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Kriminalität und Kriminalitätsdiskurs. Die Ost-West-Migration im westfälischen Ruhrgebiet vor 1914

AutorBastian Pütter
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl137 Seiten
ISBN9783638574129
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Geschichte Europa - Deutschland - 1848, Kaiserreich, Imperialismus, Note: 1,0, Westfälische Wilhelms-Universität Münster (Historisches Seminar), 183 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Verbrecher, Trinker, Unsittliche und Zivileheherren.' Dies sind die Schlagworte einer Diskussion im Kaiserreich, die die Massenzuwanderung ländlicher Unterschichten ins Ruhrgebiet an Gewalt, Sittlichkeitsverbrechen und Alkoholismus koppelt. Unter den Bedingungen einer entstehenden Einwanderungsgesellschaft mit all ihren Transformationen und Verwerfungen reagiert das deutsche Bürgertum seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Konzepten, die dem bundesdeutschen Angstmotiv 'Ausländerkriminalität' ähneln. Es ist nicht so, dass Geschichte sich wiederholt. Die strukturellen Bedingungen und gesellschaftlich-sozialen Formationen in der Bundesrepublik sind mit denen des Kaiserreichs nicht zu vergleichen. Trotzdem führt der gekappte Traditionszusammenhang zu verblüffenden Doppelungen. Da die eigene Geschichte als `Einwanderungsland wider Willen´ aus dem kollektiven und dem politischen Gedächtnis getilgt scheint, beginnt die Diskussion um Zuwanderung, 'Gastarbeit', Integration und 'Ausländerkriminalität' an einem nur imaginierten Punkt Null. Eine dieser Doppelungen ist die analytische Unschärfe des Begriffes `Ausländer´ und der Kategorie `Fremdheit´. Im Gegensatz zur Bundesrepublik vollzieht sich im Kaiserreich jedoch dieser Prozess, mit dem `Fremde´ zu `Tätern´ werden, ohne ideologiekritische Einwände und ohne `politisch korrekte´ Sprachregelungen. Umso aufschlussreicher sind die gesellschaftlichen und diskursiven Transformationen, in denen sich aus einer zuvor unbeachteten Gruppe fremdsprachiger Arbeiter ein Feindbild konturiert, das zum Objekt von Zuschreibungen wird, die zuvor anders kodiert waren. Kriminalität bildet das Strukturmuster der neuzeitlichen Gesellschaften ab, 'mit all den Ahndungsritualen, Sanktionseinrichtungen, aber auch den Gerechtigkeits- und Justizvorstellungen der Bevölkerung sowie den eigentümlichen sozialkulturellen Empfindlichkeiten.' Eben diese Vorstellungen und Empfindlichkeiten sind der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ziel ist es, die diskursiven Prozesse im Feld `Kriminalität´ zu beschreiben, mit denen die bürgerliche Gesellschaft auf das Phänomen der Massenmigration ins Ruhrgebiet reagiert. Wie wird aus proletarischer Kriminalität polnische Kriminalität? Wie entsteht aus den `Sicherheitspaniken´ der 1870er Jahre angesichts der durch deutsche Arbeiter verübten Gewalttaten die `Kroatengefahr´ des frühen 20. Jahrhunderts? Welche Entwicklungen sind für die Ethnisierung von Tätern verantwortlich?

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Leseprobe

 „Weil der Fremde fremd ist,

macht der Einheimische ihn,

damit die Welt noch stimme, zum

Fremden; da der Fremde aber bleibt,

stimmt die Welt nicht mehr.“[1]

 

1. Einleitung


 

1.1. Fragestellung


 

„Verbrecher, Trinker, Unsittliche und Zivileheherren.“[2] Dies sind die Schlagworte einer Diskussion im Kaiserreich, die die Massenzuwanderung ländlicher Unterschichten ins Ruhrgebiet an Gewalt, Sittlichkeits-verbrechen und Alkoholismus koppelt.

 

Unter den Bedingungen einer entstehenden Einwanderungsgesellschaft mit all ihren Transformationen und Verwerfungen reagiert das deutsche Bürgertum seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Konzepten, die dem bundesdeutschen Angstmotiv „Ausländerkriminalität“ ähneln.

 

Das junge Ruhrgebiet der Hochindustrialisierungsperiode ist einerseits abhängig von massiver – auch ethnisch fremder – Zuwanderung:

 

„Ohne die `Entfesselung´ der zuvor gebundenen oder gelenkten Migrationspotentiale wäre die Industrialisierung nicht möglich gewesen.“[3]

 

Andererseits sind die sozialen Implikationen dieser Wanderungsprozesse gesellschaftlich nicht abgefedert.

