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E-Book

Kriegerträume

Warum unsere Kinder zu Gewalttätern werden

AutorFrank Robertz, Ruben Wickenhäuser
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783784480220
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Gewalt ist eine Lösung - wenn auch eine denkbar schlechte. Sie führt zu schnellem Erfolg und erfüllt tief verwurzelte Wünsche: Indem Jugendliche Gewalt ausüben, testen sie Grenzen aus, kämpfen um Achtung, demonstrieren Stärke und erfahren Macht. Sie stilisieren sich als gerechtfertigt handelnde Krieger, die sich für eine vermeintlich 'gute Sache' einsetzen - sei es für die Richtigstellung von Anschuldigungen, den Schutz der Familie oder die Stellung im Freundeskreis. Bei den meisten Tätern gründet diese Gewalt in der Sehnsucht nach einem kämpferischen Heldentum. Und hiervon handelt das Buch: von Kriegerträumen. Die Experten Frank J.Robertz und Ruben Wickenhäuser entwerfen authentische Gewaltszenarien und analysieren die Tatdynamik schlüssig und tiefgehend anhand kriminologischer Erkenntnisse. Dabei verdeutlichen sie Motivationen zur Gewalt mithilfe von historischen Kriegertypen (zum Beispiel Gladiator Ninja und Berserker), die symbolisch für verschiedene Gewaltformen stehen. Auf diese Weise gelingt es den Autoren zudem, verständlich darzustellen, wo und wie gezielte Prävention ansetzen muss. Denn letztlich können wir nur dann, wenn wir die Ursachen für Gewalt verstehen, einen Schritt weiter gehen und lernen, wie Gewalttaten zu verhindern sind. Das ist eine Aufgabe, zu der wir alle unseren Teil beitragen.

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Leseprobe

Kapitel 2


D

er Penner hatte wirklich gar keinen Plan. Angewidert verzog Kevin den Mund. Der war so was von verpeilt, das gehörte verboten. Kam in den Duschraum rein und hatte seine Unterhose an – seine spackige Unterhose mit den roten Pferdchen drauf. Automatisch rückte Kevin ein Waschbecken weiter, lehnte sich dagegen und guckte irgendwo an die Decke. Viel zu dicht neben ihm beugte sich Leon über ein Waschbecken. Es ist ja schon ein Wunder, dass er sich überhaupt wäscht, dachte Kevin. Dabei war gerade die Sportstunde um. Widerlich. Andi fand das offenbar auch. Der bullige Junge, der schon zweimal durchgefallen und nicht nur ziemlich fett, sondern auch größer als die anderen war, hatte sich gerade unter der Brause umgedreht und Leon in der Pferdchenunterhose erspäht. »Guckt mal, was unsere Hackfresse heute anhat!«, rief er aus und deutete auf Leon. »Trägst du die Buchse von deiner Schwester, Kleiner?« Einige der anderen Jungen lachten. Kevin schenkte Leon einen Blick aus den Augenwinkeln. Anstatt sich zu wehren oder wenigstens irgendetwas zu entgegnen, irgendetwas, und sei es nur so was wie »Halt’s Maul« oder so, beugte sich der Warmduscher doch tatsächlich nur tiefer über das Waschbecken. Kevin wusste, wie es weiterging. Andi würde den schmächtigen Jungen noch einmal provozieren, und noch einmal und vielleicht noch einmal, wenn die anderen das mit Lachen würdigten. Wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ, dann würde er sich Leon greifen. Jetzt war noch Phase eins. Und wie immer ließ Leon es über sich ergehen. Was für ein erbärmliches Stück Scheiße. Er war selbst schuld, wenn Andi gleich zu Phase zwei übergehen würde. Kevin starrte wieder an die Ecke über den Duschen. Konnte endlich mal einer fertig werden? Er wollte auch noch drunter, bevor die Pause anfing. »Habt ihr gesehen, wie der vorhin am Tau gebaumelt hat? Voll das Opfer!« Andis Bemerkung mit den Tauen hellte Kevins Laune kurz auf. Heute hatte er es geschafft, als Erster den Metallgalgen knapp unter der Decke zu berühren. Stolz stieg in ihm auf. Die meisten anderen waren nicht mal zur Hälfte hochgekommen, aber er, er hatte sich hochgewunden wie einer von diesen Minidrachen, die auch Glasscheiben hinaufklettern konnten, als wäre es flacher Boden, das hatte er mal zufällig im Fernsehen gesehen. Cool war das gewesen, der Erste ganz oben zu sein. Der Sportlehrer hatte ihn sogar dafür gelobt. Auch wenn Kevin nichts auf das gab, was der sonst von sich absonderte – diesmal hätte er es doch gern gehabt, wenn die anderen das Lob mitbekommen hätten. Aber die hatten gerade alle über diesen bescheuerten Leon gelacht. Kevin wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als ihn ein paar kalte Wassertropfen am Arm trafen. »Hey, was soll der Scheiß!«, schrie er. Andi beachtete ihn gar nicht, sondern feixte über Leon, der einen Wasserschwall abbekommen hatte und zusammengezuckt war, nur um sich dann mit triefnassem Rücken wieder übers Becken zu beugen und Wasser unter die Achseln zu werfen.

