Teil II: Die Entwicklung der gewalttätigen Fußballfanszene und polizeitaktische Veränderungen
Im zweiten Teil der Arbeit wird die Entwicklung der Fangruppierungen geschildert, die maßgeblich an den gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt sind. Im Mittelpunkt stehen daher die Ultras und ihre Abkehr von der Gewaltlosigkeit sowie die schon seit den siebziger Jahren auffälligen Hooligans. Zeitgleich werden die auf die veränderte Szene folgenden, polizeitaktischen Veränderungen thematisiert, welche die Vorläufer aktueller Präventions- und Interventionsmaßnahmen sind[2].
Außerdem werden beide Gruppierungen auf rassistische Einstellungen überprüft, bevor zum Schluss dieses Teils Hooliganismus in Europa, die Rolle der Frauen unter den gewaltbereiten Fans sowie aktuelle Gewaltstatistiken über die drei höchsten deutschen Spielklassen und einzelne aktuelle Fallbeispiele zur Gewalt durch Fußballfans dargestellt werden.
1 Die Ultraszene in Deutschland
Innerhalb des letzten Jahrzehnts hat sich um jeden Profiverein eine Ultraszene herauskristallisiert. Diese Arbeit thematisiert in erster Linie die Ultras bzw. die Hooligans, da sie das problematische Klientel unter der Gesamtzuschauermenge bilden und eigens für diese Gruppen Präventions- bzw. Interventionsmaßnahmen erarbeitet worden sind. Von den „normalen“, „konsumorientierten“ oder „stillen“ Zuschauern auf den Sitzplätzen, die in erster Linie ein „gutes Spiel sehen wollen“, geht vor, während und nach dem Spiel aus keinerlei Gefahr aus.
1.1 Die Ausdifferenzierung der Ultraszene
Seit Mitte der neunziger Jahre bildeten sich bundesweit Ultraszenen, die sich strikt von den sehr vereinsbezogenen Kuttenfans distanzieren, obwohl sie zu großen Teilen aus diesen Kreisen entstanden sind (vgl. PILZ 2005a, 5). Doch Ultras wehren sich gegen die zunehmende Kommerzialisierung im Fußball und der Fanszene, die unter anderem durch die Kutten mitgetragen wird.
In erster Linie prägen männliche Jugendliche diese Gruppen, doch werden zunehmend mehr Mädchen und junge Frauen Mitglieder dieser Fanclubs. Die Studie von Pilz ergibt, dass jedoch nur knapp 15 % der befragten Ultras angeben, dass “eine Frau Ultra sein kann“. 62 % geben an, dass eine Frau nicht die Rolle des Capo übernehmen kann (vgl. PILZ 2006, 88ff.). Frauen werden nur dann akzeptiert, wenn sie sich traditionell männlich verhalten und „nicht mit Stöckelschuhen und Handtasche im Block auftauchen“ (PILZ 2006, 92).
Für die Ultraszene ergibt sich bezüglich der sozialen Herkunft ein sehr ausgeglichenes Bild. Schüler aller Schulformen, Studenten, Auszubildende und Arbeitslose finden sich in dieser Gruppierung wieder. In allen vom Autor geführten Interviews[3] und bearbeiteten Materialien wird das öffentliche Bild des Fußballfans aus der Unterschicht nicht bestätigt. In der Studie von Pilz geben 40 % der Befragten an, sie hätten Abitur; 36 % gaben einen Realschulabschluss an. Dies deutet daraufhin, dass Ultras eher der Mittel- bzw. Oberschicht angehören (vgl. PILZ 2006, 98).
Schon in den sechziger Jahren begannen jugendliche Fußballanhänger sich im Stadion zusammenzufinden und sich von den passiven Zuschauern abzugrenzen. Im Laufe der Zeit bildete sich in dieser Gruppe ein bestimmtes Selbstbewusstsein, Stile und Werte (vgl. MEIER 2001, 46), so dass Zusammenschlüsse in Fanclubs zu Beginn der siebziger Jahre folgten. Das Gefühl der Zugehörigkeit, Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, die Suche nach Ablenkung und Abenteuern ließ die Zahl der Fanclubs explodieren (vgl. SCHULZ/WEBER 1998, 68). Spezielle Kleidungen und Gesänge prägten das Bild dieser Gruppen und sind bis heute in den Ultragruppierungen vorhanden.
Während der neunziger Jahre differenzierten sich die Fanclubs weiter aus, das Fansein in den Gruppen wurde intensiviert und neue Gruppen gegründet, um sich so noch besser und vor allen Dingen gemeinschaftlich auf die Spiele vorbereiten zu können. Durch den Zusammenschluss grenzte man sich von den einzelnen Kuttenfans und den konsumorientierten Fans noch stärker ab, so dass die Ultras heute das Selbstbild der absoluten Fanelite tragen.
In einigen Städten gibt es Ultraszenen, die aus dem Zusammenschluss ehemaliger Fanclubs entstanden sind. So zählen in Nürnberg mehrere 1000 Personen zu dieser Szene. In anderen Städten dominieren kleinere Ultragruppen, die jedoch für den gesamten Fanblock Choreographien planen. Eine ganz klare Abgrenzung von anderen begeisterten Anhängern ist nach Außen jedoch nicht gegeben, da sich auch viele andere Anhänger im Fanblock ultratypisch verhalten.
