1. Kapitel
Kindheit
1944 bis 1959
Kühnhaide/Zwönitz 1944 bis 1953
Ein stilles verträumtes Dorf im Erzgebirge von mehr als 2000 Seelen bekommt mitten im Krieg einen kleinen Erdenbürger dazu. Eine Arbeiterfamilie freut sich auf die Ankunft ihres Nachwuchses. Vater Rudolf, Jahrgang 1905 und Mutter Frida, 1908, sehnen schon lange den Zeitpunkt der Geburt herbei.
Meine um 14 Jahre ältere Schwester Inge wird Jahrzehnte nach diesem Ereignis sagen, dass sie keine Ahnung von der Schwangerschaft hatte und nach einem längeren Aufenthalt bei Verwandten plötzlich ein Kind zu Hause vorfand. Erst nach 67 Jahren habe ich versucht, diese Zusammenhänge aufzuklären.
Am Sonntag, den 23.Juli 1944, 08.45 Uhr, so stand es in den Annalen des Kirchenbuchs von Zwönitz, wurde der Junge Egon Wolfgang Petzold in Kühnhaide geboren. Meine Eltern bewohnten damals die 1.Etage des Zweifamilienhauses der Familie Seelig in Kühnhaide.
In eben diesem Haus Nr. 55 in der Lößnitzer Straße kam ich zur Welt.
Nach Aussagen von Zeitzeugen soll es wohl keine größeren Komplikationen gegeben haben. Die Hebamme, die mich ans Licht beförderte, hatte auch keine Sorgen mit dem jungen Bengel.
Er war gesund und munter; eben etwas mager - so der Kommentar der jetzt noch lebenden Bekannten und Verwandten.
Meine noch agile Tante Else hörte ich später und auch jetzt noch erzählen, dass sich Rudi, mein Vater, wegen der bevorstehenden Geburt ernsthafte Gedanken gemacht hat. Er wirkte Wochen vorher immer sehr besorgt und zerstreut. Heute stellt sich mir immer öfter die Frage, weshalb man sich inmitten eines mörderischen Krieges, der auch vor diesem kleinen Ort nicht Halt machte, noch mit fast 40 bzw. 37 Jahren ein Kind anschaffen muss? Des Rätsels Lösung werden wir wohl erst im letzten Kapitel finden, obwohl man jetzt schon ahnen kann, dass da andere Umstände eine Rolle gespielt haben könnten.
Zuerst sah ich ganz genauso aus wie jedes andere Neugeborene.
Später dann nach Wochen kamen meinen Eltern vielleicht doch Zweifel. Ist es genetisch möglich, wenn Mutter, Vater und Schwester allesamt wasserblaue Augen haben, der Neugeborene aber braune?
Außerdem kamen im Laufe der Jahre immer mehr Unterschiede zutage.
Mir sind die Worte einer Frau, die im selben Haus gewohnt hat, in guter Erinnerung. Rudi und Frida hätten immer ein sehr harmonisches Eheleben geführt. Nach meiner Geburt soll es aber verstärkt zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen gekommen sein. Jetzt weiß ich warum.
Es ist gewiss nicht leicht, nach 70 Jahren seine Kindheitserinnerungen wieder auszugraben.
Mit meinen Recherchen im letzten Jahr kommt aber wieder so viel ans Tageslicht; der Schleier der Vergangenheit lichtet sich allmählich. Es ist wie eine Offenbarung.
Vieles kommt mir so vor als wäre es erst gestern gewesen. Das Gehirn ist doch ein Wunderwerk der Natur.
Mutter Frida, Schwester Inge, Vater Rudolf
Erzählungen meiner Eltern über die Zeit des Krieges sind mir aber im Laufe der Jahre nicht abhandengekommen. Obwohl ich damals noch recht klein war, muss es doch auch Erlebnisse gegeben haben, die mir sicherlich im Unterbewusstsein heute noch präsent sind.
Zum Beispiel erzählten meine Eltern noch viele Jahre danach, dass mein Vater und ich im zeitigen Frühjahr 1945, als wir auf dem Hof meines Geburtshauses in Kühnhaide/Zwönitz spielten, von amerikanischen Tieffliegern angegriffen und mehrfach beschossen wurden. Nach der zweiten Angriffswelle konnte er sich mit mir dann ins Haus retten. Kurz vorher hatte er sich mit seinem Körper schützend auf mich gelegt. Wenn ich mir diese Situation heute vergegenwärtige, kommen mir immer viele Gedanken an diesen sinnlosen Krieg auf.
Im vergangenen Jahr hat es mich immer wieder von Dresden, wo ich jetzt lebe und wohne, wie von Geisterhand nach Kühnhaide gezogen.
Bei Tante Else (1924 geboren) und Bewohnern meines Geburtshauses bin ich auf einen wahren Schatz an Fotos, Dokumenten, Erinnerungen und Zeugenaussagen über die damalige Zeit gestoßen.
Selbst Bürgermeister, Rathaus, Standesamt, Kirchenamt, Museen und Lokalzeitungen habe ich in meine Suche nach der Wahrheit mit einbezogen.