»Deine Mutter hat dir wohl nicht mal erklärt, wie man sich richtig wäscht, hm? Deine Mutter ist wohl so ein hirnblindes Stinktier wie du, hm?«, stichelte Andi weiter. Phase zwei, notierte Kevin in Gedanken. Die Beleidigungen von Andi wurden so verletzend, dass jeder andere ihm dafür eine gelangt hätte. Selbst wenn er dann ganz üble Prügel bezogen hätte wie im Falle von Leon: Der war sogar noch einen Kopf kleiner als er und ein so dürres Kerlchen, dass es aussah, als würde er beim kleinsten Antippen zerbrechen. Jetzt, wo er fast nichts anhatte, wurde dieser Eindruck noch verstärkt.

Die Mitschüler zollten Andi diesmal nur verhaltenen Beifall. Das bedeutete, dass Phase drei kurz bevorstand. Und immer noch war keine Dusche frei geworden, ärgerte sich Kevin. Gleich würde er einen von den anderen rausschmeißen, von denen auf der linken Seite der Duschreihe, denn die auf der rechten gehörten zu Andis Crew.

Ehe er sich in Bewegung setzte, wurde seine Ahnung wahr.

»Wir bringen dir mal bei, wie das geht, Stinktier!« Andi setzte sich in Bewegung, und sofort lösten sich zwei andere Jungen, Patrick und Dennis, und folgten ihm. Kevin beobachtete gleichgültig, wie Andi hinter Leon trat.

»Bist du auch noch taub oder was? Unter die Dusche, sofort!«, befahl Andi. Als Leon sich nicht rührte, langte Andi ihm mit der Pranke von hinten zwischen die Beine, und sofort griffen Patrick und Dennis seine Arme und rissen ihn vom Waschbecken.

»Hast ja noch nicht mal richtige Eier!«, rief Andi und fasste noch einmal grob nach, sodass Leon große Augen bekam und aufquiekte. Gnadenlos trugen sie ihn zu den Duschen.

Schnell schlüpfte Kevin zwischen ihnen durch und auf einen der frei gewordenen Plätze.

»Dreh kalt! Dreh kalt!«, rief Andi ihm zu und deutete auf die Dusche ganz rechts.

»Dreh doch selber«, erwiderte Kevin gereizt. Patrick griff mit der freien Hand nach der Mischbatterie. Als das Wasser eiskalt war, hoben sie Leon darunter. Der schrie in Panik auf, bis seine Schreie vom Wasserstrahl zu einem Blubbern erstickt wurden.

»Noch kälter!«, rief Andi Patrick zu und stemmte Leon am Hintern so hoch, dass sein Kopf gegen den Duschkopf stieß. »Mach noch kälter!«

»Wir müssen los, sonst verpassen wir die Pause«, grinste ein anderer Junge. Sofort ließ Andi Leon zu Boden fallen, der sich krümmte, hustete und keuchte.

Als Leon irgendwann in die Umkleide schlich – Kevin hatte sich schon angezogen und band gerade seine Schuhe zu –, trocknete er sich nicht etwa ab, sondern zog seine kurze Hose sogar über die klatschnasse Unterhose. Na toll, dachte Kevin, jetzt siehst du auch noch aus, als hättest du eingepisst. Angewidert verließ er die Umkleide.

