»Warum weinen die Frauen?« – September 1939
Im Juli 1939 geht für den vierjährigen Hans Hanf-Dressler aus Frankfurt am Main ein Herzenswunsch in Erfüllung. Anlässlich ihres Geburtstages wird die Großmutter im ostpreußischen Königsberg besucht, und Hans darf das Transportmittel wählen. Selbstverständlich entscheidet er sich gegen die Bahn und für die Tante Ju. Nach gut zwei Flugstunden erklärt der Pilot der Ju-52 den Passagieren: »Da unten liegt Polen.« Hans beugt sich zum Fenster und ruft: »Du lügst!« Die pikierten Blicke der Erwachsenen stören Hans nicht. »Das sieht man ja gar nicht, dass es Polen ist«, erklärt er. »Das müsste doch rot sein. Die Bäume müssten rotes Laub haben.« Für Hans kann es anders nicht sein. Denn in dem großen Atlas, den die Eltern vor der Reise mit ihm angeschaut haben, ist Polen rot gezeichnet.
Die Geburtstagsfeier der Großmutter ist von Streit überschattet. Hans’ Vater sagt stirnrunzelnd, es werde bald Krieg geben. Und die beiden Onkel erwidern: »Ja, das wird auch Zeit!« Immer lauter und ärgerlicher wird da der Vater. Eine Katastrophe werde über Europa hereinbrechen. Doch der Onkel widerspricht: »Das wird ein Spaziergang für uns.« Hans genießt die spannungsgeladene Atmosphäre, obwohl er kaum versteht, worüber geredet wird.
Die polnische Jüdin Ruth Wermuth verbringt zur selben Zeit ihre Schulferien im pommerschen Ostseebad Krynica. Die friedliche Urlaubsstimmung ist plötzlich vorbei, als Ende August die Zeitungen vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt berichten. Panikartig reisen die Gäste ab, die Züge sind so überfüllt, dass viele am Bahnsteig zurückbleiben. Doch Ruth ergattert gemeinsam mit Mutter und Bruder einen Platz im Zug. Für die Elfjährige ist klar, dass Deutschland und Russland beschlossen haben, Polen unter sich aufzuteilen. Die Frage ist nur: Wann?
Dass es Krieg geben wird, glauben auch die Eltern der achtjährigen Blandyna Lewińska in Warschau. Weil der Vater ein krankes Bein hat, kommt eine Einberufung zur Armee für ihn nicht infrage. Doch die patriotisch gesinnten Eltern haben bereits im Rahmen einer nationalen Sammelaktion ihre Eheringe für das polnische Vaterland gespendet.
Im Hause des zehnjährigen Günter Kunert, später ein bedeutender Schriftsteller, wird heftig politisiert. Mit dem nahenden Krieg verbinden Familie und Freunde die Hoffnung auf ein Ende der Nazidiktatur. Verfolgt und gegängelt werden sie schon seit Jahren, die einen, weil sie politisch links stehen, die anderen, weil sie Juden sind. Kunert gilt wegen seiner jüdischen Mutter und seines arischen Vaters als »Mischling ersten Grades«, weshalb ihn seine Mitschüler für eine seltsame Hunderasse halten. Der Berliner Junge lauscht, in einer Ecke sitzend, gespannt den Gesprächen der Verwandten und wundert sich. »Hitler wird im polnischen Korridor stolpern!« Wieso soll Hitler im Korridor stolpern? Und warum ausgerechnet im polnischen?
Durch diesen polnischen Korridor, der Ostpreußen und das Deutsche Reich seit dem Versailler Vertrag trennt, fährt die elfjährige Berlinerin Gisela Ott. Die Familie musste ihren Besuch in Ostpreußen vorzeitig abbrechen, um zurück nach Hause zu kommen. Der Zug ist verschlossen, sodass während der Fahrt durch das fremde Territorium niemand aus- oder zusteigen kann. An den Straßenrändern und Bahndämmen stehen Polen und drohen dem Zug mit der Faust. Erst auf deutschem Boden werden die Türen wieder geöffnet.
Am letzten Augustwochenende findet im thüringischen Hohenleuben das traditionelle Schützenfest statt. Ein Nachbar schaut aus dem Fenster, als die Familie des achtjährigen Ernst Woll zum Markt aufbricht, und ruft: »Esst bloß noch mal richtig Rostbratwürste, denn am Montag werden wir Lebensmittelkarten ausgeben.« Dieser Montag, der 28. August 1939, ist für Ernst daher der eigentliche Kriegsbeginn.
Londoner Kinder nach Bombenangriff, 1940
Die Mutter der siebenjährigen Jutta Schneider aus Berlin kann sich noch gut an den Ersten Weltkrieg erinnern. Gemeinsam mit der Tochter geht sie auf der Stelle Schuhe kaufen. »Hinterher gibt es das dann alles nicht mehr.« Im schulischen Handarbeitsunterricht häkelt Jutta von nun an keine Topflappen mehr, sondern sie näht Gasmasken.
