Kapitel 1
Lieber vorbeugen als heilen
Man darf nur in sich selbst Hoffnung setzen.
Vergil
In den Tragödien der griechischen Antike stürzt auf die Figuren eine Serie von schrecklichen Ereignissen ein, denen sie ohnmächtig ausgeliefert sind. Als wäre ihre Lebensgeschichte vorherbestimmt und als wäre es ihnen unmöglich, dem Schicksal zu entgehen, das sie niederschmettert.
Mehr als zweieinhalb Jahrtausende später prägt diese Vorstellung von einem unentrinnbaren Schicksal noch immer unser Verständnis von Krankheit. Herzerkrankungen, Diabetes oder Krebs, auf deren alleiniges Konto bereits zwei Drittel der Todesfälle in den Industrieländern gehen, werden sehr häufig als Schicksalsschlag oder als Folge von Einflüssen wahrgenommen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Diese fatalistische Sicht auf die Krankheit wird sogar noch durch die jüngsten Entwicklungen in der Genforschung verstärkt. Fast jeden Tag werden neue Gene entdeckt, die eine Veranlagung für bestimmte Krankheiten bedeuten. Das kann zu der Annahme verleiten, dass wir von Geburt an für bestimmte Gesundheitsprobleme »vorprogrammiert« sind, die dann im Erwachsenenalter manifest werden. Gesund sein wird dann zu einer Glücksfrage, und dieses Glück ist den Gewinnern der »genetischen Lotterie« vorbehalten, während ein Kranker ein für alle Mal ein schlechtes Los gezogen hat.
Es ist jedoch nicht nur demoralisierend, sondern auch unzutreffend, den Verlauf des Lebens auf einen schlichten Zufall oder eine genetische Veranlagung zurückzuführen. Mit sehr wenigen Ausnahmen – Krebserkrankungen im Kindesalter oder bestimmte schwere Erbkrankheiten beispielsweise – ist kein Aspekt des menschlichen Lebens vollständig angeboren, egal ob es sich um unsere Veranlagungen, unseren Geschmack oder unsere Fähigkeiten handelt. Die immensen Fortschritte der Forschung in den letzten Jahren zeigen zweifelsfrei, dass man mit einem Gen zur Welt kommen kann, das eine Veranlagung zur Fettsucht oder eine Anfälligkeit für eine Krebsart trägt, dass dieses Gen jedoch nur einer von mehreren Faktoren ist, die für das Auftreten dieser Krankheiten verantwortlich sind. Es handelt sich also um eine durchaus reale Veranlagung, die jedoch von einer Vielzahl von äußeren Faktoren stark beeinflusst wird. Ein frappierendes Beispiel hierfür ist das Onkogen (Krebsgen) BCR-ABL, das als Hauptursache für die Chronische Myeloische Leukämie gilt. Dieser Leukämietyp ist zwar eine seltene Krankheit, die nur einen winzigen Teil der Bevölkerung trifft, das Gen dafür lässt sich jedoch bei einem Drittel der gesunden Erwachsenen nachweisen, ohne dass die große Mehrheit von ihnen jemals von der Krankheit befallen wird. Der Verlauf des Lebens ist also nicht von vornherein festgeschrieben, das gilt für die großartigsten Aspekte ebenso wie für die traurigsten Momente. Mehr als alles andere sind unsere Lebensentscheidungen für das Risiko verantwortlich, an einem schweren chronischen Leiden zu erkranken, indem sie nämlich die Interaktion unserer Gene mit der Umwelt beeinflussen.
Die Schauspielerin und Sonderbotschafterin des UNHCR Angelina Jolie, Trägerin einer Mutation der BRCA1-Gens. © Getty Images / Leon Neal / AFP
Krebs, der Staatsfeind Nummer 1
Krebs ist vielleicht das beste Beispiel für eine Krankheit, deren Ursache oft Faktoren jenseits unserer Kontrolle zugeschrieben wird, die jedoch in der Mehrzahl der Fälle eine Folge unserer Lebensgewohnheiten ist. Unsere Einstellung zu Krebs ist gewöhnlich fatalistisch. Zum großen Teil erklärt sich diese Reaktion aus der schweren Belastung, die diese Krankheit für uns bedeutet. In Kanada, aber auch in vielen anderen Industrieländern, hat Krebs die Herzerkrankungen als Haupttodesursache abgelöst. Mittlerweile geht etwa ein Drittel der jährlichen Todesfälle auf sein Konto; in erster Linie sind dafür die verheerenden Folgen von Lungenkrebs durch Rauchen verantwortlich, gefolgt von Krebserkrankungen des Dickdarms, der Brust, der Prostata und der weißen Blutkörperchen (Lymphome) (Abbildung 1).