Leon saß in der Klasse ganz hinten neben einem Mädchen, das keinen anderen Platz gefunden hatte. Und zum Glück weit weg von Kevin, der irgendwo in der Mitte saß. Kevin hatte eigentlich nichts gegen Leon, er war ihm ziemlich egal. Aber Leon schaffte es halt immer wieder, sich als Superspacken hinzustellen. Wie vorhin beim Duschen nach dem Sportunterricht. Und jetzt würde er es gleich wieder schaffen. Das sah Kevin sofort, als Leon seine Mathesachen mit lächerlicher Sorgfalt auf dem Tisch aufstapelte und Andi scheinbar gleichgültig in seine Richtung schlenderte. Sieht nach direktem Sprung zu Phase zwei aus, dachte Kevin. Andi benahm sich schon manchmal albern.

Und tatsächlich: Blitzschnell hatte Andi das Federmäppchen von Leon gegriffen und hielt es triumphierend in die Höhe. Natürlich flogen dabei einige Filzstifte heraus.

»He, lass das!«, maulte Leons Tischnachbarin, die einen Filzer gegen die Wange bekommen hatte. Aber sie traute sich nicht, mehr zu sagen, stellte Kevin fest und spürte wieder ein Gefühl von Verachtung.

Diesmal konnte Leon nicht einfach nichts tun, denn Andi würde das Mäppchen sicher wieder aus dem Fenster werfen wollen. Er sprang auf und griff danach. Andi hielt das Federmäppchen etwas höher und Leon hüpfte verzweifelt vor Andi auf und ab.

»Spring, Hündchen, spriiiing!«, spottete Andi und drehte sich mit applausheischendem Blick um die eigene Achse. Kevin verdrehte die Augen. Leon war wirklich ein Vollidiot der ganz besonderen Sorte. Der machte sich echt gut zum Affen.

Als Leon wieder an Andi hochsprang und ihn dabei an die Brust stieß, ließ Andi plötzlich das Federmäppchen sinken. Und Phase drei, dachte Kevin. Andis Gesichtsausdruck verfinsterte sich.

»Hat dir wohl gefallen vorhin beim Duschen, du schwule Sau?

Kannst du haben!«, lachte er dreckig und griff Leon brutal in die kurze Hose.

»Boah, voll in die Eier!«, rief Nick, ein ansonsten eher schweigsamer Schüler, begeistert. Leon keuchte und stolperte zurück gegen den Tisch. Seine Tischnachbarin kreischte protestierend auf.

»Der Schultze kommt!«, rief Patrick von vorne. Andi ließ von Leon ab, warf das Federmäppchen in den Papierkorb hinten am Fenster und ging in aller Ruhe zu seinem Platz, auf den er sich gerade gesetzt hatte, als der alte Schultze die Tür öffnete.

»Leon, hinsetzen!«, rief der Schultze sofort. Mit puterrotem Gesicht und leicht vornübergebeugt hastete Leon vom Papierkorb zurück auf seinen Platz. Die ganze Stunde über starrte er nur vor sich auf sein Heft und sagte kein Wort. Aber das war Kevin gleichgültig. Er dachte lieber daran, wie er als Erster den Metallgalgen berührt hatte. Er war richtig gut gewesen …

 

Ist es unwahrscheinlich, was Leon hier widerfahren ist? So etwas passiert doch nur ganz selten. Und höchstens in einer Hauptschule. Oder?

Tatsächlich, und das ist durchaus erschreckend, gehört Leons Erlebnis keineswegs zu den Ausnahmeerscheinungen der Jugendgewalt. Nach aktuellen Studien wird eine beträchtliche Zahl von Kindern und Jugendlichen an ihrer Schule zu Tätern und Opfern von sogenanntem Bullying. Zwischen fünf und neun Prozent aller befragten Jugendlichen in Deutschland berichten von regelmäßigen Erfahrungen als Täter, etwa ebenso viele als Opfer von Bullying. Das bedeutet, dass sich im Durchschnitt in jeder Schulklasse zwei oder mehr Jugendliche befinden, die während ihrer Schulzeit davon betroffen sind.

Doch was verbirgt sich genau hinter dem Anglizismus »Bullying«? Die...

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