Viele Menschen leiden als Kinder oder Enkel von Eltern oder Großeltern, die den Zweiten Weltkrieg oder andere Kriege erlebt haben, unter den Folgen dieser Zeit. Die Angehörigen der Kriegsgeneration mögen damals Erwachsene oder Kinder gewesen sein, manchmal sogar Säuglinge – die meisten von Ihnen haben schlimme traumatische Erfahrungen machen müssen, unmittelbar als Opfer oder als Zeugen, wie andere Schlimmes erfahren mussten. (Was ein Trauma ist, wie es nachwirkt und wie es an die nächsten Generationen weitergegeben wird, beschreiben wir im Kapitel »Antworten auf häufige Fragen« am Ende dieses Buches.)
Die Folgen, unter denen die Kinder oder Enkel der Kriegsgeneration leiden, beziehen sie selbst nur selten auf die traumatischen Erfahrungen der Eltern oder Großeltern. Stattdessen verstehen sie sich nicht (vor allem, wenn die Kriegserfahrungen verschwiegen wurden) und kämpfen manchmal geradezu verzweifelt und »irgendwie« gegen ihre Gefühle oder ihr Verhalten. Sind Sie vielleicht einer dieser Menschen? Wir zeigen Ihnen in diesem Kapitel, wie Sie sich besser verstehen können. Sie sind nicht »falsch« oder gar »verrückt«, wenn Sie unter den Folgen kriegstraumatischer Erfahrungen der Eltern oder Großeltern leiden. Sich zu verstehen und so besser zu akzeptieren ist der erste Schritt der Veränderung und Hilfe. Würdigen Sie, was ist: Ihre Gefühle und Ihr Körpererleben, Ihre Krankheitssymptome, Ihre Einfälle, Gedanken und inneren Bilder. Auch wenn Ihnen manches davon »seltsam«, »merkwürdig« oder »unerklärlich« vorkommt!
Sie werden sich bestimmt nicht in allem wiedererkennen, was wir im Folgenden beschreiben. Doch vielleicht in diesem oder jenem Beispiel.
Angst – ohne zu wissen, warum
Irene Jul (alle Namen in diesem Buch sind geändert) war immer schon ängstlich, solange sie sich erinnern konnte. Doch in den letzten Monaten wurde es immer schlimmer. Dass die Kriegsbilder aus Syrien und dem Irak in der Tagesschau ihr Angst machten, konnte sie nicht nur verstehen, sondern fand es »normal« (wie wir auch). Auch dass sie sich ängstigte, wenn ihre Tochter zu spät nach Hause kam. Aber die Angst kam auch »über sie«, ohne dass es einen Anlass gab, »wie aus dem Nichts heraus«. Sie konnte keine innere Verbindung zwischen Ereignissen aus ihrem Leben und der Angst herstellen. Mal hier, mal da – sie konnte sich noch so sehr zusammenreißen, die Angst kroch durch alle Ritzen und schlug unvermittelt zu.
Falls es Ihnen ähnlich geht, kann Ihre Angst aus den Erfahrungen Ihrer Eltern oder Großeltern herstammen. Wer Krieg und damit verbundene schlimme Erfahrungen durchmachen musste, musste viele Ängste durchleben und überleben. Schüsse, Bomben, Flucht, Vergewaltigungen – all das macht Angst. Angst ist als Gefühl dazu da, Menschen zu beschützen, dafür zu sorgen, dass sie sich vor einem bedrohlichen Geschehen hüten, ihm ausweichen oder vor ihm fliehen. Eine traumatische Situation ist eine solche Bedrohung. Doch die Eltern und Großeltern konnten nicht oder nur selten aus dieser Situation fliehen. Oder sie versuchten, zu fliehen, erlebten aber auf der Flucht weitere traumatisierende Bedrohungen. Also blieb die Angst in diesen Eltern oder Großeltern feststecken.
Und noch etwas kam dazu: In der Kriegsgeneration war es geradezu verpönt, über Ängste zu sprechen. Angst hatte »man« nicht zu haben. Und Trost gab es in den Nachkriegsjahren nicht und während der Kriegsjahre sowieso nicht. Also wurde über die Angst nicht geredet. Auch die Eltern von Irene Jul waren voller Angst, insbesondere die Mutter. Diese stand ihr näher als der Vater und hatte so den größten Einfluss auf sie. Doch nach außen hin galt für die ganze Familie die Fassade, die Angst wurde nicht gezeigt. Die kleine Irene nahm die Angst auf wie die Muttermilch. Die Angst sickerte in Irene Jul ein und wurde zu ihrer Angst. Einer Angst ohne Worte.
