Nähe und Weite
Für sich sein und mit anderen zusammen sein: Beides brauchen wir – und zwar in einer guten Mischung. Wenn wir uns bei vertrauten Menschen geborgen fühlen, so können wir umso freier, mutiger und selbstbestimmter unseren Weg durchs Leben gehen.
Geborgen sein
Zu fühlen »Hier gehöre ich hin, hier gehöre ich dazu« ist der Inbegriff von Geborgenheit. Kaum ein Gefühl nährt uns so sehr wie dieses.
Wir erfahren Geborgenheit in ganz unterschiedlicher Ausprägung. Bei Platzregen zum Beispiel fühlen wir uns schon in einem Buswartehäuschen geschützt und geborgen. »Bergen« bedeutet ja so viel wie »in Sicherheit bringen«. Und die Beziehung zu einem anderen Menschen können wir als Quelle für ein tiefes Gefühl der Gewissheit erleben.
DAS RICHTIGE MASS UNTERLIEGT STÄNDIGEM WANDEL
Geborgenheit finden wir bei nahen Menschen, ebenso an lieb gewonnenen Orten oder in vertrauten Tätigkeiten. Immer kommt es dabei auf das richtige Maß an. Was für den einen gerade stimmig ist an Nähe und Vertrautheit, das ist für den anderen womöglich schon zu eng. Was zum einen Zeitpunkt genau passt, ist uns kurz darauf vielleicht schon zu viel, weil wir erst einmal gesättigt sind. Es ist wie mit einer Umarmung: Sie kann zunächst nicht innig, nicht fest genug sein. Und irgendwann holen wir tief Luft, seufzen zufrieden auf und lösen uns wieder aus ihr.
Sich zugehörig fühlen
Geborgenheit hat immer mit »Zugehörigkeit« zu tun. Dazuzugehören, das ist für uns Menschen ein großes Bedürfnis, es ist überlebenswichtig. Keiner lebt so ganz für sich allein. Und wir gehören eben nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zu Orten, die für uns bedeutsam sind. Weshalb bei Geborgenheit oft der Gedanke an Heimat mitschwingt. An einen Ort, wo wir uns auskennen und in dem wir uns wiedererkennen. Dabei kann es durchaus sein, dass dieser Ort heute gar nicht mehr zu uns passt. Aber wir tragen die Erinnerung an ihn in uns, und damit ist die Heimat zu einem Ort in unserem Herzen geworden, an den wir innerlich jederzeit zurückkehren können, um uns seiner – und damit unserer selbst – zu vergewissern.
Womit als Letztes klar geworden ist: Geborgenheit ist, wie das Glück, nichts Statisches, sondern etwas Vergängliches. Wir suchen sie auf, verspüren sie, und dann tritt sie wieder in den Hintergrund, weil wir nun erst einmal das andere brauchen – das Weite, Freie und Unbegrenzte, das Unbekannte und Fremde (auch >). Bis wir erneut in ihre Arme zurückkehren.
Freiheit genießen
Sie macht unser Leben spannend und ermöglicht uns, spontan und selbstbestimmt zu sein. Aber in der Freiheit liegt auch eine Aufgabe.
Es ist ein großes Wort: Freiheit. Viel schwingt darin mit. Was fällt Ihnen zuerst ein? Das Wegbleiben von Alltagszwängen vielleicht, das die Urlaube so schön macht. Oder auch landschaftliche Weite – da ist nichts, was einengt, was beschneidet, begrenzt. Grenzenlosigkeit also … Aber gibt es die überhaupt? Eine bekannte Rede- wendung erinnert uns daran, dass Freiheit niemals nur bedeutet »Freiheit wovon«, sondern auch »Freiheit wozu«. Das heißt, wir sollen nicht untätig bleiben, sondern die Spielräume nutzen, die wir für unsere Entscheidungen und unser Handeln haben.
SELBST ZIELE WÄHLEN
Diese Spielräume finden wir in der Außenwelt vor und in unserem Inneren. Ihre Grenzen können sich – je nach Situation, auch je nach Alter – verschieben. Die Tatsache allerdings, dass wir über so etwas wie Freiheit überhaupt nachdenken, zeigt: Wir Menschen besitzen eine Art von Freiheit, die mehr bedeutet als nur das Ausnutzen von gegebenen Spielräumen. Unser Verhalten besteht eben nicht einfach darin, auf innere und äußere Umstände zu reagieren. Wir agieren auch und sind dabei oft ganz spontan. Wir wählen gern selbst die Ziele aus, die wir verfolgen – und wir wählen sie möglichst entsprechend unseren eigenen Maßstäben, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist.
Eine Sache des Bewusstseins
Hier klingt etwas an, um dessen Existenz Philosophen und Neurowissenschaftler derzeit heftig streiten: die Willensfreiheit. Die einen sagen: Unser Kopf entscheidet und damit wir selbst, unser Bewusstsein. Die anderen sagen: Unser Bauch entscheidet, bevor wir das überhaupt merken, deshalb gibt es keine Willensfreiheit.