 

„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“[4] Der berühmte Satz Max Frischs bezieht sich auf die Migrationswellen seit den 1960er Jahren, beschreibt jedoch für das 19. Jahrhundert in einer Art „Déjà-vu-Erlebnis“[5] recht genau die Diskrepanz zwischen ökonomischer und sozialer Integration von Zuwanderern.

 

Ulrich Herbert hat angesichts der bundesdeutschen Zuwanderung von der „Fiktion der Voraussetzungslosigkeit“[6] gesprochen. In der Tat deuten die  exemplarischen Aussagen aus der aktuellen Diskussion um Zuwanderung und Integration auf die geringe Halbwertzeit politischer Erfahrungen hin.

 

Im Migrationsreport 2004 weist Leo Lucassen darauf hin, dass

 

dieser Mangel an historischem Bewusstsein in der jeweils spezifischen Konstruktion der nationalen Geschichte begründet ist, die zum Teil Denktraditionen entwickelt hat, in die Einwanderungen schlicht nicht passen.[7]

 

Diese Ausblendungen passen zur Rezeption von Migration als Ausnahme.

 

Die Annahme scheint verbreitet, dass die Welt nur dann in Ordnung ist, wenn Menschen dort bleiben, wo sie gerade leben. Eine solche Vorstellung ist unsinnig und unhistorisch. Menschen hatten immer das Bestreben, ihre individuelle und kollektive Lebenssituation zu verbessern; Möglichkeiten dazu boten Wanderungen und die Suche nach neuen Siedlungsgebieten.[8]

 

Es ist nicht so, dass Geschichte sich wiederholt. Die strukturellen Bedingungen und gesellschaftlich-sozialen Formationen in der Bundesrepublik sind mit denen des Kaiserreichs nicht zu vergleichen. Trotzdem führt der gekappte Traditionszusammenhang zu verblüffenden Doppelungen. Da die eigene Geschichte als `Einwanderungsland wider Willen´ aus dem kollektiven und dem politischen Gedächtnis getilgt scheint, beginnt die Diskussion um Zuwanderung, „Gastarbeit“, Integration und „Ausländerkriminalität“ an einem nur imaginierten Punkt Null. Tatsächlich finden sich entscheidende Konflikt- und Argumentationslinien der bundesrepublikanischen Diskussion bereits in den Jahrzehnten um 1900.[9]

 

Eine dieser Doppelungen ist die analytische Unschärfe des Begriffes `Ausländer´ und der Kategorie `Fremdheit´.

 

In der Bundesrepublik Deutschland verschleiert der in der Öffentlichkeit pauschal – und falsch – benutzte Begriff „Ausländer“ die tatsächlich komplexe Zuwanderungssituation. Unter das Stigma „Ausländer“ fallen alle Transitgänger, Touristen, Kurzzeit-Arbeitsmigranten. Hinzu kommen alle Angehörigen fremder Nationen, die dauerhaft in Deutschland leben. In der öffentlichen Wahrnehmung wird diese Gruppe ergänzt durch die Nachkommen der „Gastarbeiter“ in zweiter, dritter und vierter Generation, wenn scheinbar eindeutige Merkmale ihrer `Fremdheit´ wie Name und Aussehen bestehen. Die Zuschreibung `Ausländer´ erfolgt dabei unabhängig von Staatsbürgerschaft und Integrationsstand. Ein vollständig assimilierter Nachkomme türkischer Einwanderer mit lebenslanger deutscher Staatsbürgerschaft wird als `Türke´ wahrgenommen und bestenfalls als `Deutschtürke´ bezeichnet.

 

Hinzu kommt die große Gruppe der als Spätaussiedler bezeichneten Zuwanderer deutscher Herkunft, die ausnahmslos die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, aufgrund ihres noch geringen Integrationsstandes und oft mangelnder Sprachkenntnisse jedoch als `Russen´ und so als `Ausländer´ wahrgenommen werden.