Als Irene Jul hörte, dass wenigstens ein Teil ihrer Angst möglicherweise nicht aus ihr heraus entstanden sein könnte, sondern zu ihren Eltern gehörte, war sie schon etwas erleichtert. Ihr fiel ein, dass ihre Eltern nie Angst gezeigt hatten und nie über Angst geredet hatten. Angst war ein Tabu in der Familie, Angst gab es nicht und hatte es nicht zu geben. Äußerte sie als Kind Angst, wurde die Angst ignoriert und damit die kleine Irene. Deswegen hatte sich Irene Jul immer etwas geschämt, wenn sie sich ängstigte. Sie kam sich so »anders« vor.
Ihr half nun, sich bei ihren Angstgefühlen immer zu fragen, ob sie einen »Grund« oder »Anlass« für ihre Ängste finden konnte oder nicht. Wenn die Tochter später als verabredet von der Geburtstagsparty bei der Freundin nach Hause kam, verbuchte sie das als »Anlass« für ihre Angst. Wenn sie aber mitten in der Nacht aufwachte und große Angst hatte, etwas vergessen zu haben (was sie schon erledigt hatte oder eine relativ belanglose Kleinigkeit war), dann bewertete sie das als »Angst ohne Grund«. Diese Angst bezeichnete sie für sich auch als »Mutter-Angst«.
Wenn Sie sich wiederholt ängstigen, ohne zu wissen, warum, und ohne das mit einem konkreten Ereignis in Ihrem Leben in Verbindung bringen zu können, können Sie mit Recht vermuten, dass diese Angst von den Ängsten der Eltern und Großeltern herrührt. Das muss nicht sein, das kann. Dies zu wissen erleichtert. Es ist umso wahrscheinlicher, als über Ängste und deren Quellen bei den Eltern, Großeltern oder anderen nahestehenden Personen nicht gesprochen wurde. Wir begegneten auch Menschen, bei denen im Elternhaus viel Angst die Atmosphäre prägte und oft über sie gesprochen wurde. Doch die Quellen, aus denen die Angst herrührte, sodass die Angst für das Kind irgendwie nachvollziehbar und verständlich geworden wären, waren tabu.
Wenn es Hinweise gibt, dass Ihre Angst sich auch aus den Ängsten der Kriegsgenerationen speist, dann ist es wichtig, zwischen den Anlässen Ihrer Angst zu unterscheiden. Wenn Sie einen konkreten Anlass finden, dann können Sie versuchen, an dem Angstauslöser etwas zu verändern. Frau Jul ängstigt sich, wenn ihre Tochter die Verabredungen nicht einhält. Dann kann sie mit ihrer Tochter sprechen und sich bemühen, das Verhalten ihrer Tochter zu verändern. Oder sie kann mit ihrer Tochter Regelungen vereinbaren, die ihre Angst verringern oder im Schach halten. Zum Beispiel, dass ihre Tochter bei einer Verspätung eine SMS schickt, dass mit ihr alles o. k. ist.
Doch wenn sich für die Angst kein Anlass finden lässt, dann liegt deren Quelle nicht in konkreten Geschehnissen, sondern in traumatischen Erfahrungen der Kriegsgeneration.
Wir werden später darauf eingehen, wie Sie damit umgehen können.
Bitte beachten Sie: Bei Ängsten ist es in einem ersten Schritt wichtig, zu unterscheiden, ob es einen Anlass gibt oder nicht und ob das Ausmaß Ihrer Angst dem Anlass entspricht. Ob das so ist, können nur Sie selbst wirklich beurteilen. Angst, ohne zu wissen, warum, deutet auf eine Übernahme elterlicher oder großelterlicher Ängste hin.
Die Schwierigkeit, zu trauern
Wenn Stefan Durm von seiner Frau gefragt wurde, ob er traurig sei, dann antwortete er meist mit einer Gegenfrage: »Wieso denn?« »Weil du so traurig aussiehst«, meinte seine Frau. Schroff wies er sie ab: »Ich bin nicht traurig! Was du immer hast?!«
So war es häufig. Denn seine Frau gab nicht auf, sich liebevoll für ihn zu interessieren. Zu trauern war nicht seine Sache. Er war nicht traurig. Punkt. Das war für Stefan Durm selbstverständlich. Bis sein Vater starb. Auch da war er nicht traurig, aber es geschah etwas mit ihm. Es brodelte in ihm, das spürte er. Aber mehr wusste er nicht. Er verstummte und zog sich zurück. Immer mehr. Auch seine Frau erreichte ihn nicht mehr und machte sich Sorgen, dass er depressiv würde.
So weit muss es nicht kommen, dass sich aus ungelebter Trauer eine Depression entwickelt. Doch dass Trauer nicht oder nur wenig gespürt wird, ist bei vielen Menschen verbreitet. Dabei ist Trauer doch so ein nützliches, so ein wichtiges Gefühl. Trauer ist das Gefühl, das das Loslassen begleitet. Wir Menschen müssen immer wieder etwas loslassen. Das Trauern hilft uns dabei.
Vielleicht...