Abbildung 1 © Getty Images / David Mack / Science Photo Library
Die hohe Sterblichkeitsrate von Krebs resultiert aus der Schwierigkeit, diese Krankheit noch effektiv zu behandeln, wenn sie in einem fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wird. Denn wenn ein Tumor erst einmal dieses Stadium erreicht hat, besteht er aus vollkommen entarteten Zellen, die ihren Stoffwechsel von Grund auf verändert haben, um ihr grenzenloses Wachstum voranzutreiben. In ihren Chromosomen herrscht totale Anarchie, sowohl in Hinblick auf ihre Anzahl wie auch auf ihre funktionelle Unversehrtheit (Abbildung 2). Diese Zellen weisen zudem gravierende genetische Veränderungen auf, mit Dutzenden, manchmal sogar mehr als hundert einzelnen modifizierten Genen, weswegen sie sehr schwer zu zerstören sind. Durch die jüngsten Fortschritte in der Krebsbehandlung konnte zwar die Sterberate leicht gesenkt werden, doch die Bekämpfung von Zellen, die einen solchen Grad an Degeneration erreicht haben, bleibt eine extrem schwierige Aufgabe mit ungewissem Ausgang. Auch wenn man weiterhin in die Forschung investieren muss, um neue therapeutische Wirkstoffe zu identifizieren, so sollte man dennoch realistisch bleiben und anerkennen, dass der kurative Ansatz bei Krebs seine Grenzen hat und als alleiniges Mittel die Sterblichkeitsrate vermutlich nie signifikant wird senken können. Wie sich schon bei den Herz- und Infektionskrankheiten gezeigt hat, können wir nur durch Prävention echte Fortschritte im Kampf gegen den Krebs erreichen.
Abbildung 2 © Michel Rouleau
© Getty Images / Tim Flach / Stone
Blinde Passagiere
Eine vorbeugende Herangehensweise an Krebs ist auch deshalb so wichtig, weil der Mensch zu den Lebewesen mit dem höchsten Erkrankungsrisiko dafür gehört. Während beispielsweise nur etwa zwei Prozent der Menschenaffen von Krebs betroffen sind, leidet ein Drittel der Weltbevölkerung darunter, und dieser Anteil ist in bestimmten Industrieländern wie Kanada noch höher. Dort sind 46 Prozent der Männer und 41 Prozent der Frauen davon betroffen. Diese angeborene Prädisposition für Krebs erklärt sich zum Teil durch die schwindelerregende Anzahl von Zellteilungen, die nötig sind, um aus einem einzigen befruchteten Ei einen aus 100 000 Milliarden (1014) Zellen bestehenden menschlichen Körper zu bilden. Bei jeder dieser Teilungen müssen die Zellen die drei Milliarden Buchstaben in ihrer DNA vollständig und unversehrt kopieren – eine Herkulesaufgabe, die unweigerlich zu Fehlern führt, zu Mutationen, die sich spontan in bestimmte Gene einnisten, die für das allgemeine Gleichgewicht dieser Zellen von zentraler Bedeutung sind. Der menschliche Körper produziert jeden Tag eine Million mutierter Zellen, die potenziell kanzerös werden können. Eine große Anzahl dieser Mutationen ereignet sich also bereits in den ersten Jahren unseres Lebens, von der Zeugung bis zur Reife, auch wenn der Krebs im Allgemeinen erst im Erwachsenenalter manifest wird (Abbildung 3). Auch eineiige Zwillinge akkumulieren schon in der Phase des embryonalen Wachstums Mutationen und sind deshalb als Erwachsene in vielerlei Hinsicht genetisch verschieden.
Abbildung 3 Quelle: DeGregori, 2013
Diese Mutationen bewirken, dass alle Menschen, auch die gesunden, eine Vielzahl von anormalen Zellen besitzen, die sich manchmal sogar bereits zu Mikrotumoren entwickeln konnten (Abbildung 4). Beispielsweise weisen fünfzig Prozent der Frauen um die Vierzig präkanzeröse Veränderungen der Brust auf, die bei 39 Prozent von ihnen sogar das Stadium eines Karzinoms erreichen; das ist ein weitaus höherer Anteil als der Prozentsatz der Neuerkrankungen an dieser Krebsart in der Bevölkerung (15 %). Das gleiche Bild zeigt sich beim Bauchspeicheldrüsenkrebs: Bei 74 Prozent der Untersuchten kann man Krebsvorläuferzellen im Gewebe feststellen, während nur 1,4 Prozent der Bevölkerung an diesem gefürchteten Krebs erkranken. Die deutlich erhöhte Häufigkeit nicht feststellbarer Mikroläsionen, die um ein Vielfaches über der Krebsinzidenz in der Bevölkerung liegt, lässt also darauf schließen, dass wir alle Tumoren in uns tragen. In der Mehrheit der Fälle bleiben diese jedoch unsichtbar und verborgen wie blinde Passagiere, die uns unser ganzes Leben lang begleiten können, ohne in Erscheinung zu treten. Mit anderen Worten, wir sind biologisch für Krebs prädisponiert, aber was noch wichtiger ist: Wir sind auch dazu prädisponiert, das Ausbrechen dieser Krebserkrankungen zu verhindern.
Abbildung 4 © Getty Images / Baris Simsek / E+
© Getty Images / Peter Dazeley / Photographer’s Choice
Schlechter Samen, fruchtbarer Boden
Was ist der Grund dafür, dass viele präkanzeröse Läsionen (Krebsvorstufen), die spontan entstehen, bei einer Person latent (verborgen) bleiben, während sie sich bei einer anderen zu Krebs entwickeln? Häufig gelten Faktoren außerhalb unseres Einflusses, wie das Altern oder die genetische Disposition, als entscheidende Modulatoren für das Risiko einer Krebserkrankung, aber in...