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E-Book

Kriminalitätsbekämpfung - ein Blick in die Zukunft

VerlagRichard Boorberg Verlag GmbH & Co KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl379 Seiten
ISBN9783415056008
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis38,99 EUR
Kriminalität bekämpfen - jetzt und in Zukunft Der Titel 'Kriminalitätsbekämpfung' behandelt zahlreiche Phänomene, die sich in einer Zeit grundlegender weltpolitischer Veränderungen auch im Kriminalitätsgeschehen widerspiegeln. Alle 17 Beiträge lassen sich komplexen Taktiken der aktuellen und zukünftigen Kriminalitätsbekämpfung zuordnen. Digitale Vernetzung und neue Forschungsergebnisse Die Bandbreite reicht von der digitalen Vernetzung als fundamentale Grundlage heutiger kriminalistischer Arbeit über Spezifizierungen im internationalen organisierten kriminellen Feld bis hin zur globalen Kriminalität. Die Beiträge behandeln neue Erkenntnisse aus kriminologisch-kriminalistischen Forschungen zu Mordmotiven und den Schwierigkeiten, Morde aufzuklären, sowie Themen wie z.B. • Jugenddelinquenz, • polizeilicher Einsatz gegen Einbruchdiebstähle, • Ermittlungserschwernisse in Ost- und Südosteuropa, • Ehrverbrechen, • Spannungsverhältnis zwischen Ermittlungsbeamten und Strafverteidigung sowie • digitale Daten im persönlichen Umfeld. Die aktuellen Kriminalistik-Erfahrungen aus der Schweiz und Überlegungen zu ethischen Problemstellungen der Kriminalistik runden die hochinteressante Palette ab. Mit ausführlichem Autorenverzeichnis sowie einem Vorwort von Prof. Dr. Armin Forker. Über die Reihe Die Bände der Schriftenreihe enthalten Sammlungen verschiedener aktueller Themen, die die komplexe Bandbreite der Kriminalistik wiedergeben.

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Leseprobe

Ehrensache(n): Ehrverbrechen – Zwangsverheiratungen und Ehrenmord


Von Dr. Heiko Artkämper und Mine Kral

Tradierte Wertvorstellungen, die von jüngeren Menschen – insbesondere Frauen – nicht akzeptiert und durchbrochen werden, führen häufig in einen Teufelskreis. Hier ist Aufklärung und Prävention gefragt; staatliche Sanktion und Strafe werden erforderlich, wenn diese nicht in der Lage sind, der Realisierung eines archaischen Denkens im 21ten Jahrhundert, das unter der Falschetikettierung eines „Ehrenmordes“ firmiert, entgegenzuwirken.

Seit fast zwei Jahrzehnten beschäftigen sich die Verfasser mit so genannten „Ehrverbrechen“; die Thematik prägt ein Drama von Frauen zwischen Religion, Tradition und liberaler Gesellschaft. Das „Interesse“ der Mitautorin an diesem Phänomen wurde vor ca. 25 Jahren durch leidvolle, persönliche Erfahrungen „geweckt“. Sie ermöglicht einen Einblick in das von ihr Erlebte, um die missliche Lage von Opfern deutlich zu machen. Dem Erlebten hängen Definitionen, Fakten und Zahlen an. Sie publiziert, um ein Bewusstsein für ein scheinbar nicht akut existierendes Problem zu schaffen, um auf zahlreiche Opfer aufmerksam zu machen und um für diesen Phänomenbereich zu sensibilisieren und zur Mitarbeit zu gewinnen. Nicht Wegzuschauen, sondern konsequent zu handeln, ist Devise und Ziel. Denn zur Bekämpfung solcher Phänomene ist es erforderlich, dass alle gemeinsam konsequent reagieren und nicht schweigen … Es darf nicht ein Einzelschicksal im Vordergrund stehen, sondern all die Millionen Mädchen und Frauen, denen noch geholfen werden muss!1 Aber trotz dessen bleibt eine sehr persönliche Bilanz: Ursprünglich hätte sie niemals daran geglaubt, irgendwann einmal das Selbstbewusstsein, die Stärke und die Kraft zu entwickeln, das eine Kriminalbeamtin benötigt, um für Recht und Gesetz einzustehen, hunderte in unterschiedlichen Professionen zu sensibilisieren, um Opfern Wege aus ihrer Not aufzuzeigen und Täter der Gerichtsbarkeit zuzuführen … .