Inzwischen verfüge ich über einen beachtlichen Fundus über die damalige Zeit. Ich muss zugeben, dass im Laufe der Jahre fast alle Erinnerungen aus meinem Gedächtnis verschwunden waren. Aber nach und nach lichten sich diese frühen Ereignisse, so dass ich fast lückenlos über meine Kindheit berichten kann.
Aus mir „dürrem Männlein” ist wohl schon bald ein ansehnlicher „Wonneproppen” geworden, trotz der schlechten Zeit des Krieges und der ersten Nachkriegsjahre. Die etwas älteren Spielgefährten Gisela und Anneliese sind mit mir viel umhergetobt, haben mich im Kinderwagen oder im hölzernen Handwagen unter Geschrei über Felder und Wiesen gezogen.
Dank der großen Fürsorge meiner Eltern konnte ich mich körperlich und geistig hervorragend entwickeln.
Mein Vater Rudi, von Beruf Zimmermann, war ein begnadeter Handwerker und in seiner Jugend ein exzellenter Turner. Er konnte nicht verstehen, dass Turnen für mich ein Grauen war. Da fielen schon Ausdrücke wie „du nasser Sack” oder „Versager”. Das passte eigentlich nicht zu ihm. In anderen Disziplinen erzielte ich bessere Ergebnisse.
Die Teilnahme an der Arbeiterolympiade in Frankfurt/Main Ende der 20er Jahre bildeten einen der Höhepunkte in Vaters Sportlerlaufbahn (Amateur). Auf Fotos mit Turnerpyramiden war er immer obenauf zu sehen, eben auch ein Vorbild für andere; wohl auch ein charakterlich wunderbarer Mensch und Familienvater. Er war sehr gutmütig zu seiner Frau, hilfsbereit und kollegial zu anderen.
Viele dieser Eigenschaften haben noch lebende Zeitzeugen bekräftigt.
Erst aus heutiger Sicht bekommt sein Leben auch Ecken und Kanten.
Er stammt aus einem einfachen Elternhaus. Vater Paul (1868 bis 1950) und Mutter Martha (1876 bis 1966) hatten einen Holzhandel in Markersbach, später dann in Neudorf Krs. Annaberg in der Nähe vom Fichtelberg im Erzgebirge. Sie zogen mit ihrem Vollblutpferd und einem großen Leiterwagen von Dorf zu Dorf und auch in die Kreisstadt, um ihr Holz zu verkaufen.
Vater hat auf dem Weg zu seinem Beruf Zimmermann das ganze obere Erzgebirge durchwandert. Er war Wanderbursche und Tippelbruder zugleich. In vielen Ortschaften hat er halt gemacht und bei vielen Meistern der Holzzunft sein Handwerk erlernt.
Er war der älteste der vier Geschwister (Rudi 1905, Kurt 1907, Georg 1910 und Wella 1914). Zur Familie gehörte noch sein Stiefbruder Max (1897-1956) aus erster Ehe. Mit diesem verbanden ihn in Neudorf enge Bruderkontakte. Max als Maurer und Rudi als Zimmermann haben manches Bauwerk im Ort und in den Nachbardörfern Cranzahl, Sehma, Bärenstein aus der Taufe gehoben. Ich kann mich noch gut an diverse „Bauheben” erinnern; der Höhepunkt des Baugeschehens, wenn die Dachsparren errichtet waren und der obligatorische Kranz darauf prangte.
Es wurde Alkohol getrunken, den Umständen entsprechend gut gegessen und auch gesungen.
Max, noch nicht einmal 60 Jahre alt, starb unter fürchterlichen Schmerzen an Magenkrebs. Mir ist das noch sehr bewusst in die Erinnerung zurückgekehrt, weil ich oft mit meinen Eltern als 14/15-Jähriger in seinen letzten Lebenstagen bei ihm zu Hause war. Max´ Familie wohnte nur wenige hundert Meter von unserem Haus entfernt, am sog. „Anger“.
Sein Leiden und seine letzten Stunden habe ich intensiv miterlebt. Ein Kind vergisst solche Erlebnisse nie. Manchmal sind nur die Erinnerungen „verschütt“ gegangen”.
Vater war, obwohl er nur die übliche Schulbildung absolvierte, ein kluger, rationeller und logisch denkender Mann.
Seinerzeit wurden die Treppen meist nur aus Holz gefertigt. Kaum einer beherrschte die Fähigkeit und Fertigkeit, eine Wendeltreppe in Häusern zu bauen. Rudi hatte sich das selbst angeeignet, indem er aus sehr alten Büchern die sogenannten Aufmaße übertragen hat.
Holzhandel Martha und Paul Petzold in Neudorf
Für mich war das jedes Mal ein Rätsel und eine Wissenschaft für sich. Obwohl er vieles auch „frei Schnauze” fertigte, waren seine Werke am Ende voller Präzision und Ästhetik.
Auch noch als Invalide hat er seine handwerkliche Begabung unter Beweis gestellt. Viele seiner Bauwerke haben die Jahrtausendwende überdauert. In Neudorf und Umgebung existieren bestimmt noch etliche davon.
Leider hatte er um 1936 einen Betriebsunfall im Sägewerk Zwönitz.
Dabei wurde ihm die Hüfte beim Baumfällen zertrümmert, und er hatte bis zu seinem Tod sehr darunter zu leiden.
Vielleicht war das aber auch sein Glück, denn er musste nicht in den...