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Krisenprävention in der Schule

Das NETWASS-Programm zur frühen Prävention schwerer Schulgewalt

AutorHerbert Scheithauer, NETWASS Research Group, Vincenz Leuschner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl154 Seiten
ISBN9783170239074
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Als bislang einziges wirksamkeitsevaluiertes, deutschsprachiges Programm unterstützt das 'Networks Against School Shootings' (NETWASS)-Verfahren Schulmitarbeiter darin, die Ernsthaftigkeit von Drohungen schwerer Gewalttaten durch Schüler einzuschätzen, und fördert einen adäquaten Umgang mit Schülern in Krisen. In einzelnen Modulen klärt der Praxisleitfaden fundiert über die Hintergründe von Gewalttaten und Krisensituationen auf und stellt die Verfahrensschritte detailliert und verständlich dar. Zahlreiche Fallbeispiele aus der täglichen Praxis von Schulen sowie abwechslungsreiche Methoden unterstützen die konkrete Umsetzung und flexible Anpassung der Struktur an die individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Schule.

Prof. Dr. Herbert Scheithauer lehrt Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der FU Berlin. Dr. Vincenz Leuschner ist Koordinator für das Projekt NETWASS, in dem wissenschaftliche Mitarbeiter der FU Berlin und der FH der Polizei des Landes Brandenburg zusammenarbeiten.

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Leseprobe

2         Das Krisenpräventionsverfahren im Überblick


 

 

 

Im Folgenden stellen wir auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Phänomen schwerer, zielgerichteter Schulgewalt das im NETWASS-Projekt entwickelte Krisenpräventionsverfahren im Überblick dar. Dieses Krisenpräventionsverfahren basiert auf den Befunden der internationalen Forschung sowie den US-amerikanischen Erfahrungen mit Threat Assessment-Verfahren, insbesondere dem erfolgreichen Virginia Model for Student Threat Assessment (Cornell & Sheras, 2006). Zudem knüpft das Verfahren unmittelbar an die Ergebnisse des Berliner Leaking-Projekts an, in dem deutsche School Shootings untersucht wurden (Bondü et al, 2008; Scheithauer et al., 2008).

Das Krisenpräventionsverfahren geht zentral von beobachtbaren Verhaltensweisen bei Schülern aus, die Symptome einer individuellen Krisensituation oder Anhaltpunkte für eine gewaltspezifische krisenhafte Entwicklung eines Schülers sein könnten (Leuschner et al., 2011). Symptome einer individuellen Krisensituation sind etwa psychosomatische Beschwerden, suizidale Äußerungen, sozialer Rückzug oder schulischer Leistungsabfall. Anhaltspunkte für eine gewaltspezifische krisenhafte Entwicklung sind direkte Ankündigungen einer Gewaltanwendung in mündlicher und schriftlicher Form sowie als Zeichnungen, Graffitis oder »Kritzeleien«, ohne sich an spezielle Personen zu richten. Dazu kommen indirekte Hinweise, wie Rache- und Gewaltphantasien, das Interesse an Waffen oder die Faszination für School Shootings.

Wichtig ist, dass das beobachtete Verhalten zunächst daraufhin untersucht wird, ob es sich aus der konkreten Situation heraus (situativ) erklären lässt. Ein Verhalten oder eine Entwicklung kann man dann als situativ ansehen, wenn der Auslöser erkennbar sowie nachvollziehbar und der Ausgang der Situation kalkulierbar ist. Ein Beispiel hierfür sind gegenseitige Drohungen, etwa im Rahmen einer Schulhofprügelei, die sich durch die Intervention eines Pädagogen als nicht ernst gemeinter Ausdruck der im Streit erlebten Wut erklären lassen.

Anders verhält es sich bei Verhaltensweisen oder Hinweisen, die von einzelnen Beobachtern in ihrer gesamten Tragweite weder überblickt noch überprüft werden können. Diese sind nicht situativ erklärbar und in der weiteren Entwicklung auch nicht kalkulierbar. Stattdessen können sie Hinweise auf eine krisenhafte Entwicklung in Richtung einer Gewalteskalation geben. Dazu gehören insbesondere zielgerichtete Gewaltphantasien oder ein übermäßiges Interesse an schulischen Attentätern. In diesem Fall ist eine umfassende Analyse der Gesamtsituation des Jugendlichen dringend geboten.

Prozessschritte des Krisenpräventionsverfahrens

Im Rahmen des NETWASS-Krisenpräventionsverfahrens empfehlen wir die Bildung eines interdisziplinären Teams, das alle verfügbaren Informationsquellen zu Rate zieht. Der Blick aus verschiedenen Richtungen (Multiperspektivität) und die Summe aller Informationen haben sich tatsächlich als der beste Weg erwiesen, eine umfassende Analyse zu gewährleisten. In der Fallberatung folgt die Analyse einer strukturierten Abfolge:

Modul 2. Das NETWASS-Krisenpräventionsverfahren in vier Schritten

•  Der erste Analyseschritt widmet sich der Frage, ob sich der betreffende Jugendliche in einer akuten Krisensituation oder krisenhaften Entwicklung befindet, indem zunächst die konkreten Anzeichen für eine individuelle Krise identifiziert und mögliche Ursachen gesucht werden.