Damals dachte ich, dass meine Sanktionierung – die physische und psychische Gewalt, die mir angetan wurde – rechtens war… Möglich wurden all diese vermeintlich unmöglichen Dinge nur, weil mir jemand rechtzeitig seine helfende Hand gereicht und an mich geglaubt hat… bevor ich meinen Mut verloren hatte.

1. Prolog


Es erschien mir mit ca. 16 Jahren unmöglich, meinem Vater begreiflich zu machen, dass ich den von ihm für mich ausgesuchten jungen Ehekandidaten zunächst einmal eine Weile kennen lernen möchte, bevor wir uns gegebenenfalls verloben…. Mir erschien es nach meiner ungewollten Verlobung als unmöglich, meinem nun zukünftigen Ehemann mitzuteilen, dass ich ihn niemals geliebt habe und auch zukünftig niemals lieben werde….

Weiterhin erschien es mir nicht möglich, jemals mit meiner ersten großen Liebe zusammen zu kommen, den ich während eines Nebenjobs kennengelernt hatte… denn er war Deutscher, Christ und unbeschnitten und ich Türkin, Muslima, verlobt und fast verheiratet…. Mir erschien es auch unmöglich, dass mir meine Familie jemals

  • ihre Liebe entsagen
  • mir psychische und physische Gewalt zufügen
  • mir und meiner ersten großen Liebe nach dem Leben trachten
  • und mir somit das Urvertrauen nehmen könnte, was Kinder gegenüber ihren Eltern nun mal bedingungslos und grundsätzlich haben,

sofern ich weiterhin an meiner Vorstellung, ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben führen zu wollen, festhalten würde…

Es war seinerzeit auch unmöglich, die ca. 500 zur Hochzeit geladenen Gäste, die allesamt um die Umstände wissen mussten, davon zu überzeugen,

  • dass, wo keine Liebe ist, auch niemals eine entstehen wird…
  • dass eine Zwangsheirat, die gefeiert wurde, mit der Entrechtung und Vergewaltigung eines Menschen gleichzusetzen ist.

2. Was ist mit „Ehrverbrechen“ gemeint?


Damit sind Verbrechen gemeint, die an Personen begangen werden, welche die Ehre ihrer Familie oder Gemeinschaft verletzt haben sollen. Zur Wiederherstellung der Ehre wird den betroffenen Personen, in der Regel Mädchen und Frauen, zur Bestrafung psychische und physische Gewalt angetan. Folgende Formen sind bekannt:

  • Blutrache
  • Mitgiftmord
  • Genitalverstümmelung
  • Säureattentate
  • Steinigung
  • Zwangsverheiratung von Kindern, Mädchen und Frauen.

Die extremste Form von Verbrechen im Namen der Ehre ist der sog. Ehrenmord. 48 vollendete und 22 versuchte Ehrenmorde binnen einer Dekade2 führten durchweg zu spektakulären Verfahren. Bei diesem Ausdruck eines archaisch-biblischen Faustrechts geht es „um einen Brauch, wonach eine durch Tötung oder auf andere Weise herbeigeführte Ehrverletzung eines Einzelnen oder einer sozialen Einheit … nur dadurch beseitigt werden kann, dass ein Mitglied dieser Einheit durch eine der Ehrverletzung angemessene Bluttat … Rache nimmt“. Die Ehre wird über alle anderen Rechtsgüter gestellt, was verfassungsrechtlich der in Art. 1 GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde widerspricht, und auf den Teilbereich der Familienehre reduziert.