Für den fünfjährigen Klaus Kammerichs im sauerländischen Iserlohn bedeutet der Kriegsbeginn vor allem, dass sich die Klangfarbe im Radio ändert. Ein erstaunliches Getöse erfüllt die Wohnstube, gänzlich neue Formen von Geräuschen. Eine Sondermeldung jagt die andere, eine Fanfare löst die vorherige ab. Mit Empörung registriert der Kleine die abfälligen Bemerkungen seiner Eltern angesichts des Krieges. »Unsere tapferen Soldaten«, so empfindet es Klaus, »machen die tollsten Sachen da draußen, und die reißen Witze darüber, das geht ja wohl nicht.« Ihm kommt das Verhalten seiner Eltern ein wenig wie Verrat vor.
Skeptisch ist auch der Vater der zehnjährigen Gisela Hielscher aus Breslau. Hitlers Brandrede »Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen!« kommentiert er lakonisch mit dem Satz: »Zurückgeschossen ist gut.«
»Der Herr Hitler wird schon wissen, was er macht, und wenn wir so viele Feinde haben, die uns an den Kragen wollen, dann müssen die eben auch bestraft werden«, denkt die neunjährige Rosemarie Heinze und kann die Angst ihrer Eltern vor dem Krieg nicht verstehen. Ihre Berliner Wohnung liegt an einer Bahnlinie. Schwer beladen mit Panzern und Kanonen rollen die Truppentransporte über Straußberg in Richtung Osten vorbei. Rosemarie wirft den fröhlich singenden Soldaten Blumen zu. Später bindet sie kleine Sträuße schon auf Vorrat, um den blendend aussehenden jungen Männern eine Freude zu machen.
In Polen zeigt der Krieg ein ganz anderes Bild. Ende August trifft Janusz Krasiński, aus den Ferien kommend, im heimatlichen Warschau ein. Sein Vater, ein älterer Herr, holt ihn am Wilnaer Bahnhof ab. Er ist der einzige Mann inmitten einer Traube von Frauen. Alle anderen Männer sind bereits »mobilisiert«. Es ist das erste Mal, dass der Elfjährige das Wort »Mobilisierung« hört. Zwei Tage nach Kriegsbeginn wird der Pfadfinder Janusz durch seinen Gruppenführer zum Güterbahnhof beordert. Gemeinsam mit seinen Kameraden soll er die Gleise bewachen, um zu verhindern, dass deutsche Saboteure Sprengstoff unter Schienen oder Waggons legen. Die Jungen werden mit Brötchen und Orangeade versorgt und sind stolz, etwas für die Heimat tun zu dürfen. Doch der Einsatz findet bereits am darauffolgenden Mittag ein jähes Ende. Der Bahnhof wird von Stukas angegriffen. Eine Ju-87 stürzt mit dem ohrenbetäubenden Geheul der »Jericho-Trompete« genannten Fahrtwindsirene direkt auf die Jungen herab. Janusz kann sich gerade noch hinter einen mit Pflastersteinen beladenen Güterzug werfen, als die Bombe einschlägt. Als er aus dem Bahnhof flieht, sieht er Schreckliches – die erste Kriegsleiche. Der Junge ist überrascht, dass ein »toter Neger« vor ihm liegt. Dabei gibt es »Neger« doch so gut wie gar nicht in Polen. In einem Restaurant hat er einmal einen gesehen. Erst sehr viel später begreift Janusz, dass der Tote durch Hitze und Rauch versengt worden ist. Die Fußwege sind mit Glassplittern übersät. In der Panik verliert der Junge einen Schuh, am anderen reißt der Riemen. Barfuß rennt er durch die halbe Stadt bis nach Hause, ohne auf die Scherben achtzugeben.
Jan Karpiński erlebt die Bombardierung von Krakau zunächst noch als ein abenteuerliches Spiel. Es wird geschossen, Flugzeuge und Rauchwolken sind am Himmel zu sehen. Menschen rennen umher. Es ist für den jüdischen Jungen wie im Wilden Westen, er ist Indianer, die anderen sind die Cowboys. Am ersten September ist in Polen Schulbeginn. Doch 1939 fällt an diesem Tag die Schule aus, und das ist das Beste für den Neunjährigen.
Anderthalb Stunden nachdem der Onkel des elfjährigen Zenon Malec im Radio gehört hat, dass es Krieg gibt, fallen in Posen bereits die ersten Bomben. Die Familie flüchtet in einen Schutzraum, der unter einem Kino eingerichtet ist. Hunderte Menschen warten dort schon, als sie eintreffen. Nicht alle schaffen es rechtzeitig. Eine Bombe zerreißt eine Frau direkt vor dem Schutzraum, eine zweite Bombe fällt auf die Treppen. Trümmer verschütten den Eingang. Die Männer schlagen eine Bresche nach draußen. Während seine Familie nach Hause rennt, ist Zenon durch den Anblick eines bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Jungen wie gelähmt. Der Tote trägt die gleiche Hose und das gleiche Hemd wie Zenon, der sich daraufhin stundenlang verängstigt in einer Toreinfahrt versteckt. Erst gegen Abend wagt er sich zurück in die Wohnung, froh zu Hause zu sein. Weder vorher noch nachher hat ihn seine Mutter jemals geschlagen. Doch diesmal prügelt sie ihn bis zur Besinnungslosigkeit. Weshalb,...