INNERE BILDER FÜR MOTIVIERTES REITEN
(Foto: Weißelstein)
„Der Mensch, das Augenwesen, braucht das Bild.“
- Leonardo da Vinci -
Stellen Sie sich das einmal vor:
Über Ihnen der strahlend blaue Himmel. Ein laues Lüftchen umspielt Ihre Nase. Die Vögel zwitschern. Sie atmen ein, Sie atmen aus, Sie atmen einfach tief durch. Sie fühlen das gleichmäßige Schwingen Ihres Pferdes, ganz nah verbunden mit jeder einzelnen Faser Ihres Körpers. Gleichmäßig im Takt der Bewegung richten Sie sich in Ihrer ganzen Größe auf, und Sie sind eins mit dem Ausdruck Ihres Pferdes. Eine leichte innere Drehung, und Ihr Pferd bewegt sich mit Ihnen mal in die eine, mal in die andere Richtung. Nichts kann Sie jetzt aus der Ruhe bringen. Sie haben nur ein Ziel: eine gemeinsame, harmonisch fließende Bewegung. Sie folgen einfach nur Ihrem inneren Impuls und das Pferd folgt Ihren Impulsen. Kleine Störungen nehmen Sie wahr; Sie registrieren, was passiert, aber Sie bewerten es nicht. Sie ändern, was Sie jetzt ändern können, und lassen sich Zeit für einen passenden Einfall, wenn der richtige Moment da ist, die nächsten erforderlichen Schritte zu tun. Es ist, als folgten Sie einem inneren Plan, einer inneren Ordnung. Sie sind auf dem Weg, und es fühlt sich richtig an.
Konnten Sie das Bild auf sich wirken lassen? Haben Sie im Moment des Lesens vielleicht einen Atemzug mehr bei sich bemerkt? Ein wenig innere Aufrichtung? Konnten Sie einen Hauch von diesem Reitgefühl erahnen? Wenn wir nun weitere solche Bilder „malten“, würden Sie möglicherweise direkt Lust verspüren, sich umgehend aufs Pferd zu setzen? Das angenehme Bild, das eine herrliche Vorstellung in einem weckt, ist motivierend und setzt etwas im Innersten in Gang. Die ganze Werbebranche lebt von der Lust, die Bilder machen können. Auch Sportwissenschaftler und Trainer unterstützen Sportler durch die motivierende Kraft der inneren Bilder. Mentaltraining ist heute ein wichtiges Trainingselement, sogar im Spitzensport.
Dennoch scheint es nach wie vor in unserer Gesellschaft insgesamt anerkannter zu sein, wenn wir hauptsächlich unseren analytischen Verstand einschalten, für den vorrangig unsere linke Gehirnhälfte zuständig ist. Der visuell veranlagte Teil unseres Gehirns, der sich eher in der rechten Gehirnhälfte befindet und komplexe Zusammenhänge und ganzheitliche Bilder erfasst und gegebenenfalls auch sendet, ist daher bei vielen Menschen weniger trainiert. Und so passiert es, dass Mensch und Pferd beim Reiten des Öfteren nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Denn Pferde denken nicht analytisch, sondern sie sprechen als Fluchttiere eher auf bildliche Reize an. Das erlaubt es ihnen, Situationen in kürzester Zeit einzuschätzen und wenn nötig blitzschnell zu handeln. Es lohnt sich also, wenn Sie Ihr eigenes bildliches Denken und Ihre Wahrnehmung schulen. Damit bauen Sie quasi eine Kommunikationsbrücke zu Ihrem Pferd und sind in der Lage es da abzuholen, wo es sich auskennt. Ihr persönliches Denken und Fühlen, Ihre innere Vorstellungskraft (die sogenannte Imagination) sowie formgebende äußere Bilder, um die es späternoch gehen wird, können ein harmonischeres Zusammenspiel mit Ihrem Pferd optimal fördern.
Bevor Sie den nächsten Abschnitt lesen, schlage ich vor, dass Sie sich noch einmal unser angenehmes Szenario vom Beginn dieses Kapitels innerlich vor Augen rufen, denn das menschliche Gehirn kommt durch Vergleichen in Bewegung.
Von Lust und Frust – was Pferde und Reiter bewegt
Heide und Kira haben mir erlaubt, aus ihrem Reiter-Innenleben zu berichten: beispielhafte Eindrücke davon, aus welcher Perspektive Reiten oft wahrgenommen wird. Hohe Erwartungshaltungen lassen Reiter gerade beim Versuch, alles richtig zu machen, so manches Mal unter Druck geraten. In diversen wissenschaftlichen Studien ließ sich belegen, dass Druck im Allgemeinen die Konzentration mindert. Setzen wir uns beim Reiten unter Druck, nimmt unsere Produktivität eher ab als zu. Unser Körper überträgt unsere innere Einstellung. Und mit dauerhaftem Druck wird es uns nicht gelingen, unsere Pferde zu einem harmonischen Miteinander zu bewegen. Druck und Harmonie beim Reiten passen so wenig zusammen wie ein Presslufthammer und ein Violinkonzert. Das erlaubt die Schlussfolgerung, dass wir Gelassenheit und Inspiration genügend Raum in unserem Training einräumen sollten. Aber dazu später mehr.