Ehrenmord ist von der Blutrache zu unterscheiden, bei der sich als Fallgruppen die Konfrontationen zweier (Groß-)Familien, die Rache einer gekränkten Familie nur gegenüber dem Einzelnen, nicht gegen dessen (Groß)Familie, Einzelaktionen nur eines Mitgliedes der verletzten Familie ohne Kollektiv dieser Familie und Einzelaktionen ohne Einschaltung der beiden Familien unterscheiden lassen. Racheverzicht und Sühneausgleich können vereinbart werden; die Wiederherstellung der Ehrewird dabei an materielle Komponenten – Zahlung von Geld, Lieferung von Waffen p. p., aber auch Zwangsverheiratungen – gekoppelt, obwohl diese in der Wertehierarchie niederrangiger sind.3 Ein Ausschluss der Blutrache bei rein familieninternen Bestrafungsaktionen ist konsequent: Die Tat wird innerhalb der (Bluts-) Verwandtschaft begangen.

3. (Keine) Einzelfälle


… „Am Abend … nähert sich ein 18-jähriger einer 23 Jahre alten Frau an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Er zieht eine Waffe und gibt aus nächster Nähe drei Kopfschüsse auf die Frau ab, die noch am Tatort verstirbt. Bei Täter und Opfer handelt es sich um Geschwister türkisch-kurdischer Herkunft. Anlass der Tat war der westliche Lebensstil des Opfers, der vom Täter als Kränkung der Familienehre empfunden wurde. So wurde der jungen Frau vorgeworfen, kein Kopftuch zu tragen und ihren aus einer Zwangsehe mit einem Cousin aus Istanbul hervorgegangenen Sohn nicht traditionsgemäß zu erziehen.“4

… „Mutter liegt mit 56 Messerstichen tot im Kinderzimmer ihrer kleinen Wohnung“ …

„Diese Zwangsheirat und das Leben in dem für sie fremden Deutschland entwickelt sich für die junge Frau zu einem Martyrium. Hasan E. wird mehr und mehr zu einem Despoten, regelmäßig schlägt er Nurdan und immer häufiger auch die Kinder. Erst 2008 gelingt der jungen Frau mit ihren Kindern die Flucht in ein Frauenhaus der Arbeiterwohlfahrt, immer in Angst vor den Nachstellungen ihres Ehemanns. Erst im Mai 2009 – nach 252 Tagen im Frauenhaus – fasst sie endlich Mut und mietet sich eine kleine Wohnung im Wiesbadener Westend. Fünf Monate später, am 30. September, wird die erst 31-jährige Nurdan dort Opfer eines grausamen Verbrechens.“5

„Mit 68 Messerstichen tötete Mehmet Ö. seine 15 Jahre alte Tochter, weil sie eine Beziehung zu einem jungen Mann hatte“, die er nicht gebilligt hat. „Die Vorsitzende Richterin schloss einen „Ehrenmord“ aus.“6

„Tödlicher Streit um Hochzeitswunsch. … Das Motiv dürfte nach derzeitigem Ermittlungsstand der Heiratswunsch der Tochter und hiervon abweichende Vorstellungen der Familie gewesen sein.“7

4. Eckpfeiler des archaisch patriarchalen Wertesystems


Ehre – Respekt – Loyalität bilden ein patriarchales Wertesystem und einen gefährlichen Wertekodex: Bedingungsloser Schutz der (Familien-)Ehre und daran angeknüpft die Vermeidung jeglichen Gesichtsverlustes! Der bedingungslose Respekt und die absolute Loyalität gegenüber dem Patriarchen und seiner Vertreter.

Die Ehre wird in patriarchal geprägten Kulturen unterteilt in die weibliche und die männliche Ehre. Nachfolgend nur exemplarisch die türkischen Begriffe dazu:

4.1 Namus


Die Ehre der Frau, im türkischen wird sie Namus genannt, wird insbesondere an der Zurückhaltung in der Öffentlichkeit, ihrer Keuschheit, Sittsamkeit und ihrer Unberührtheit, kurzum ihrer sexuellen Integrität gemessen. Eine Frau erlangt ihre Ehre bei Geburt, verliert sie diese aus Sicht ihrer Gemeinschaft, kann sie sie nie wieder zurück erlangen.

4.2 Seref


Die Ehre des Mannes wird im Türkischen Seref genannt. Seref wird in den meisten Fällen gemessen an den individuellen Bemühungen der...

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