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– Kapitel 3 –
Das Wunder von Jericho
Jedes Buch hat eine Vorgeschichte. Es gibt einen Moment, in dem in den Gedanken des Autors eine Idee entsteht, die dazu bestimmt ist, zu einem Buch zu werden. Und weil ich denke, dass die Vorgeschichte Ihnen helfen wird, die eigentliche Geschichte besser zu verstehen, möchte ich von der Entstehung dieses Buchs erzählen.
Während meines letzten Collegejahres entwickelte ich mich zu einer Leseratte. Ich verwendete alles Geld und alle Zeit, die ich erübrigen konnte, auf Bücher. Seitdem habe ich Tausende von Büchern aus allen möglichen Themengebieten gelesen, von Spiritualität bis Neurologie, von Biografien bis zu Büchern über Astronomie. Meine Bücherregale sind nicht nur bis auf den letzten Zentimeter gefüllt; auch auf ihnen habe ich Bücher gestapelt, so hoch ich greifen kann. Auf meinem Fußboden bilden sich Büchertürme, so schräg wie (und viel wackeliger als) der Schiefe Turm von Pisa. Schon seit Jahren habe ich keinen Platz mehr in meinen Bücherregalen, was bedeutet, dass nicht jedes Buch im Regal landet. Ein Regal habe ich allerdings, auf dem nur ein paar Dutzend meiner absoluten Lieblingsbücher stehen. Eines davon ist das Buch der Legenden.
Das Buch der Legenden ist eine Sammlung von Geschichten aus dem Talmud und dem Midrasch und enthält die Lehren von jüdischen Rabbinern, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Da es mehr als ein Jahrtausend an gesammelter Weisheit enthält, ist das Buch der Legenden wie eine archäologische Ausgrabungsstätte für mich. Ich hatte mich 202 Seiten tief gegraben, als ich auf einen verborgenen Schatz stieß. Es war die Legende von Honi dem Kreiszieher. Sie veränderte mein Gebetsleben von Grund auf.
Ich habe schon immer an die Macht des Gebets geglaubt. Genau genommen ist Gebet das geistliche Erbe, das mir meine Großeltern hinterlassen haben. Ich hatte einen Großvater, der abends an seinem Bett niederkniete, das Hörgerät herausnahm und für seine Familie betete. Ohne sein Hörgerät konnte er sich selbst nicht hören – aber alle anderen im Haus taten es. Nur wenige Dinge hinterlassen einen so tiefen Eindruck bei einem Menschen, wie wenn er hört, dass jemand ernsthaft für ihn im Gebet eintritt. Mein Großvater starb zwar, als ich sechs Jahre alt war, aber seine Gebete starben nicht. Unsere Gebete sterben nie. Es gab Augenblicke in meinem Leben, in denen der Geist Gottes meinem Geist zuflüsterte: Mark, jetzt werden die Gebete deines Großvaters in deinem Leben erhört. Diese Augenblicke gehören zu den demütigsten Momenten meines Lebens. Und nachdem ich die Legende von Honi dem Kreiszieher entdeckt hatte, merkte ich, dass mein Großvater bereits Gebetskreise um mich gezogen hatte, bevor ich geboren war.
Die Legende von Honi dem Kreiszieher war wie eine Offenbarung über die Kraft des Gebetes. Sie gab mir ganz neue Worte und Bilder, eine ganz neue Herangehensweise. Sie inspirierte mich nicht nur dazu, mutiger zu beten, sondern auch beharrlicher. Ich begann, jeden und alles im Gebet zu umkreisen. Besonders inspirierte mich dabei der Marsch um Jericho, als Gott eine 400 Jahre alte Verheißung erfüllte, indem er dem Volk Israel den ersten Sieg im verheißenen Land schenkte. Die Geschichte erwähnt zwar nicht ausdrücklich, dass die Israeliten beteten, während sie die Stadt umkreisten, doch ich habe keinen Zweifel daran, dass es so war. Ist es nicht das, was man instinktiv tut, wenn man vor einer Herausforderung steht, die die eigenen Möglichkeiten weit übersteigt? Das Bild, wie die Israeliten sieben Tage lang um Jericho ziehen, ist ein bewegendes Beispiel dafür, was es bedeutet, Gebetskreise zu ziehen. Außerdem ist es der Hintergrund für dieses Buch.
Der Marsch von Jericho
Der erste Blick auf Jericho war (Ehr-)Furcht einflößend. Auf ihrer vierzigjährigen Wüstenwanderung hatten die Israeliten nichts gesehen, das der Skyline von Jericho auch nur annähernd gleichgekommen war. Je näher sie vorrückten, desto kleiner fühlten sie sich. Endlich verstanden sie, warum die Generation vor ihnen sich klein wie Heuschrecken gefühlt hatte und aus lauter Angst nicht ins verheißene Land eingezogen war.5
Eine 1,80 Meter dicke untere Mauer und 15 Meter hohe obere Mauer umgaben diese uralte Metropole. Die Mauern aus Lehmziegeln waren so dick und hoch, dass die fünf Hektar große Stadt so uneinnehmbar wie eine Festung wirkte. Es schien, als hätte Gott etwas Unmögliches versprochen, und sein Schlachtplan klang aberwitzig: Eure ganze Armee soll sechs Tage lang je einmal die Stadt umkreisen. Am siebenten Tag sollt ihr siebenmal um die Stadt ziehen.6
Jeder Soldat der Armee muss sich doch nach dem Grund gefragt haben. Warum nicht einen Rammbock einsetzen? Warum nicht über die Mauern klettern? Warum nicht die Wasserversorgung unterbrechen oder brennende Pfeile über die Mauern schießen? Stattdessen befahl Gott der israelitischen Armee, schweigend die Stadt zu umkreisen. Und er versprach ihnen, dass die Mauer fallen würde, wenn sie die Stadt innerhalb von sieben Tagen dreizehn Mal umrundet hätten.