•  Der zweite Analyseschritt beinhaltet eine gründliche Analyse der individuellen und sozialen Gesamtsituation des Jugendlichen hinsichtlich weiterer Belastungs- und Risikofaktoren, welche die aktuelle oder zu erwartende Krisensituation des Schülers bedingen oder verursachen. Besonderes Augenmerk gilt dabei den Belastungsfaktoren im Schulkontext, wie etwa Bullying oder Probleme und Konflikte mit Lehrern.

•  Der dritte Analyseschritt widmet sich der Identifizierung von Schutzfaktoren des Jugendlichen. Dabei erfahren die sehr gut erforschten allgemeinen Schutzfaktoren für das Jugendalter eine besondere Berücksichtigung, da über die Wirkung von spezifischen Schutzfaktoren in der Entwicklung von zielgerichteten Gewalttaten bislang noch wenig bekannt ist. Allgemeine Schutzfaktoren sind: positive, emotionale Bindungen, Selbstwirksamkeitserfahrungen, positive Wertvorstellungen oder die Einbindung in soziale Tätigkeiten. Auf diese Weise wird die häufig alleinige Fokussierung auf die kritischen Aspekte in einer krisenhaften Entwicklung eines Schülers durchbrochen und Fachkräften die Möglichkeit gegeben, eine Entwicklung positiv und bestärkend zu beeinflussen.

•  Erst im vierten Analyseschritt findet die Gefahrenabschätzung für eine Gewalteskalation statt. Hierbei gilt es besonders auf die zeitliche Ausdehnung und den Wiederholungseffekt gewaltspezifischer Verhaltensweisen, die Artikulation konkreter Motive sowie die kognitiven und materiellen Voraussetzungen für eine Gewalttat zu achten (z. B. Waffenzugang).

Mit der Gesamtanalyse der vorliegenden Risiko- und Schutzfaktoren, die der Abschätzung einer Eskalationsgefahr vorausgeht, liegt eine besonders effektive und spezifische Gewaltpräventionsstrategie vor. Es werden nicht nur einzelne beobachtbare Verhaltensweisen bewertet,

Gesamtanalyse der Situation des Schülers

sondern eine Gesamtanalyse der Situation des Schülers vorgenommen. Entgegen einiger Modelle des Threat Assessment, die aus der Analyse einer Situation eine Gesamteinschätzung ableiten, häufig in Form einer abgestuften Gefährlichkeitseinschätzung (Ampelmodell), folgt das NETWASS-Verfahren einer vorrangig am Krisenmanagement orientierten Strategie. Hierbei wird aus jedem identifizierten Einzelfaktor eine entsprechende risikomindernde bzw. schutzsteigernde Maßnahme abgeleitet. Damit hat das NETWASS-Verfahren gegenüber anderen Krisenpräventionsmaßnahmen einen breiteren Fokus, der über Gefahrenabschätzung hinaus auf die Unterstützung der Jugendlichen ausgeweitet wurde, um diesen dauerhaft aus der Krise zu helfen und so den auslösenden Momenten für eine schwere Gewalttat

Systematik der Fallbewertung

wirksam vorzubeugen (vgl. Lippok et al. 2012; Sommer et al., 2012). Die folgende Abbildung 2 zeigt die Systematik der Bewertung im Überblick:

Modul 2/2.3 Prozessschritt »Beraten« - Gemeinsame Bewertung und Fallbearbeitung

Abb. 2: Bewertungssystematik im NETWASS-Krisenpräventionsverfahren

Die dargestellte Bewertungssystematik wurde zur Anwendung für Schulen in ein Organisationskonzept mit vier Hauptprozessschritten überführt ( Abb. 3) und mit Anwendern und Experten aus Schule, Schulpsychologie und Polizei auf seine Umsetzungstauglichkeit hin überprüft. In der Entwicklung dieses Organisationskonzeptes wurde besonderer Wert darauf gelegt, der mangelnden Früherkennung von Problemen zu begegnen. Mit der Einführung der »Informationsbündelung« als Prozessschritt, wird die Informationsfragmentierung und Informationsdiffusion vermieden. Damit ist die Ernennung eines zentralen, schulischen Ansprechpartners für Krisenprävention verbunden. Mit dem Prozessschritt »Gemeinsame Beratung und Fallbewertung«, der auf einer strukturierten Beratung im Team gründet, wird ausgeschlossen, dass inadäquate Einzelentscheidungen getroffen werden.

Die vier Prinzipien des NETWASS-Krisenpräventionsverfahrens:


Prinzipien des Krisenpräventionsverfahrens

Hinsehen: Schulmitarbeiter werden dazu angehalten, auffälliges Verhalten wahrzunehmen und hinsichtlich der situativen Einbettung zu bewerten. Sollte keine situative Einbettung erkennbar sein, wird ein zentraler Ansprechpartner für Krisenprävention hinzugezogen.

 

Überblicken: Alle verfügbaren Informationen, die auf eine krisenhafte Entwicklung des Schülers hindeuten können, werden offengelegt und zusammengeführt.

 

Beraten: Wird eine krisenhafte Entwicklung vermutet oder besteht Unsicherheit bei der Einschätzung, tritt das Beratungsteam zusammen. Die beobachteten Auffälligkeiten und spezifische Anhaltspunkte für eine krisenhafte Entwicklung werden geklärt, der Hilfebedarf des Schülers analysiert, Schutzfaktoren identifiziert und geeignete Unterstützungsmaßnahmen initiiert.

 

Begleiten: Der Erfolg der Maßnahmen wird über den regelmäßigen Abgleich der vereinbarten Ziele...

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