang aber völlig allein.
Meine Studenten zweifelten, als ich das Konzept zum ersten Mal vortrug. »Gibt es dafür auch einen Schein?«, war der erste Kommentar. (Erst der praktische Erfolg überzeugte sie.) Es war auch schwierig, jemanden zu finden, der mir überhaupt Tee liefern wollte. Die meisten der von mir angeschriebenen Exporteure antworteten gar nicht; die wenigen, die reagierten, schrieben etwa so: »Großartig, dass Sie als Professor die Praxis kennenlernen wollen. Aber wir empfehlen Ihnen dringend, doch in ein Teegeschäft zu gehen und zu sehen, wie Tee gehandelt wird.«
Teehandel
(unkonventionelle Variante)
✓ Beschränkung auf nur eine...