Harmonie und verbissenes Trainieren von Lektionen schließen sich gegenseitig aus. (Foto: Marcel Jancovic/shutterstock.com)
KIRAS KÄMPFERISCHE SEITE
Würden wir wie Wissenschaftler Kiras Gehirnaktivität und Körperspannung beim Reiten mit einem Magnetresonanztomografen sichtbar machen, sähen wir deutlich, welchen Einfluss Druck und überhöhte Anspannung zum Beispiel auf ihr Potenzial zur Lösungsfindung und ihre Fähigkeit zur zielführenden Umsetzung haben. Ihr unverrückbarer Plan lautet: Arbeit an der Biegung ihres Pferdes. Immer wieder erwischt sie sich, wie sie besonders Zirkel und Volten „auf Teufel komm raus“ trainiert. Aber nun steckt dieser „Teufel“ ja bekanntlich im Detail. Mit aller Macht versucht Kira zu vermeiden, dass ihr Pferd in Wendungen ausfällt. Wieder und wieder verbeißt sie sich in eine Lektion. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie schon die hämischen Blicke ihrer Reiterkollegen, wenn es mal wieder nicht geklappt hat. Keine Anerkennung, nur Gelächter wird sie ernten, da ist sie sich sicher. Ihr Reiten ähnelt auch optisch oftmals einem Kampf. Bei all ihren Bemühungen, möglichst immer alles richtig zu machen, merkt sie häufig nicht, wie das so wichtige Wahrnehmen und Spüren auf der Strecke bleibt. Dabei weiß sie eigentlich, dass die gewünschte Harmonie nicht durch ihren Kampf mit sich selbst und dem Pferd entstehen kann. Manchmal hat sie eine Ahnung davon, wie es ist, wenn es sich besser anfühlt. Das ist meistens dann der Fall, wenn keiner zusieht und sie sich auch nicht gerade auf ein Turnier vorbereitet. Doch wenn sich innerer und äußerer Druck durch die Hallentür schleichen und auf ihren Schultern mitreiten, dann ist sie wieder mittendrin in dem Kampf, der sie bisher nicht dahin gebracht hat, wo sie hinwollte – zu einer ein- und ausdrucksvollen Verbindung mit ihrem Pferd. Sie hat viel darüber gelesen, was sie anders machen könnte, aber in diesen Situationen fällt ihr nicht ein, wie sie das umsetzen kann. Also „ackert“ sie weiter. Ihr Pferd quittiert das oft mit vorauseilendem Gehorsam und diversen Verspannungen.
HEIDES KOPFKINO
Bei Heide sieht der Reitalltag meist eher so aus: Gern verbringt sie Zeit mit ihrem Pferd. Mehr oder weniger angestrengt und noch in Gedanken kommt sie von der Arbeit zum Stall – schnell noch vorher einkaufen, dann zum Pferd. Schon auf den ersten Metern im Sattel strömen unweigerlich Gedanken durch ihren Kopf „… nicht ganz so viel Zeit heute …“, „… Mist, die Bahn ist voller, als ich dachte …“, „ … würde am liebsten gleich wieder rausgehen …“, „ … hoffentlich sieht mich keiner …“, „… ich weiß schon, wie sie wieder gucken werden, wenn ich nicht alles richtig mache …“. Nach ein paar Runden hat sich Heides Blick verdüstert und nichts läuft so geschmeidig, wie sie es gern hätte. Ihr fällt auch nichts Sinnvolles mehr ein, was sie mit ihrem Pferd trainieren könnte. Sie kreuzt irgendwie auf meist geraden Linien durch die Bahn und ärgert sich. Dabei wäre Biegearbeit jetzt so wichtig. Stattdessen reitet sie wie auf einem Felsblock. Heides Motivation ist im Keller – das Pferd könnte sich doch ruhig mal von sich aus anstrengen, endlich unter ihr „zu Butter“ zu werden.
Gedanken machen Haltung
Positive Gedanken helfen beim Aufbau der für gutes Reiten so wichtigen positiven Körperspannung. (Foto: pirita/shutterstock.com)
Würden wir uns weiter anhören, was Reiter aus ihren Reitgedanken berichten, könnte es passieren, dass wir uns bereits beim Lesen selbst verspannen. Wenn sich der Mensch gedanklich in eine Situation hineinversetzt, stellt sich dazu auch, meist unbewusst, das passende Gefühl ein – positiv wie negativ. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass unangenehme Gedanken und innere Vorstellungen Menschen wortwörtlich „herunterziehen“ und dass dadurch entstehende Verspannungen sich letztendlich auf die Bewegungen der Menschen auswirken. Gedanken machen Gefühle, Gefühle machen Haltung, Haltung wirkt sich aus auf Bewegung. Wenn dann noch das Pferd am Ende der Kette „hängt“, das feinfühlig Stimmungen und Körperspannung wahrnehmen kann, dann ergibt das eine Mischung, die in ungewollte Richtungen ausschlagen kann. Was glauben Sie, wie Heides Pferd ihre widersprüchlichen Körpersignale interpretiert, wenn sie übermittelt, dass sie eigentlich schon gern reiten möchte, sich aber nicht wirklich traut. Sie überträgt ihren Zwiespalt und sicher auch ein undefinierbares Unwohlsein auf ihr Pferd....