Egal welches der beiden Lager recht hat: In unserem praktischen Alltag erleben wir uns in dem Sinn als frei, dass wir uns selbst für Handlungsoptionen entscheiden. Das betrifft banale Dinge (Vanille oder Schokolade?) ebenso wie komplexe Themen, etwa den Umweltschutz. Gerade Letztere zeigen dann: Es ist nicht immer leicht mit der Freiheit. Aber sie ist uns gegeben, und deshalb dürfen wir sie bestmöglich nutzen – und genießen, wo immer wir das können.
Mut haben
Wenn wir uns ein Herz fassen, so brauchen wir dazu Kraft. Und wenn wir es dann gewagt haben, so schenkt uns das wiederum Kraft.
Auch der Mut gehört in dieses Kapitel über Nähe und Weite hinein. Denn mutig sein bedeutet immer, sich vom Nahen und Vertrauten zu lösen (auch >) und auf Neues, Unbekanntes zuzugehen. Das kostet zuweilen einiges an Überwindung.
Nach alten Vorstellungen ist der Mut im Herzen angesiedelt: Wenn wir mutig sind, so fassen wir uns ein Herz. Und im französischen Wort »courage« ist das Herz (»coeur«) enthalten. Den Gegenspieler des Mutes, die Angst, verspüren wir sogar körperlich – als Herzklopfen.
UNSER LÖWENHERZ WECKEN
Mut besteht dann darin, das Herzklopfen auszuhalten und trotzdem loszugehen. Wenn wir das wagen, so spüren wir, wie wir mit jedem Schritt sicherer werden. Unser Herzklopfen nimmt ab, wir fühlen uns innerlich zunehmend warm und stabil und zuletzt auch ein wenig stolz. Wir haben das Löwenherz in uns geweckt.
Mut in dem Sinn, dass wir uns an Neues wagen, ist teilweise eine Sache der Veranlagung und teilweise etwas, das sich üben lässt. Wir sollten es auch üben, damit wir es im Alltag, der oft wenig Spielraum für Neues lässt, nicht verlernen. Wann haben Sie zuletzt etwas Neues gewagt? Das kann auch eine Kleinigkeit gewesen sein. Hauptsache, Sie haben den Schutz des Vertrauten verlassen und sind ins Ungewohnte gegangen. Was aber kann uns motivieren, das zu tun?
Mutig sein heißt einem Begehren folgen
Sprachgeschichtlich kommt das deutsche Wort »Mut« vom alten Begriff für den Sitz des Gemüts, des Wollens und Begehrens. Das heißt: Damit wir Mut aufbringen, muss es etwas geben, das uns anlockt. Wer mutig ist, der absolviert eben nicht bloß eine Übung in Tapferkeit, sondern folgt dabei einem inneren Drang. Immer muss da etwas sein, das uns wichtig ist, sonst würden wir das Herzklopfen nicht riskieren. Umso schöner ist es dann, wenn wir das Ersehnte bekommen haben. Aber auch wenn das nicht der Fall war, so haben wir uns doch etwas Gutes getan, indem wir etwas wagten. Wir haben uns damit bewiesen, dass wir das können: uns ein Herz fassen. Wir haben das Löwenherz in uns trainiert.
Einzigartig sein
Wir entwickeln uns ein Leben lang. Dabei sind wir individuell – und das bedeutet: als Person ganz unverwechselbar.
Es dauert bis heute. Und es wird unser Leben lang andauern: unser Werden, unsere Entwicklung. Wir entwickeln uns weiter, solange wir leben. Das gilt für alle Menschen gleichermaßen, aber sie sind dabei nicht gleich, sondern nur mit sich selbst identisch – sie haben ihre jeweils eigene Identität. Wir sind Individuen.
»Individuum« bedeutet »das Unteilbare« – das, was nicht weiter in seine Bestandteile zerteilt werden kann. Ausgehend von diesem Wort hat der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung den Begriff der Individuation geprägt. Er meint den lebenslangen Prozess der Selbstwerdung.
EIN LEBENSLANGER PROZESS
Man selbst zu werden, das gelingt in einem ständigen Ausgleich zwischen dem, was in uns angelegt ist, und dem, was von außen an uns herangetragen wird an Wünschen, Forderungen und Erfordernissen. Zu ihnen sagen wir manchmal »Ja« und manchmal »Nein«. Wir fügen uns ein und grenzen uns ab. Und in diesem Prozess entwickeln wir uns und verwirklichen uns selbst.
Das Wort Selbstverwirklichung klingt für manche nach Egoismus. Doch der Psychologe Abraham Maslow hat die Selbstverwirklichung in seine berühmte Pyramide der wichtigen Bedürfnisse aufgenommen. Der zufolge erwacht dieses Bedürfnis, wenn andere, primär überlebenswichtige – etwa Nahrung, Gesundheit oder Sicherheit – einigermaßen befriedigt sind.
Seien wir neugierig auf uns selbst
Nach C. G. Jung gibt es bei der Selbstwerdung zwei Phasen: Als junge Menschen entwickeln wir uns nach außen – wir lernen die Welt kennen. Ab der Lebensmitte wenden wir uns mehr unserem eigenen Inneren zu – wir lernen uns selbst immer besser kennen.
Zu wissen, dass wir in diesem Prozess stehen und dass er niemals abgeschlossen ist, das kann uns stärken und entlasten. Denn...