 

Im Kaiserreich finden sich ähnlich komplexe Migrationszusammenhänge. Alle Einwohner der preußischen Teilungsgebiete des ehemaligen polnischen Staates erhielten mit der Reichsgründung die deutsche Staatsbürgerschaft. Damit waren die polnisch-, masurisch- und litauisch-sprachigen Bevölkerungsteile der Ostprovinzen ihrem Rechtsstatus nach Deutsche. Sie genossen Wahlrecht, Freizügigkeit und unterlagen keiner gesonderten Erfassung. Ihre Stigmatisierung als „Staatsfeinde“ erfolgte außerhalb staatsbürgerschaftlicher Kontroversen. Polnischsprachige Arbeitsmigranten aus dem russischen Teilungsgebiet oder aus Galizien unterlagen einerseits der gleichen Stigmatisierung jedoch andererseits einer drastisch schärferen Behandlung aufgrund ihres Status als `Ausländer´, nämlich als `Russen´ oder `Österreicher´.

 

Ähnlich erging es der wachsenden Zahl an Arbeitsmigranten aus anderen europäischen Staaten, die jedoch nach dem empfundenen Grad kultureller Fremdheit, bzw. nach der Struktur existierender Nationalstereotype durchaus verschiedenen Umgang erfuhren. Besonders Osteuropäer und Italiener wurden mit Argwohn betrachtet, während etwa West- und Nordeuropäer, besonders etwa die große Zahl der Niederländer kaum als Problem empfunden wurde.[10]

 

Genau wie in der Bundesrepublik ist im Kaiserreich der Migrationszusammenhang kein Kriterium für die staatliche Erfassung eines in Deutschland lebenden Menschen. Ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist er `Ausländer´, mit Staatsangehörigkeit `Deutscher´, wie homogen `anders´ sich die jeweilige Gruppe auch darstellt.

 

Diese kategorische Sicht kontrastiert stark mit der ebenfalls schematischen öffentlichen Wahrnehmung. Hier wird der Eindruck von Fremdheit oder Vertrautheit mit einer `gefühlten´ Staatsbürgerschaft gekoppelt: auch als Deutscher bleibt im Kaiserreich der Pole Pole, in der Bundesrepublik der Türke Türke.

 

Wird dieses komplexe und stark emotional besetzte Konzept mit dem Feld `Kriminalität´ gekoppelt, bewegt man sich in ein „politisches und ideologisches Minenfeld“[11]. Selbst im historischen Zugriff und mit einer zeitlichen Distanz von rund 100 Jahren scheint das Thema „Ausländerkriminalität“ – so der heute so gängige wie unpassende Terminus – ebenso problembeladen wie im aktuellen Diskurs.

 

Nach wie vor wird in Deutschland der mit Migration und Kriminalität angesprochene Sachverhalt unter dem Konzept der sog. Ausländerkriminalität behandelt. Das Konzept ist freilich weder klar noch theoretisch überhaupt dazu geeignet, die Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität angemessen zu verarbeiten. Aus ausländischer Perspektive wird dies seit längerer Zeit notiert und ferner angemerkt, dass sich die Ausländerkriminalität zu einem conceptual hold all entwickelt hat, mit dem im Wesentlichen die Bedrohung innerer Sicherheit als externe Bedrohung konstruiert und kommuniziert wird.[12]

 

Im Gegensatz zur Bundesrepublik wurde diese Problematik im Kaiserreich nicht analytisch betrachtet. Der Prozess, mit dem `Fremde´ zu `Tätern´ werden, vollzieht sich ohne ideologiekritische Einwände und ohne `politisch korrekte´ Sprachregelungen.

 

Umso aufschlussreicher sind die gesellschaftlichen und diskursiven Transformationen, in denen sich aus einer zuvor unbeachteten Gruppe fremdsprachiger Arbeiter ein Feindbild konturiert, das zum Objekt von Zuschreibungen wird, die zuvor anders kodiert waren.

 

Kriminalität bildet das Strukturmuster der neuzeitlichen Gesellschaften ab, „mit all den Ahndungsritualen, Sanktionseinrichtungen, aber auch den Gerechtigkeits- und Justizvorstellungen der Bevölkerung sowie den eigentümlichen sozialkulturellen Empfindlichkeiten.“[13]

 

Eben diese Vorstellungen und Empfindlichkeiten sind der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

 

Ziel ist es, die diskursiven Prozesse im Feld `Kriminalität´ zu beschreiben, mit denen die bürgerliche Gesellschaft auf das Phänomen der Massenmigration ins Ruhrgebiet reagiert.

 

Wie wird aus proletarischer Kriminalität polnische Kriminalität? Wie entsteht aus den `Sicherheitspaniken´ der 1870er Jahre angesichts der durch deutsche Arbeiter verübten Gewalttaten die `Kroatengefahr´ des frühen 20. Jahrhunderts? Welche Entwicklungen sind für die Ethnisierung von...

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