1.2 Das Selbstverständnis der Ultras
2005 war auf der Homepage der Ultras in Frankfurt zu lesen:
„Ultra ist für uns eine Geisteshaltung, eine grundsätzliche Einstellung zum Fandasein. Wir verstehen uns nicht als bloße in sich hinein konsumierende Masse, [...]wir sind kritische und vor allem mündige Menschen. [...] WIR sind die Hauptsache! WIR sind das Spiel und der Verein.
Klar ist es unbeschreiblich geil, gigantische Fahnenmeere zu erschaffen, [...] aber es gibt noch eine andere Seite,[...] die geistige Seite des Ganzen. Es ist wichtig eine starke Gruppe zu schaffen, [...] die gegen alle äußeren Einflüsse zusammenhält[...] Eine Gruppe die noch Werte hat, [...] während in der heutigen Gesellschaft [...] Freundschaft, Treue und Ehrlichkeit von Wörtern wie Gewinnoptimierung und Effizienz verdrängt werden. [...]Freundschaft und Liebe sind unabdingbar, wenn eine Ultra Gruppe funktionieren soll.[...]
Wenn erwachsene Menschen sich gegenseitig in den Arm nehmen, weinen, lachen[...], muss schon mehr dahinter stehen als bloße Liebe zum Verein.“ (PILZ 2005a, 5f)
Dies zeigt die veränderte Selbstwahrnehmung des Publikums. Durch die vermehrte Professionalisierung im Fußball wird die Distanz von Fans und Spielern vergrößert[4], so dass Fans sich selbst feiern und ihre Anwesenheit allein Befriedigung verschafft. Die Vorsänger der Gruppen oder La-Ola-Wellen sind Indiz dafür (vgl. ebd.).
Dementsprechend ist Ultra keine Art eines neuen Fanclubs, sondern eine neue Lebenseinstellung, in der Partner, Schule und Beruf hintergründig sind.
Doch das Stadion als Raum der Freiheit wird zunehmend reglementiert. Vieles ist schon vororganisiert und Vorschriften engen die Handlungsmöglichkeiten der Ultras ein. So stoßen diese wiederholt an Grenzen; die daraus entstehenden Enttäuschungen und Gefühle der Einflusslosigkeit münden häufig in Flucht oder gar Gewalt (vgl. PILZ 2005a, 7)[5].
Werden Lärminstrumente, Konfettiregen, große Fahnen etc. verboten, fehlt einerseits die Atmosphäre während des Fußballspiels, andererseits besteht die Gefahr, dass die Wünsche nach Stimmung, Emotionalität und Atmosphäre auf eine problematischere Art ausgelebt werden.
Aus der Sicht der Ultras haben die Verregelung ihres Freiraums im Stadion und die zunehmende Repression zur Abkehr der Gewaltlosigkeit geführt. Dementsprechend verpflichten sie sich dem Ultramanifest, welches unter anderem zu Verzicht auf unnötigen Kontakt zu Verein und Polizei aufruft. Weitere Inhalte des Manifests sind: Das Zeigen der Präsenz bei allen Spielen, ohne sich dabei unterdrücken zu lassen, Selbstorganisiert die Auswärtsspiele besuchen, Zusammenarbeit gegen die Kommerzialisierung mit den gegnerischen Ultras (vgl. PILZ 2005c, 14f)
1.3 Die Abkehr von der Gewaltlosigkeit
Juristisch ist das Stehlen gegnerischer Zaunfahnen und Fanutensilien zwar als Straftat zu bewerten, jedoch regeln die Fangruppen solche Angelegenheiten unter sich, ohne Strafanzeige zu stellen, so dass dieses nicht als „Gewalt“ oder „Aggression“ bezeichnet werden kann.
Kritisch zu betrachten ist jedoch die Abkehr von der Gewaltlosigkeit einiger Ultras. Die Gründe dafür sind vielfältig (siehe Teil I). Seit Mitte der neunziger Jahre reisen Fans vermehrt zu Auswärtsspielen. Dabei bleibt es oftmals nicht nur beim Kräftemessen durch Gesänge und Schlachtrufe, sondern häufig kommt es zu Auseinandersetzungen, die aus Provokationen der gegnerischen Fans bzw. Frustrationen nach einem schlechten Spiel resultieren (siehe Teil I, 2.1.3) oder lediglich in der Suche nach dem „Kick“ entstehen, wie der Autor in Interviews mit Fanbeauftragten und Fanprojekten hat.
„Individuelles Prestige [als ähnliches Motiv, wie das der Hooligans] kann durch Aufschneiden mit Heldentaten, durch Provozieren der Sicherheitskräfte oder durch anderes, grobes Machogehabe erlangt werden“ (STOCKER 1988, 59). In Hannover werden die Ultras von der Polizei aufgrund vergangener Ausschreitungen allesamt der Kategorie C zugeordnet (PILZ 2005a, 11).
„Wenn mein Kind Bulle werden will, würde ich’s glaub ich umbringen. Das wäre die größte Niederlage meines Lebens. Der kann schwul werden, der kann Marsmännchen anbeten“ (PILZ 2006, 138).
Das obige Zitat eines Ultras veranschaulicht das Verhältnis zwischen Ultras und...