Nach dem ersten Mal fühlten sich die Soldaten sicher ein bisschen albern. Aber mit jeder Umrundung wurden ihre Schritte größer und entschiedener. Mit jedem Kreis baute sich mehr heilige Zuversicht in ihrer Seele auf. Als der siebente Tag kam, war ihr »Glaubenstank« zum Bersten gefüllt. Sie standen noch vor Morgengrauen auf und begannen gegen sechs Uhr morgens, die Stadt zu umrunden. Bei 5 km/h dauerte jede zweieinhalb Kilometer lange Umrundung der Stadt eine halbe Stunde. Gegen neun Uhr begannen sie also ihre letzte Runde. Gottes Gebot entsprechend hatten sie dabei sechs Tage lang kein einziges Wort gesprochen. Sie hatten einfach schweigend die Verheißung umkreist. Jetzt stießen die Priester in die Hörner, und gleichzeitig schrien alle laut los. Sechshunderttausend Israeliten erhoben ein heiliges Gebrüll – heutzutage hätte es einen Ausschlag auf der Richterskala verursacht –, und die Mauern stürzten ein.
Nachdem die Israeliten Jericho sieben Tage lang umkreist hatten, löste Gott ein 400 Jahre altes Versprechen ein. Er bewies wieder einmal, dass seine Verheißungen kein Verfallsdatum haben. Und Jericho steht und fällt als ein Beweis für eine einfache Wahrheit: Wenn wir eine Verheißung kontinuierlich umrunden, wird Gott sie am Ende erfüllen.
Was ist unser Jericho?
Dieses Wunder hat uns viel zu sagen. Es zeigt nicht nur, wie Gott dieses spezielle Wunder tat, sondern enthält auch ein Muster, dem wir folgen können. Es fordert uns heraus, zuversichtlich die Verheißungen zu umrunden, die Gott uns gegeben hat. Und damit stellt sich die Frage: Was ist unser persönliches Jericho?
Für die Israeliten symbolisierte Jericho die Erfüllung eines Traumes, der mit Abraham begonnen hatte. Es war der erste Schritt zur Einnahme des verheißenen Landes. Es war das Wunder, auf das sie ihr Leben lang gehofft und gewartet hatten.
Was ist unser Jericho?
Welches Versprechen umbeten wir? Um welches Wunder marschieren wir herum? Um welchen Traum ziehen wir unsere Kreise?
Gebetskreise zu ziehen beginnt damit, unser eigenes Jericho zu identifizieren. Wir müssen die Versprechen definieren, von denen Gott will, dass wir sie in Anspruch nehmen; die Wunder, für die wir Glauben haben sollen; die Träume, denen wir nachjagen sollen. Dann müssen wir beten, bis Gott uns gibt, was er will und für uns bestimmt hat. Das ist das Ziel. Und nun zum Problem: Die meisten von uns bekommen das, was sie wollen, einfach deshalb nicht, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Wir haben nie auch nur eines von Gottes Versprechen eingekreist. Wir haben nie eine Liste von Zielen aufgestellt. Wir haben nie definiert, was Erfolg für uns bedeutet. Und unsere Träume sind so nebulös wie dicke Wolken.
Statt Kreise zu ziehen, ziehen wir immer nur Nieten.
Jericho umkreisen
Mehr als tausend Jahre nach dem Wunder von Jericho geschah genau am gleichen Ort ein weiteres Wunder. Jesus ist auf dem Weg aus der Stadt, als zwei blinde Männer ihn anrufen: »Herr, Sohn Davids, hab Erbarmen mit uns!« Die Jünger sehen es als menschliche Störung. Jesus sieht es als göttlichen Termin. Also bleibt er stehen und antwortet mit einer pointierten Gegenfrage: »Was soll ich für euch tun?«7
Im Ernst? Ist diese Frage überhaupt nötig? Ist nicht ganz offensichtlich, was sie wollen? Sie sind blind. Doch Jesus zwang sie, genau zu definieren, was sie von ihm wollten. Jesus brachte sie dazu, ihren Wunsch in Worte zu fassen. Er ließ sie ihren Wunsch quasi buchstabieren, aber nicht, weil er nicht wusste, was sie wollten; vielmehr wollte er dafür sorgen, dass sie wussten, was sie wollten. Und hier beginnt das Ziehen von Gebetskreisen: Wir müssen wissen, was wir umkreisen.
Was, wenn Jesus uns genau die gleiche Frage stellen würde: Was soll ich für dich tun? Wären wir in der Lage, die Verheißungen, Wunder und Träume zu benennen, die Gott uns ins Herz gelegt hat? Ich fürchte, vielen von uns würden in diesem Fall die Worte fehlen. Wir haben keine Ahnung, was wir von Gott wollen. Und die große Ironie daran ist, dass wir, wenn wir diese Frage nicht beantworten können, geistlich ebenso blind sind, wie jene Männer es körperlich waren.
Gott ist für uns, doch gleichzeitig wissen die meisten von uns nicht, was Gott für uns tun soll. Und darum sind unsere Gebete nicht nur für uns langweilig, sondern auch wenig...